Rezension zu Die Schutzbefohlenen
Zeitzeichen. Evangelische Kommentare zu Religion und Gesellschaft 10/2014
Rezension von Barbara Schneider
Schuld
Ein System von Abhängigkeit
In einem Benediktiner-Internat kommt Ende der Sechzigerjahre ein
Schüler ums Leben. Der Junge stirbt, als er zusammen mit mehreren
Mitschülern die Opferung des Isaak nachspielt. Schnell ist ein
Sündenbock gefunden: Ein Landstreicher, der sich zufällig in der
Nähe des Unglücksortes aufhielt, wird verhaftet, vor Gericht
gestellt und als Mörder verurteilt. Die Schüler, die den Unfall
verursacht haben und ihrem Klassenkameraden nicht zu Hilfe kamen,
kommen ungeschoren davon.
Bruno Preisendörfers Roman »Die Schutzbefohlenen« ist eine
Erzählung über Schuld und Verantwortung. Die Jungen werden nach dem
Tod des Mitschülers von Gewissensbissen geplagt, sie beichten, und
die Patres im Internat lassen wohlwissend einen Unschuldigen hinter
Gitter gehen. Die Klostergemeinschaft deckt ihre Zöglinge. Es wird
vertuscht und verschwiegen, nur um den guten Ruf des Internats
nicht zu beschädigen.
Spätestens an dieser Stelle des Romans wird deutlich: Hinter den
Klostermauern herrschen eigene Gesetze. Auf 193 Seiten beschreibt
Preisendörfer ein System von Abhängigkeiten und
Beziehungsverstrickungen. In der katholischen Klosterschule waren
Schüler und Lehrer einander auf vielfältige Weise »schutzbefohlen«
– angefangen bei den Beziehungen der Schüler untereinander über das
Verhältnis der Lehrer zu den Schülern bis hin zu den hierarchischen
Strukturen innerhalb des Ordens. Schritt für Schritt legt
Preisendörfer die Dynamiken offen, die letztlich bei dem Tod des
Schülers eine Rolle spielen.
Preisendörfer, geboren 1957 in Unterfranken, besuchte als Schüler
selbst ein Benediktiner-Internat. Um seine Tagebuchnotizen aus
dieser Zeit hat er den Roman konstruiert. Und auch wenn Figuren und
Handlungen frei erfunden sind, das pädagogische System, das der
Autor nachzeichnet, ist durchaus realistisch. Kaleidoskopartig gibt
er Einblick in das Innenleben eines Klosterinternats in den
Sechzigerjahren: Er beschreibt das Machtgefüge unter den Schülern,
fragwürdige Strafpraktiken ebenso wie die Verharmlosung sexuellen
Missbrauchs. In dem Benediktiner-Internat, in dem Patres und
Schüler miteinander auf engstem Raum leben, sind seelische
Demütigungen und körperliche Strafen an der Tagesordnung.
Preisendörfer beschönigt nichts. Indem er sich in die Lebenswelt
der Schüler hineinfühlt, bekommen die Grenzüberschreitungen aber
noch einmal eine ganz neue Dimension. Seine Hauptfigur, der Schüler
Peter Zaun, hinterfragt Handeln der Pädagogen in dem Im Internat
nicht. Kontrolle und strenge Regeln gehören dazu, der sexuelle
Übergriff seitens eines Paters wird von dem Jungen gar als
besondere Auszeichnung wahrgenommen. Die Stärke des Romans liegt
daran, die seelischen Dilemmata beschreiben, in denen die
Romanfiguren stecken. Vierzig Jahre, nachdem Peter Zaun das
Internat verlassen hat, kehrt er an den Ort des damaligen
Geschehens zurück. Wieder ist es der Tod eines Menschen, der den
früheren Internatsschüler umtreibt. In einer verkehrsberuhigten
Zone hat Peter Zaun ein Mädchen überfahren. Für den Tod des Kindes
muss sich nun vor Gericht verantworten. Auch hier geht es wieder um
Schuld und Verantwortung. Peter Zaun leugnet. Wird anstelle einer
Verurteilung wegen fahrlässiger Tötung freigesprochen? Und schließt
sich der Kreis?
Barbara Schneider