Rezension zu Veränderungspotenziale in Krankenhausorganisationen
Pflege. Die wissenschaftliche Zeitschrift für Pflegeberufe Heft 5, 27. Jahrgang, Oktober 2014
Rezension von Prof. Dr. Sabine Bartholomeyczik
Maria Crojethovic, Sebastian Gütschow, Carolin Krüger, Tom
Stender, Thomas Elkeles Veränderungspotenziale in
Krankenhausorganisationen. Formalität und Informalität in
nordostdeutschen Krankenhäusern 2014, Psychosozial-Verlag, Gießen,
252 S., 9 Abb., 23 Tab.; € 29.90 (ISBN 978-3-8379-2359-9)
Spätestens seit Einführung der DRG zur Krankenhausfinanzierung in
Deutschland wird die Qualität der Krankenhausversorgung wieder
ausführlicher untersucht und debattiert. In der vorliegenden
Arbeit werden nicht nur die vorherrschenden Verhältnisse
pflegerischer und ärztlicher Versorgung dargestellt, sondern vor
allem die Initiativen, die in den Krankenhäusern unternommen
werden, um drückende Probleme zu lösen und zwar sowohl formelle
als vor allem auch informelle Initiativen. Der Ansatz zu den
informellen Initiativen war von der Erstautorin vorab in
argentinischen Krankenhäusern bereits untersucht worden.
Bedeutsam ist, dass diese Arbeit im Rahmen eines
Lehrforschungsprojektes dreier Masterstudiengänge des Fachbereichs
Gesundheit, Pflege, Management der Hochschule Neubrandenburg in
Kooperation mit dem Zentrum für Staats- und Gesellschaftsstudien,
Buenos Aires durchgeführt wurde.
Die empirische Studie basiert auf einer ausführlichen
Literaturarbeit, die fast die Hälfte des Forschungsberichts
ausmacht. Der sorgfältige soziologische Diskurs leidet
glücklicherweise nicht unter dem Wahn, dass nur Literatur der
letzten fünf bis zehn Jahre verwendet werden dürfe und diese vor
allem in internationalen Zeitschriften erschienen sein müsse.
Beides ist leider ein Manko mancher neuerer theoretischer
Abhandlungen. Die Analyse beginnt im ersten Kapitel mit
»Dimensionen der Organisation«, bei der die Komplexität, die
Organisationskultur und schließlich die hier wichtigen Auffassungen
von formal und informell innerhalb von Organisationen begründet
werden. Im zweiten Kapitel wird das Allgemein-Soziologische auf das
Spezielle des Krankenhauses zugespitzt. Der Rezensentin bereitet es
großes Vergnügen, endlich wieder so grundlegende Werke wie die
Soziologie des Krankenhauses von Rohde (1. Aufl., 1962) gewürdigt
zu sehen, auch wenn die Inhalte durchaus kritischer diskutiert
werden könnten, insbesondere der Bezug zu Parsons
Strukturfunktionalismus (1951). Für den theoretischen Rahmen
dieses Buchs ist das aber von untergeordneter Bedeutung. Die
Handlungslogiken, die die Komplexität der Organisation Krankenhaus
mit ihren oft auseinanderstrebenden Rollen der verschiedenen
Akteure kennzeichnet, wird dadurch sehr deutlich. Im dritten
Kapitel wird sodann differenziert die gegenwärtige Situation in
den Krankenhäusern Deutschlands nach Einführung der DRG
beschrieben mit den bekannten Ergebnissen zur Personalentwicklung,
Verweildauer, Bettenzahl und anderen Leistungsdaten.
Vor diesem Hintergrund wurden die Fragestellungen und Methoden der
empirischen Untersuchung entwickelt. Ziel der Untersuchung ist,
»alltägliche Handlungsmuster in Bezug auf mögliche problematische
Situationen und Herausforderungen in Krankenhausorganisationen
herauszuarbeiten, zu beschreiben und zu verstehen« (S. 91). Um
diese Erkenntnisse zu gewinnen, wurden sowohl ein standarisierter
Fragebogen als auch vertiefend qualitative Interviews eingesetzt.
Der Fragebogen diente der quantitativen Beschreibung
problematischer Situationen, die leitfadengestützten
Experteninterviews sollten das Verständnis für die Probleme
vertiefen und Aufschlüsse über Hürden, Herausforderungen sowie
den Umgang des ärztlichen und pflegerischen Personals damit
verschaffen. Mit dieser Form der Triangulation konnten die Autoren
gezielt wichtige Ergebnisse der Fragebogenbefragung in die
Interviews integrieren.
An der Fragebogenbefragung nahmen neun Krankenhäuser in
Mecklenburg-Vorpommern mit 338 MitarbeiterInnen (Response-Rate 39
%) teil, davon waren 93 ÄrztInnen und 243 Pflegende (2 Missing).
Die qualitativen Interviews wurden mit 16 Pflegenden und 11
ÄrztInnen durchgeführt, bei beiden Berufsgruppen waren
unterschiedliche Hierarchieebenen vertreten. Die Ergebnisse des
quantitativen Teils sind nicht überraschend: die größten Probleme
bestehen beim Zeitmangel und dem Mangel an Personal, wobei
natürlich Letzteres das Erstere bedingt. Folge davon ist das
Gefühl, ständig an Grenzen der eigenen Leistungsfähigkeit zu
stoßen. Auch wenn dies für beide Berufsgruppen zutrifft, so
fühlen sich Pflegende dadurch mehr belastet, vor allem fühlen sie
sich von der Krankenhausleitung eher ignoriert und unter
betriebswirtschaftlichen Druck gesetzt. ÄrztInnen dagegen sind
durch das DRG-Abrechnungssystem mehr herausgefordert. Die Probleme
zeigen sich in Krankenhäusern in privater Trägerschaft etwas
häufiger als in den staatlichen. Hier ist nicht der Platz, die
vielen Einzelergebnisse aufzuführen, die allerdings nachlesenswert
sind.
Die Ergebnisse aus den Interviews ergänzen diese Aussagen um die
nach wie vor bestehenden Statusunterschiede zwischen ärztlichem
und pflegerischem Personal verbunden mit Kommunikationsproblemen
verschiedener Art bis zu einem »Machtkampf zwischen den
Berufsgruppen« (S. 156). Die viel beklagte Dokumentation wird als
Belastung angeführt, wobei sie wenig zur interprofessionellen
Kommunikation genutzt wird, dafür aber viel doppelt dokumentiert
wird. Die Autoren schließen aus den Ergebnissen, dass die Probleme
eng miteinander verflochten sind und sich dadurch potenzieren
können. Frustrierend ist, dass die gleichen Probleme bereits in
den 1970er Jahren diskutiert wurden, wenn auch vielleicht in einer
anderen Ausprägung.
Initiativen zur Problemlösung thematisieren primär die Folgen des
Personalmangels. Formale Initiativen sind z.B. die schriftliche
Informationsübergabe von Ärzten an Pflegende bei zu geringer
Kommunikationszeit oder die Organisation externer Aushilfen,
Gründung einer Krankenpflegeschule zur Bindung von Pflegepersonal.
Wesentlich aufschlussreicher sind die informellen Initiativen, wie
z. B. die Bildung eines »Waschtrupps« zur Entlastung des
Pflegepersonals (also eine ganz alte Form der Funktionspflege!),
eine legale informelle Initiative. Ein besonderer Verdienst der
Studie liegt jedoch darin, Initiativen, die eigentlich illegal oder
prekär sind, aufgedeckt zu haben, wie z.B. die Anordnung von
diagnostischen Maßnahmen durch Pflegende bei vorhersehbarer
späterer ärztlicher Verordnung oder die Herabsetzung von
Häufigkeiten der Patientenüberwachung. Derartige nicht legale
Initiativen gibt es aber auch auf Empfehlung der Führungsebene,
wie z. B. die Aufforderung zum Upcoding von DRG, die Einstellung
von Pflegeexperten zur Durchführung ärztlicher Untersuchungen
oder die Nutzung von Notbetten ohne Patientenklingel. Maßnahmen
jeder Art können auf allen Ebenen der Krankenhausorganisation
initiiert werden.
Die Autoren stellen anhand der Ergebnisse fest, dass es wohl einen
reflexiven Prozess gibt, der zu informellen Lösungen führt, um
den Betrieb aufrecht erhalten zu können. Interessanterweise sind
Bottom-up-Lösungen häufiger als solche top-down. Vielleicht liegt
das daran, dass der Druck, Lösungen zu finden, in der direkten
Versorgung am stärksten ist. Die Initiativen verstärken aber
häufig auch die Kurzfristigkeit der Lösungen und ihre
Prekarität.
Thematisch steht der Personalmangel im Mittelpunkt, der
möglicherweise auch als Stellvertreter für andere Probleme dient.
Nach Meinung der Autoren kann Personalmangel kaum vom einzelnen
Krankenhaus gelöst werden und begünstigt damit informelle
Initiativen. Sie halten das deutsche Gesundheitswesen mit Recht
für ziemlich rigide und fordern dazu auf, der Hypothese vertieft
nachzugehen, dass diese deutschen gesundheitspolitischen
Rahmenbedingungen informelle Initiativen auslösen.
Eine Anmerkung zum Sprachgebrauch für Pflegefachpersonen am Rande:
Leider haben wir für diese Berufsgruppe, die in Deutschland
mehrere Ausbildungen umfasst, keine allgemein akzeptierte
Bezeichnung. Hier werden Pflegefachpersonen als »examinierte
Pflegekräfte« bezeichnet, was ich für eine Herabwürdigung der
Ausbildung halte, aber leider weit verbreitet ist. Dennoch geht es
hier um ein lesenswertes Buch, insbesondere wegen der Ergebnisse
aus den Interviews und den darin aufgedeckten informellen
Initiativen. Der Literaturteil gibt dazu einen guten Überblick
über die primär soziologische Diskussion zur Organisation
Krankenhaus im letzten halben Jahrhundert. Ich denke, dass die
Ergebnisse insbesondere zum Weiterdenken und -handeln anregen
sollten, weil viele der aufgezeigten Lösungen, so interessant sie
sind, eben doch keine langfristigen und damit keine wirklichen
Lösungen sind. Insofern kann sich die Rezensentin der
Enttäuschung der Autoren anschließen, dass aus den Ergebnissen
kaum etwas weiterzuempfehlen ist.
Prof. Dr. Sabine Bartholomeyczik, Department für
Pflegewissenschaft, Universität Witten/Herdecke
DOI 10.1024/1012-5302/a000382
http://medcontent.ch