Rezension zu Aufgewachsen in »eiserner Zeit« (PDF-E-Book)
www.socialnet.de
Rezension von Prof. Dr. Gertrud Hardtmann
Barbara Stambolis: Aufgewachsen in »eiserner Zeit«
Autorin
Barbara Stambolis, Professorin für Neuere und Neueste Geschichte an
der Universität Paderborn, ist durch ihre Forschungen der
Kindheits-, Jugend- und Generationengeschichte und entsprechende
Veröffentlichungen wie ›Töchter ohne Väter‹ (2012), ›Vaterlosigkeit
in vaterarmen Zeiten‹ (Hg. 2012) und ›Essays zu autobiographischen
Texten‹, u.a von Werner Heisenberg (2013), bekannt geworden. In dem
vorliegenden Buch beschäftigt sie sich, angeregt durch
Untersuchungen über die seelischen Verletzungen von Kriegskindern
nach dem 2. Weltkrieg, anhand von historischem Material –
Zeitzeugenberichte, Dokumente, Feldpostkarten, private Fotos –, mit
den körperlichen und seelischen Belastungen, denen Kinder und
Heranwachsende während und nach dem 1. Weltkrieg und der
Weltwirtschaftskrise ausgesetzt waren.
Aufbau und Inhalt
Das Buch beginnt mit einem Rückblick auf die Forschungsergebnisse
über Kriegskinder des 2. Weltkriegs, beschäftigt sich dann aber
historisch mit dem ›janusköpfigen Gesicht‹ der Kindheit um die
Jahrhundertwende, gemeint sind damit der optimistische Aufbruch in
das ›Jahrhundert des Kindes‹ und parallel dazu die autoritäre
Disziplinierung zu ›eiserner Willensstärke‹.
Im Abschnitt ›Kinder und Heranwachsende im Krieg‹ wird die
anfängliche Kriegsbegeisterung dokumentiert, die 1916/17 – in
Kontrast zu den dokumentierten rührseligen Postkartenmotiven –,
einer zunehmenden Ernüchterung wich durch die Überlastung der
Mütter, die Realität der abwesenden oder gefallenen Väter, den
Hunger und die Mangelernährung. Die Folgen der körperlichen
Erschöpfung der Schulkinder und der Stress, denen Mütter und Kinder
ausgesetzt waren, wurde ärztlicherseits unter der Diagnose
›Nervosität‹ zusammen gefasst, ein Begriff, der das Übel
beschreibt, aber nicht erklärt, geschweige denn nach den
seelischen, und nicht nur körperlichen, Ursachen fragt.
Die These ›Kriegskinder als Kriegsopfer‹ wird belegt durch
statistische Zahlen: 2,4 Millionen Kriegstote, 4,3 Millionen
Kriegsverletzte, 962,000 kriegsbedingte Halbwaisen (gezählt 1924).
Nicht statistisch erfaßt sind die unsichtbaren seelischen Schäden,
die damals weder erkannt noch untersucht wurden, aber, nach unserem
Erkenntnisstand heute, Spuren, wenn auch ›seelisch eingekapselt‹,
hinterlassen haben.
Beeindruckend aber auch die engagierten Hilfsangebote in den 20er
Jahren. Namen wie Siegmund-Schultze (1885-1969), Franz Bumm
(1861-1942), Alfred Grotjahn (1869-1931) stehen u.a. dafür und die
Initiativen für eine Reform der Fürsorgenerziehung und des
Jugendstrafvollzugs (Walter Herrmann 1896-1972). Kessler brachte
1920 die ›Kinderhölle‹ in Berlin heraus, ein Sonderheft der
›Zeitschrift für Politik‹, und löste damit eine, wenn auch
begrenzte, Spendenbereitschaft aus. Quäker und andere, vor allem
amerikanische, Hilfsorganisationen sorgten für Schulspeisen,
erreichten jedoch nicht die vielen ›heimatlos herumstreichenden‹
Kinder, die anscheinend nicht einmal zahlenmässig erfasst
wurden.
Politische Debatten um Kriegsschuldfragen verhinderten eine
öffentliche Anerkennung der Verletzungen, die der Krieg
hinterlassen hatte. Nur vereinzelt tauchte das Elend der
kriegshinterbliebenen Frauen und Kinder in den
Familienüberlieferungen auf.
Engagierte Sozialpolitikerinnen – meist Frauen/Sozialarbeiterinnen
und Kinderärzte – wiesen allerdings auf die auch langfristigen
körperlichen und psychischen Folgen von Unterernährung hin. Auch
fehlte es nicht an literarischen und publizistischen Beiträgen, die
die Not und das Elend dieser Kinder öffentlich machten.
Hatten diese Kinder eine Zukunft? Unter der Überschrift ›Weimarer
Republik und Nationalsozialismus‹ werden die Zukunftsängste und
Existenzsorgen der um die Jahrhundertwende Geborenen beschrieben.
Die Abwesenheit der Väter in einer Zeit, wo sie dringend gebraucht
wurden, die Instabilität des politischen Systems, die
Perspektivlosigkeit durch die prekäre Situation auf dem
Arbeitsmarkt führten zu Schlagworten wie ›Die überflüssige
Jugendgeneration‹ (anonym) oder die ›ausgesperrte Generation‹
(Herrmann 1932). Hochschulabsolventen und ungelernte Arbeiter waren
besonders betroffen. Heinrich Mann erkannte die Situation als er
von dem ›unsichtbaren Heer‹ sprach, das einen ›Führer und eine
Fahne‹ suche (Heinrich Mann 1932).
Im Schlusskapitel ›Langzeitbelastungen: Erster und Zweiter
Weltkrieg im Kontext‹ werden die Unterschiede in den
Kriegsauswirkungen nach dem Zweiten Weltkrieg (Bomben, Flucht,
Vertreibung, Wohnungslosigkeit, Erwerbsunsicherheit, von Gertrud
Herrmann 1949 beschrieben,) benannt. Auch fand bereits 1950 in
Princeton eine Konferenz zu ›Fragen der psychischen Gesundheit und
der menschlichen Beziehungen in Deutschland‹ statt. Internationale
vernetzte Hilfsprojekte, u.a die Victor Gollancz-Stiftung, brachten
nicht nur materielle, sondern auch psychosoziale Hilfen. Soziale
Initiativen, anknüpfend an die Jugendbewegungen der 20er Jahre
(›Gilde Soziale Arbeit‹), boten Hilfen zu einem selbst bestimmten
Leben an, das im Gegensatz zu der Jugendgeneration nach dem ersten
Weltkrieg nach Meinung von Muchow (1957) nun bedroht war von einer
›zivilisierten, übertechnisierten, entzauberten von Abenteuern
entleerten, wirtschaftswunderbaren Welt‹.
Gemeinsam war beiden Generationen das lange, oft bis in den Tod
andauernde Schweigen in den Familien. Erst die Beschäftigung mit
den eigenen Traumatisierungen durch den Zweiten Weltkrieg hat bei
vielen Kindern dazu geführt, nach den Traumatisierungen der
Großeltern/Eltern durch den 1. Weltkrieg zu fragen und nach den
›Erbschaften‹ die Krieg und Zerstörung Generationen übergreifend
hinterlassen haben. Untersuchungen haben auch den Blick geschärft
für das kultur- und mentalitätshistorische Phänomen der Weitergabe
von Normen und (Erziehungs)Idealen, denn nicht wenige, der um 1900
bis 1910 Geborenen hatten im Nationalsozialismus führende
Positionen inne.
Vergleiche zwischen den Generationen sind deshalb schwierig, weil
vergleichbares Quellenmaterial fehlt und sich die Geschichte nicht
wiederholt, wie die Autorin im letzten Kapitel beim Vergleich
zwischen dem 1. und 2. Weltkrieg feststellt. Dieses Kapitel hätte
vielleicht fehlen können zu Gunsten einer weniger komprimierten
Darstellung (141 S.!) der Bedingungen, unter denen die Kinder und
Jugendlichen, während und nach dem 1. Weltkrieg aufgewachsen
sind.
Diskussion
Es ist sehr zu empfehlen für den Unterrichtsgebrauch, da es eine
differenzierte zeitgeschichtliche Sicht ermöglicht, die durch die
Angaben zu den Quellen und zu weiter führender Literatur noch
vertieft werden kann. Es stellt reichlich Material zum Nachdenken
bereit, gibt dem Leser aber genügend Raum, dieses Material
selbständig und eigenverantwortlich zu interpretieren und über die
eigene familiäre und politische Hinterlassenschaft nachzudenken,
wobei Stichworte wie ›Parentifizierung‹, die Überlastung von
Kindern mit Elternfunktionen, und ›Seelenverhärtungen‹ auch
zeitgeschichtlich unabhängige Phänomene sind.
Mündliche Berichte, Auszüge aus Tagebuchaufzeichnungen und
engagierte Berichte vermitteln ein differenziertes, anschauliches
Bild, das sich hervorragend im Geschichts- oder
Gesellschaftskundeunterricht verwenden lässt.
Gesellschaftsgeschichte und Individualgeschichte werden in ihrer
Bezogenheit anschaulich dargestellt. Der nüchterne, beschreibende
Stil vermeidet Kontroversen in der Interpretation und regt
stattdessen positiv dazu an, die Zeugnisse für sich sprechen zu
lassen, sich ein eigenes Bild zu machen und sich für Kriegskinder
in der Gegenwart zu engagieren.
Anhand von historischem Material, Texten und Bildern, beschreibt
und analysiert die Autorin auf der Grundlage von Zeitzeugnissen die
Kindheiten vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg, insbesondere
die Begeisterung und Ernüchterung an der Front, die Hungerjahre
(Steckrübenwinter 1916/7) in der Heimat, die vaterlosen Kindheiten
mit männerlosen Müttern, besonders engagiert und fokussiert auch
auf die materiellen Nöte der Unterschicht.
Langzeitbelastungen durch traumatische Erfahrungen sind inzwischen
immer stärker in den Fokus der Aufmerksamkeit – nicht nur von
Therapeuten – gerückt. Die Folgen sind in diesen Generationen vor
allem eine allzu frühe Belastung der Kinder mit Verantwortung nicht
nur für sich selbst, sondern auch für die überlasteten Mutter, im
Fachjargon ›Parentifizierung‹ genannt, und als Spätfolgen Defizite
in der altersgemäßen Reifung (›Seelenverhärtung‹) und in der
Kommunikation: Als es dringend gebraucht wurde, fand sich kein
offenes Ohr für die Probleme dieser Kinder, und später, als es
vielleicht möglich gewesen wäre, hatten sie sich selbst bereits
resigniert zurückgezogen.
Ein ausführliches Literaturverzeichnis bietet weitere Anregungen
und wertvolle, das Thema vertiefende Quellen und Hinweise.
Fazit
Das Buch ist eine wichtige Ergänzung für alle, die sich aus
persönlichem oder beruflichem Interesse, vor allem im pädagogischen
Bereich, nicht nur mit der Geschichte des Nationalsozialismus
sondern auch mit den vorangegangenen 30 Jahren befassen, der
Geschichte ihrer Eltern und Großeltern.
Rezensentin
Prof. Dr. Gertrud Hardtmann
Zitiervorschlag
Gertrud Hardtmann. Rezension vom 30.09.2014 zu: Barbara Stambolis:
Aufgewachsen in »eiserner Zeit« (Kriegskinder ...).
Psychosozial-Verlag (Gießen) 2014. 180 Seiten. ISBN
978-3-8379-2358-2. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245,
http://www.socialnet.de/rezensionen/17360.php, Datum des Zugriffs
10.11.2014.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet,
urheberrechtlich geschützt. Falls Sie Interesse an einer Nutzung
haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns. Gerne
steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen für weitere Fragen und
Absprachen zur Verfügung.
www.socialnet.de