Rezension zu Aufgewachsen in »eiserner Zeit«
http://systemagazin.com
In den letzten Jahren ist das Schicksal von Kindern, die vor dem
oder im letzten Weltkrieg geboren worden sind, stärker in das Licht
der Öffentlichkeit getreten. Interessant ist diese Perspektive
nicht nur, um die Bedeutung des Erfahrenen für die Betroffenen
selbst besser zu verstehen, sondern auch vor dem Hintergrund einer
mehrgenerationalen Betrachtung. Welche Konsequenzen für den Aufbau
und die Erhaltung von Beziehungen sowie für die Gründung von
Familien und Erziehung der eigenen Kinder haben belastende oder gar
traumatische Erfahrungen im eigenen (frühen) Kindesalter? Was davon
ist erinner- und bearbeitbar, was wirkt im Dunkeln, ohne dass die
damit verbundene Dynamik erkennbar würde? Das in diesem Jahr im
Psychosozial-Verlag erschienene Buch der Historikerin Barbara
Stambolis (Professorin in Neuerer und Neuester Geschichte,
Universität Paderborn) behandelt die Situation der Kriegskinder
zwischen Erstem Weltkrieg und Weltwirtschaftskrise. Das liegt
angesichts des 100-jährigen Jahrestages des Ausbruch des 1.
Weltkrieges und der damit verbundenen Publikationswelle nahe,
eröffnet aber vor dem Hintergrund der eingangs erwähnten
»Kriegskinder-Literatur« auch neue Blickwinkel. Barbara Stambolis
macht in ihrer Einleitung darauf aufmerksam, dass es neben vielen
Ähnlichkeiten zwischen den Kriegskindern des ersten und zweiten
Weltkrieges eben auch Unterschiede gibt: »Zahlreiche Angehörige
der Kriegskindergeneration des Zweiten Weltkriegs stellen heute im
Alter fest, dass ihre Eltern – zwischen Erstem Weltkrieg und
Weltwirtschaftskrise aufgewachsen – vielleicht ähnliche
Erfahrungen gemacht haben wie später ihre Kinder in und nach dem
Zweiten Weltkrieg. Ihre Spurensuche in privaten Unterlagen ist oft
wenig ergiebig und auch in geschichtswissenschaftlichen
Untersuchungen finden sie nur wenige Anhaltspunkte. Diesem ›blinden
Fleck‹ gilt in der vorliegenden Publikation die Aufmerksamkeit.
Manche Leserinnen und Leser – zwischen 1930 und 1945 geboren –
werden sich in den Kindern des Ersten Weltkriegs teilweise
wiedererkennen, sie werden aber auch feststellen, dass sie in
vielerlei Hinsicht unter anderen Bedingungen aufgewachsen sind und
dass ihre Lebensperspektiven sich von denen Heranwachsender nach
1918 grundlegend unterscheiden. Jüngere, nach 1945 Geborene,
werden zum einen gängigen Perspektiven auf das 20. Jahrhundert
einige neue Facetten hinzufügen und sich der Frage nach der Dauer
mentaler und psychohistorischer Erbschaften zuwenden können. Es
handelt sich im Folgenden um einen vorsichtigen historischen
Brückenschlag zwischen Kindheits- und Jugenderfahrungen im bzw.
nach dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg, dem hoffentlich weitere,
vor allem detailliertere Untersuchungen folgen werden.«
Unsere Autorin hat das Buch für systemagazin
gelesen:
Findet der erste Krieg aufgrund des diesjährigen 100-jährigen
Jubiläums heute wieder mehr Beachtung, so wurden meist nur die
politischen Aspekte beleuchtet. In diesem Buch ist dies anders. Es
legt den Fokus auf die Kinder, die diesen Krieg miterleben mussten.
Barbara Stambolis dokumentiert hier sehr gut anhand der zeitlichen
Folge, wie Kinder den 1. Weltkrieg erlebt haben, wie sie gesehen
bzw. behandelt wurden und welche Auswirkungen dies auf sie
hatte.
Wie wurden sie vor dem Krieg gesehen? Hat dieses Jahrhundert, das
ja oftmals »Jahrhundert des Kindes« genannt wurde, noch sehr
hoffnungsvoll und aussichtsreich für die Kinder begonnen, folgt für
sie ein absolutes Desaster: Sprichwörtlich eiserne Zeiten brechen
an.
Was geschah mit den Kindern in der Zeit des Krieges? Es galt für
sie genau wie für die Eltern ab Ausbruch des Kriegs ein
zweifelhaftes Ideal: Der eiserne Wille ist vorrangig und wird
persönlichen Bedürfnissen vorangestellt. »Zaghaftigkeit,
Ängstlichkeit und Schmerz« sollten unterdrückt werden, um stark zu
sein, koste es, was es wolle. Nach dem Motto »Hurra, wir leben
noch« wird suggeriert, nicht über die eigene Verletztheit
nachzudenken geschweige denn zu reden.
Abwesende bzw. traumatisierte Väter, die ständige Angst, dass er
nicht wieder kehrt bzw. die Gewissheit, ihn verloren zu haben,
überforderte und emotionslos wirkende Mütter, das mangelnde
Zutrauen der Gesellschaft in die Erziehungsfähigkeiten der
»übriggebliebenen« Mütter und nagender Hunger (mit Sicherheit nicht
nur physisch, sondern auch psychisch) hinterlassen Spuren auf den
kleinen Seelen der Kinder.
Barbara Stambolis beschreibt anhand der Aufzeichnungen von
Zeitzeugen diese Zeit zwischen Begeisterung und Ernüchterung und
wie Kinder und Mütter damit fertig wurden. Auch die Sicht der
damaligen Kinderärzte, Psychologen, Lehrer und Pädagogen wird von
ihr dargelegt (Diagnose Nervosität).
Da aus dieser Zeit (anders als beim 2. Weltkrieg) leider
keine/wenige Zeitzeugen mehr wertvolle Beiträge leisten können,
wurde hier viel mit Literaturhinweisen in Klammern gearbeitet, was
stellenweise etwas nerven kann. Sieht man darüber hinweg, ist
dieses Buch ein wertvoller Beitrag zum Thema 1. Weltkrieg aus einer
Perspektive, die bis jetzt einfach zu kurz gekommen ist.
Die eingeschobenen Absätze sowie Zeitdokumente wie z.B. Bilder,
Postkarten und Zeitungsausschnitte, die von persönlichen
Erfahrungen der Betroffenen handeln, habe ich als äußerst
interessant und untermauernd empfunden, da sie persönliche
Sichtweisen, Gefühle und Gedanken zeigen.
Wie waren die Auswirkungen nach dem 1. Weltkrieg? Hier geht´s um
die Kriegskinder als Kriegsopfer, welche Hilfsleistungen z.B.
Waisen bekamen oder auch nicht, wie Kriegsschuld und Kriegsgedenken
behandelt wurde und welche Stellung Kinder und Mütter als
Hinterbliebene hatten. Auch die Zeit der Weimarer Republik und des
Nationalsozialismus sowie die Langzeitbelastungen des 1. und des 2.
Weltkriegs, vor allem das psychohistorische Erbe werden
behandelt.
Es stimmt schon nachdenklich, welche Auswirkungen dies auf die
Kinder des 1. Weltkriegs gehabt haben muss, auf die Kinder des 2.
Weltkriegs, die ja selbst schon traumatisierte Eltern hatten und so
auch auf die nachfolgenden Generationen. Was für ein schweres
Erbe!
Wie gut geht’s uns eigentlich und wissen wir das immer? Sollten wir
auch mal die Scheuklappen ablegen und nach rechts und links
schauen? Sehen, dass auch in der heutigen Zeit Kriege herrschen,
Kinder betroffen sind und wir uns in unserem unendlichen Wohlstand
über Flüchtlinge aufregen? Ich schweife ab, also zurück zum Buch
bzw. zu weiterführenden Büchern.
Dieses Buch ist sehr empfehlenswert! Wen es interessiert, über die
seelischen Auswirkungen des Kriegs auf die Kinder des 2. Weltkriegs
und die nachfolgenden Generationen nachzulesen, dem empfehle ich
auch das Buch »Wir Kinder der Kriegskinder« von Anne-Ev Ustorf
und/oder »Die vergessene Generation: Kriegskinder brechen ihr
Schweigen« von Sabine Bode. Hier werden auch psychologische
Hintergründe näher erläutert und verständlich gemacht.
http://systemagazin.com