Rezension zu Der Grenzgänger
Germanistik Band 47 (2006) Heft 1-2
Rezension von Peter Huber
Mit einem psychologischen Modell, dem Strukturtypus des
»Grenzgängers«, versucht die Verf., (Psycho-)Logik in den scheinbar
so disparaten Erzählvorgang Walsers zu bringen. Der Typ ist
definiert als Sohn eines schwachen, erfolglosen Vaters und einer
schizophrenogenen Mutter. Zu dieser besteht eine double bind-, zu
jenem eine ödipale Beziehung. Der »Grenzgänger« ist nicht identisch
mit W. noch mit einer seiner Figuren. auch nicht mit dem klinischen
Bild des »Borderliners«; der Begriff umfasst vielmehr den
schizoiden wie den depressiven Angsttypus, wobei ein realer
Angstpatient immer nur einem Typus zugehören kann. Der erste
Abschnitt stellt zunächst das psychologische Handwerkszeug, bevor
im zweiten der »Grenzgänger«-Typus beschrieben und mit der
Literatur W.s in Beziehung gesetzt wird. Lohn der extensiven
Vorarbeit ist eine kohärente Deutung des Räuber-Romans aus
freudianischer Sicht (Teil 3). Ein gutes literarisches Gespür
bewahrt die Verf. vor spekulativen Abwegen. Nachteil der Methode
ist, daß die an sich plausiblen Ergebnisse strenggenommen nur auf
den entworfenen Strukturtyp bezogen werden können – und der kommt
in der Realität nicht vor. Leider verzichtet die Neuaufl. auf eine
Aktualisierung der Forschungsliteratur. Antiquiert wirkt die rigide
Symboldeutung Freuds, auf welche die Verf. des öfteren verweist
überflüssig auch deshalb, weil in der Arbeit neuere, für die
Literaturwissenschaft fruchtbarere Ansätze diskutiert werden.