Rezension zu Versuche zur Psychologie des nationalsozialistischen Terrors
Jüdische Allgemeine am 29. Oktober 2014
Rezension von Martin Jander
Psychologie des Terrors
Schriften des Analytikers Ernst Federn werden zu dessen 100.
Geburtstag neu aufgelegt
Von Martin Jander
Der österreichische Psychoanalytiker Ernst Federn ist in
Deutschland bis heute nicht sehr bekannt. Der 1914 in Wien geborene
und 2007 dort gestorbene Wissenschaftler überlebte die
Konzentrationslager von Dachau und Buchenwald. Er gilt in
Fachkreisen als Pionier der psychologischen Analyse des Lebens in
Konzentrationslagern sowie einer psychoanalytisch orientierten
Pädagogik und Sozialarbeit. Nach der Befreiung emigrierte er in die
USA. Auf Einladung des österreichischen Bundeskanzlers Bruno
Kreisky kam er Mitte der 70er-Jahre nach Österreich zurück und
beriet die Regierung bei der Gefängnisreform.
Als Jude und Trotzkist musste Federn sich im KZ Buchenwald nicht
nur vor der SS fürchten, sondern auch vor den moskautreuen
kommunistischen Mithäftlingen, die in der sogenannten
Häftlingsselbstverwaltung des Lagers überlebenswichtige Funktionen
ausübten. Nach der Befreiung von Buchenwald zählte Federn unter den
überlebenden deutschsprachigen Kommunisten nicht zu denen, die als
Helden geehrt wurden. Er galt als Feind.
Zwei wesentliche Arbeiten Federns zur Analyse der
NS-Konzentrationslager – Der Terror als System: Das
Konzentrationslager (1945) und Versuch einer Psychologie des
Terrors (1946) – werden jetzt anlässlich von Federns 100.
Geburtstag im August erneut publiziert. Sie stellen einen ersten
Versuch dar, die Situation in Konzentrationslagern psychologisch zu
analysieren. Federn richtet seinen Blick dabei nicht nur auf die
SS-Wachmannschaften, sondern auch auf die Häftlinge selbst.
ASOZIAL Federns Grundannahmen für die Analyse lauten: »Erstens,
dass von Kindheit an jeder Mensch über starke, wilde Triebe
verfügt, die der Anständige und Gesunde zu beherrschen lernt,
während der Asoziale und Kranke ihnen in verschiedenen Formen
nachgibt, die in Widerspruch zu den Formen des sozialen Lebens
stehen. Zweitens, dass Erziehung und die Umwelt, die im größten
Maße von der Beschaffenheit des Staates abhängen, jene Instanz
heranbilden, die erst dem Individuum die Triebbeherrschung
ermöglicht.« Etwas vereinfacht gesprochen analysiert Federn daher
nationalsozialistische Täter als seelisch erkrankte Menschen, die
nicht gelernt haben, ihre wilden Triebe zu beherrschen. Häftlinge,
die sich ihnen unterordnen, beschreibt Federn in ähnlicher
Weise.
Eine weitere Grundannahme formulierte Federn 1994 in einem Aufsatz
über den Psychoanalytiker Bruno Bettelheim, der, wie er selbst,
einige Zeit in Buchenwald terrorisiert wurde: »Ich glaube, dass die
breite Öffentlichkeit niemals die seelischen Zustände der Opfer des
Nationalsozialismus nachvollziehen kann und sie daher auch niemals
wirklich verstehen wird. Der Holocaust war ein Ereignis von
historischer Außergewöhnlichkeit, weil er in einem
hochzivilisierten Land geschah. Der Rückfall einer Gesellschaft wie
der deutschen auf die Einstellung des Altertums, in dem Völker ohne
Bedenken ausgerottet wurden, ist einfach unmöglich.«
REZEPTION Wenn es jemanden gibt, der dafür gesorgt hat, dass das
Erbe des 1914 in Wien geborenen Mannes vor allem im
deutschsprachigen Raum nicht verloren ging, dann war es der 1961
geborene Roland Kaufhold, der in Köln als Sonderschullehrer
arbeitet und zur Biografie- und Exilforschung, zur
psychoanalytisch-pädagogischen Bewegung und zu Israel publiziert
und auch Autor der Jüdischen Allgemeinen ist. Ohne den
Sozialpädagogen hätte eine breitere Rezeption von Biografie und
Werk Ernst Federns nicht stattgefunden.
Der zum 100. Geburtstag Federns erneut publizierte Band ist nicht
nur deshalb zur Lektüre zu empfehlen, da er frühe psychoanalytische
Versuche zur Analyse nationalsozialistischen Terrors enthält;
darüber hinaus machen weitere beigefügte Aufsätze von Federn
selbst, des Herausgebers Roland Kaufhold, des Historikers Bernhard
Kuschey sowie der Filmemacher Wilhelm und Maritha Rösing, die 1992
einen Dokumentarfilm über Federn fertigstellten (Überleben im
Terror), ihren Entstehungszusammenhang und ihren Ort in der
Literatur der Überlebenden deutlich.
PRÄVENTION Federns aktuelle Bedeutung liegt nicht nur darin, dass
er einer von vielen Überlebenden ist, die den Terror, dem sie
unterworfen waren, analysierten. Überlebende Opfer haben dies in
sehr hohem Maße getan. Sie liegt darüber hinaus darin, dass er nach
dem Nationalsozialismus einer psychoanalytisch orientierten
Pädagogik und Sozialarbeit verpflichtet war und in den USA und
Österreich als Sozialarbeiter in Gefängnissen arbeitete. Sein
Denken und Handeln war nicht nur auf die analytische Durchdringung
des Terrors gerichtet, sondern auf seine präventive
Verhinderung.
Am Ende einer Arbeit über den KZ-Kommandanten von Auschwitz, Rudolf
Höß, dem Federn in Dachau begegnet war, schrieb er: »Warum
Deutschland zuerst die wissenschaftliche Erkenntnis in den Dienst
des Völkermords gestellt hat, ist ein Problem für den Historiker.
Wie man aber Kinder so erzieht, dass sie nicht zu potenziellen
Massenmördern werden, ist ein Problem, das die ›seelische Hygiene‹
angeht. Es könnte entscheidend sein für unser aller Überleben, dass
wir diese beiden Probleme nicht verwechseln.«
Wer an den Konzepten Ernst Federns und an der präventiven
Verhinderung von Völkermord interessiert ist, der sollte sich
zusätzlich zu diesem hochinteressanten Band das 1999 erschienene
Buch von Federn Ein Leben mit der Psychoanalyse. Von Wien über
Buchenwald und die USA zurück nach Wien besorgen.
Ernst Federn: »Versuche zur Psychologie des nationalsozialistischen
Terrors« (Hrsg.: Roland Kaufhold). Psychosozial, Gießen 2014 (3.
Auflage
www.juedische-allgemeine.de