Rezension zu Von der Selbsterhaltung zur Selbstachtung (PDF-E-Book)
ZFG. Zeitschrift für Geschichtswissenschaft Nr. 10/2014
Rezension von Jürgen Reulecke
Hans Kilian/Lotte Köhler mit einem Beitrag von Uwe Henrik Peters:
Von der Selbsterhaltung zur Selbstachtung. Der geschichtlich
bedingte Wandel psychoanalytischer Theorien und ihr Beitrag zum
Verständnis historischer Entwicklungen
Eine wachsende Zahl von Historikerinitiativen hat in jüngster
Vergangenheit gezeigt, wie ertragreich mit psychohistorischen
Blickweisen neue Analysewege vor allem im Feld der Zeitgeschichte
beschritten werden können. Dies hat in bemerkenswerter Weise vor
Kurzem im Rahmen eines interdisziplinären Zusammenwirkens von
Psychowissenschaftlern und Historikern z. B. ein umfangreiches
Forschungsprojekt zur psychischen Bewältigung und generationellen
Weitergabe von Zeitzeugenerfahrungen im Hinblick auf den »Hamburger
Feuersturm« von 1943 belegt (1).
Ein beträchtliches Anregungspotenzial grundsätzlicher Art in
dieser Richtung lässt sich aus den Beiträgen in einem jüngst von
der Münchner Psychoanalytikerin Lotte Köhler publizierten
Sammelband entnehmen. Ihr langjähriger Lebensgefährte, der
Anthropologe und Psychoanalytiker Hans Kilian, und sie hatten sich
seit den 1960er-Jahren, stark angeregt durch Impulse der
»Selbstpsychologie« des amerikanischen Psychoanalytikers Heinz
Kohut, darum bemüht, historische Entwicklungen unter dem
Blickwinkel psychoanalytischer Fragestellungen zu deuten. In ihrem
Beitrag zu dem von ihr nun vorgelegten Sammelband liefert Köhler
zunächst, ausgehend von einer Gegenüberstellung der auf das »Ich«
bezogenen Triebtheorie bei Freud und des »Selbstobjekt-Konzepts«
von Kohut, einen eindrucksvollen Einstieg in die Thematik, in dem
sie insbesondere die Empathie als wissenschaftlichen
Erkenntnisgegenstand gerade auch für die Geschichtswissenschaft
betont und die erhebliche historische Wirksamkeit von
Empathiefähigkeit oder -unfähigkeit, z. B. infolge individueller
oder kollektiver »Kränkung der Selbstachtung«, im Zusammenleben
der Menschen hervorhebt. Der Beitrag des 2008 verstorbenen Hans
Kilian (2) in dem Sammelband – eine Zusammenfassung von mehreren
seiner Veröffentlichungen und Vorträgen durch Köhler – beginnt
mit einem Blick auf die »Metamorphose der menschlichen Lebenswelt
während der letzten 100 Jahre«. Er präzisiert den damit
angesprochenen psychoanalytischen Wandel, indem er detailreich drei
Epochen seit dem 19. Jahrhundert mit ihren je in spezifischer Weise
psychisch herausfordernden Charakteristika analysiert und den
jeweiligen Wandel der menschlichen Handlungsmotivationen bis heute
anspricht – dies in Fortführung und Differenzierung der Kohutschen
Selbstpsychologiethesen aus den 1970er-Jahren. Laut Kilian
erfolgten im vergangenen Jahrhundert drei Umbrüche der
Realitätsstruktur: von der patriarchalen Herrschaftskultur über
die liberale Konkurrenzwirtschaft zum sogenannten tertiären Sektor
der Dienstleistungsberufe. Damit seien, so Kilian, jeweils drei
unterschiedliche Formen des personalen Selbst sowie drei
unterschiedliche psychoanalytische Theorien und Formen der Empathie
zu dessen Interpretation verbunden.
Die den Sammelband bestimmende zentrale Bedeutungszuweisung an
Kohut für eine psychoanalytische ebenso wie psychohistorische
Analyse der Zeitgeschichte wird abschließend noch dadurch
hervorgehoben, dass ein 1987 erschienener Aufsatz des Psychiaters
und Neurologen Uwe Henrik Peters zur Werkbiografie von Heinz Kohut
mit dem Titel »Das fragmentierte Selbst und die psychoanalytische
Emigration« in überarbeiteter Form angefügt wird, in dem der
Autor die Lehre Kohuts mit dessen Lebenserfahrungen als aus Wien
stammender jüdischer Emigrant in Verbindung bringt. Alle drei
Beiträge liefern in jeweils überzeugender Weise Argumente für
das abschließende, im positiven Sinn des Wortes provozierende
Urteil Köhlers, dass die auf Kohut zurückgehende
Selbstpsychologie wesentlich dazu beitragen könne, »die Motivation
des modernen Menschen – nämlich Selbstachtung und nicht mehr die
Selbsterhaltung – besser zu erfassen« (S. 120). Dass sich hieraus
vielerlei Impulse für innovative psychohistorische
Detailforschungen ableiten lassen, liegt auf der Hand.
Jürgen Reulecke
(1) Ulrich Lamparter/Silke Wiegand-Grefe/ Dorothee Wierling
(Hrsg.), Zeitzeugen des Hamburger Feuersturms 1943 und ihre
Familien. Forschungsprojekt zur Weitergabe von Kriegserfahrungen,
Göttingen 2013.
(2) Zu Kilians Lebenswerk siehe Lotte Köhler/ Jürgen
Reulecke/Jürgen Straub (Hrsg.), Kulturelle Evolution und
Bewusstseinswandel. Hans Kilians historische Psychologie und
integrative Anthropologie, Gießen 2011.