Rezension zu Alfred Lorenzer
ÖAGG FEEDBACK Zeitschrift für Gruppentherapie und Beratung 3&4/2014
Rezension von Günter Dietrich
Ellen Reinke (Hrsg.): Alfred Lorenzer. Zur Aktualität seines
interdisziplinären Ansatzes
»Lorenzers Werk hat in die Psychoanalyse selbst wie in zahlreiche
weitere Disziplinen ausgestrahlt. Es wird sowohl in seinen
metatheoretischen wie methodologischen Schwerpunkten in mehreren
Disziplinen aufgenommen und weiterentwickelt. Die hier versammelten
Autoren und Autorinnen – in der Mehrzahl Mitarbeiter und Schüler
Lorenzers – nehmen die Diskussion seines von Freud ausgehenden
Werkes an wesentlichen Punkten auf und stellen es in aktuelle
Diskussionen (Reinke 2013, 7).
So führt Ellen Reinke in den von ihr herausgegebenen Sammelband
»Alfred Lorenzer. Zur Aktualität seines interdisziplinären
Ansatzes« ein. Rund zwei Jahrzehnte nach dem Tod des bedeutenden
deutschen Sozialforschers, Wissenschaftstheoretikers und
Psychoanalytikers kommt diesem Werk damit die Funktion zu,
wesentliche wissenschaftliche Leistungen von Lorenzer
zusammenzufassen, in die Gegenwart weiterzuführen und auch einem
jüngeren Fachpublikum vorzustellen. Denn, wie die Herausgeberin
anmerkt, ist ihr Kreis der ehemaligen MitarbeiterInnen und
SchülerInnen Lorenzers selbst »auch schon in die Jahre gekommen«
(ebd., 19).
Reinke gliedert das Buch in zwei Teile: Der erste Teil bringt
Beiträge zu den Grundlagen des Werks Lorenzers, der zweite Teil
widmet sich der Anwendung von Alfred Lorenzers zentralem
Forschungsgegenstand – der Tiefenhermeneutik. Hier ist besonders
eine wichtige Originalarbeit von Lorenzer anzuführen,
»Tiefenhermeneutische Literaturinterpretationen« von Alfred
Lorenzer und Achim Würker aus dem Jahr 1987, die die Methode in
komprimierter Form gebündelt darstellt. Insgesamt sind die
Buchbeiträge in diesem Band so vielfältig, dass in dieser
Rezension nur exemplarisch darauf eingegangen werden kann.
Die Herausgeberin Reinke unternimmt in ihrem Beitrag »Hermeneutik
des Leibes. Psychoanalyse zwischen Leiblichkeit und
Vorstellungsarbeit« für den Grundlagenteil eine fundierte
Standortbestimmung der wissenschaftlichen Einordnung des Werkes
Lorenzers. Der Ausdruck »Hermeneutik des Leibes« ist auf Lorenzer
selbst zurückzuführen und verweist auf seine Mittelposition in
der in der abendländischen wissenschaftlichen Tradition uralten
Frage des Verhältnisses von Leiblichkeit und Geistigkeit, was in
Philosophie und Psychologie oft als Leib-Seele-Problem beschrieben
worden ist. Lorenzer korrigiert gewissermaßen einen alten Irrtum
von Freud, der seither in der Tradition der Psychoanalyse
fortgeschrieben worden war: Nämlich den Widerspruch eines
naturwissenschaftlich-neuropsychologischen Selbstverständnisses
mit einer den Geisteswissenschaften entlehnten Forschungsmethodik,
was der Psychoanalyse schon früh in ihrer Geschichte den Vorwurf
der Unwissenschaftlichkeit eingebracht hat, man denke nur an Karl
Bühlers kritische Charakterisierung Freuds als »Stoffdenker«
(Bühler 1929, 165). In spannender und klar argumentierter Form
greift Reinke auf das neurobiologische Frühwerk Freuds zurück,
das für viele Jahrzehnte in der wissenschaftlichen Diskussion zu
Freud ausgeblendet geblieben und nicht in den Gesammelten Werken
erfasst worden war. Dazu geradezu stimmig erscheint die von Reinke
angeführte Fehldatierung der wichtigsten psychotherapeutischen
Arbeit Freuds aus den frühen Jahren durch die HerausgeberInnen der
Gesammelten Werke, nämlich »Psychische Behandlung
(Seelenbehandlung)« aus dem Jahr 1890, die auf 1905 datiert erfasst
worden war, wie um mit dieser Fehldatierung das Weglassen aller
anderen frühen Schriften rechtfertigen zu können.
Aus diesen frühen Arbeiten Freuds, unter besonderer Bezugnahme auf
Freuds Aphasie-Studie von 1891, leitet Reinke Freuds »völlig
neuartige erkenntnistheoretische Position zwischen Natur- und
Humanwissenschaften« (ebd., 38) ab. Darin ist die Trennung zwischen
Neurologie und Psychoanalyse aufgehoben und, im heutigen
Sprachgebrauch formuliert, unter einer sozialwissenschaftlichen
empirischen Perspektive der Blick auf die Behandlungsbeziehung
zwischen TherapeutIn und PatientIn eröffnet. Alfred Lorenzer
gebührt der Verdienst, Freuds wissenschaftliche Position konkret
bestimmt, wissenschaftstheoretisch ausformuliert und modern
differenziert zu haben. So entstand die heute weithin anerkannte
metatheoretische Fundierung der Psychoanalyse als
tiefenhermeneutisches Verfahren.
Ohne die enorme wissenschaftliche Bedeutung Lorenzers oder auch die
Qualität der Darstellung Reinkes anzweifeln zu wollen, sei
kritisch angemerkt, dass Reinkes Argumentation der in der
Psychoanalyse leider immer noch verbreiteten idealisierenden
Great-Man-Theory-Of-History folgt, die von Generation zu Generation
erneut am fantasierten Übervater Freud abgearbeitet wird. In
dieser Sichtweise wird Lorenzer zum gleichsam wahren Sohn Freuds,
der so in idealisierter Form seiner SchülerInnengruppe wiederum
machtvolle Identifikationsmöglichkeiten als symbolische
Enkelkinder des Gründervaters der Psychoanalyse eröffnet.
Im Aufsatz »Zwischen Erlebnis und Geschehen. Zum Traumabegriff bei
Alfred Lorenzer« von Gottfried Fischer und Monika Becker-Fischer
verbinden die AutorInnen Lorenzers Verständnis der »traumatischen
Neurose« mit den neueren Ergebnissen ihrer psychotraumatologischen
Forschungen. In Abgrenzung von einer deskriptiv-symptomorientierten
Sichtweise, wie sie für diagnostische Manuale charakteristisch
ist, folgen sie Alfred Lorenzers psychoanalytischen Zugang einer
dynamischen Sicht auf den psychischen Apparat, die an der
Schnittstelle zwischen psychischen Phänomenen und
neurobiologischen Funktionen angesiedelt ist. Traumata folgen
keinen nomologischen Gesetzmäßigkeiten (im Sinne einer definierten
Wenn-Dann-Relation), sondern erfordern den Zugang über eine
hermeneutische Erfahrungswissenschaft. Die Traumaforschung kann
somit als Modellfall der im deutschsprachigen Raum weiter zu
etablierenden Psychotherapiewissenschaft gesehen werden, für die
die Autorinnen ebenfalls die Basis einer hermeneutischen
Erfahrungswissenschaft vorschlagen.
Exemplarisch für die zahlreichen Anwendungsbeispiele zur
Tiefenhermeneutik sei der Beitrag von Anas Nashef »Subjektivität
der Hoffnung und Hoffnung der Subjektivität. Szenisches Verstehen
im Israel-Palästina-Konflikt« vorgestellt. Nashef beschreibt seine
empirische Studie mit Forschungsinterviews mit
tiefenhermeneutischer Auswertung mit Palästinensern und Israelis.
Über Lorenzers Methode des »szenischen Verstehens« wurden 20
Tiefeninterviews ausgewertet und im Beitrag in exemplarischen
Ausschnitten vorgestellt. Individuell werden so Typen von
Konfliktbewältigungsstrategien sichtbar, die einerseits
festgefahrene Feindbilder stabilisieren, aber auch die
»Widerständigkeit der Subjekte« offenbaren und Hoffnung auf
Veränderung ermöglichen. Wirkliche Chancen zeigen sich dort, wo
Raum für die oft schmerzliche, die Konfliktparteiengrenze
überschreitende, interpersonelle Begegnung geschaffen wird.
Das Werk Alfred Lorenzers ist es wert, im Gedächtnis gehalten und
weiterentwickelt zu werden. Besonders für die derzeit in der Phase
der Etablierung befindliche Disziplin der
Psychotherapiewissenschaft ist sein interdisziplinärer Ansatz und
seine wissenschaftstheoretische Grundlage ein wertvoller Beitrag.
Der Sammelband von Ellen Reinke liefert dazu eine gut gesetzte
Auswahl, die von den Haupttheorien Lorenzers bis in die aktuelle
Anwendungsforschung führt.
Günter Dietrich
Bühler, Karl (1929): Die Krise der Psychologie. Jena: Gustav
Fischer