Rezension zu Grundlagen der Tiefenpsychologie

ÖAGG FEEDBACK Zeitschrift für Gruppentherapie und Beratung 3&4/2014

Rezension von Anna Blaha

Gerald Mackenthun, Grundlagen der Tiefenpsychologie

360 Seiten, ergänzt durch ausgelagerte Kapitel im Internet, bieten einen beinahe enzyklopädischen Überblick über den Begriff »Tiefenpsychologie« im allerweitesten Sinn. Mangelhaftes Wissen über Tiefenpsychologie sei »eine bedauerliche und eigentlich unverzeihliche Nachlässigkeit« (S. 13). Daher wendet sich der Autor an »Studierende der Psychologie und andere Interessierte, die einen ersten Überblick (...) erhalten möchten.« Für diesen Überblick hat G. Mackenthun sieben Standardwerke der Sekundärliteratur seiner Wahl »dankbar benutzt« und mit einer Fülle von Informationen aus weiteren Quellen ergänzt. Die ersten 90 Seiten sind der Einordnung in das begriffliche Umfeld, der Vorgeschichte und der Geschichte der Tiefenpsychologie gewidmet, die der Autor als »eine fachübergreifende Methode der Menschenkenntnis« (S. 288) bezeichnet. Alle ihre Schulen befassen sich mit »psychischen Vorgängen, die mehr oder weniger unbewusst Verhalten und Erleben beeinflussen, grundsätzlich aber bewusst werden können.« (S. 33)

Ganze 60 Seiten befassen sich mit den Pionieren Sigmund Freud, Alfred Adler und C. G. Jung, weitere 64 mit einer Reihe von Vertretern der Neopsychoanalyse, der Humanistischen Psychologie und des Personalismus. Auf nochmals etwa 100 Seiten setzt sich der Autor mit einer Auswahl des Begriffsinventars aus seiner Sicht und mit seinen persönlichen Interpretationen auseinander. Ein »Ausblick«, ein Anhang in Form von Anmerkungen und kommentierten Literaturhinweisen sowie ein umfangreiches Schlagwortverzeichnis sind den Ausführungen angefügt.

Dem Verständnis des Autors zufolge verhält sich die Psychoanalyse zur Psychologie ähnlich wie die Alchemie zur Chemie (S. 120). Sie habe eine bahnbrechende Funktion, sei aber im wesentlichen ein Konglomerat gefährlicher Irrtümer. Sigmund Freud sei ein Materialist gewesen (S. 261), der sich gegenüber seinen Patientinnen »problematischer Suggestionen« bedient habe und therapeutisch erfolglos geblieben sei (S. 291).

Seine Ausführungen seien »abstruse sexuelle Mythologie« (S. 327) und er habe einem »hemmungslosen Spekulieren gefrönt« (S. 332). Die »Allaussagen« der Pioniere widersprächen dem »gesunden Menschenverstand« (S.37). Je weiter die Vertreter der Psychoanalyse sich von Freud entfernt haben, desto milder wird zwar die pejorative Kritik des Autors, aber auch Alfred Adler wird noch »Unfähigkeit zur wissenschaftlichen Arbeit« vorgeworfen (S. 132) und dessen anatomische Kenntnisse als praktizierender Arzt hätten »jeder Beschreibung gespottet«. Er habe den Nabel für ein Organ des Ernährungstraktes gehalten (S. 131 – der Quellenbezug für diesen massiven Vorwurf wird der Leserschaft allerdings verschwiegen). C. G. Jungs Analytische Psychologie sei ein »blamabler Unfall der Tiefenpsychologie« (S.159) gewesen. Die Psychoanalyse bleibt das ganze Werk hindurch vorwurfsbedacht – von ihren Grundkonzepten bis zu den späten Auswirkungen. »Eine weitere Steigerung der Menschenverachtung von Psychiatern und Psychoanalytikern« (S. 41) sei in den Praktiken des Psychoanalytikers John N. Rosen zu finden, zu dessen therapeutischen Praktiken »erzwungener Geschlechtsverkehr« »und körperliche Misshandlungen der Patienten und Patientinnen« – teilweise mit Todesfolge – gehörten (S. 41).

An die weit gefassten Ausführungen über werkbezogene biografische Details der Protagonisten schließen sich geraffte Darstellungen einer Reihe von Vertretern der in der Folge entstandenen Schulen. Der Neoanalyse werden mit entsprechender Begründung 15 Vertertreter_innen – von Anna Freud bis Michael Balint – zugeordnet. Kinderanalyse, Säuglingsforschung, Spezialisierung auf Teilgebiete der Tiefenpsychologie und Ausweitung des Anwendungsbereiches in Grenzgebiete zur Organmedizin sind einige der Schwerpunkte, in denen sie sich unterscheiden.

Die Humanistische Psychologie wird ihrer »größten Überschneidungen mit der Tiefenpsychologie« (S. 199) wegen in die Übersicht aufgenommen. Neun Vertreter werden vorgestellt, deren jeweils verschiedenes Menschenbild ihre tiefenpsychologischen Theorien und therapeutischen Zugänge geprägt hat. Von Abraham Maslow bis Erik Homburg Erikson reicht das Spektrum, ergänzt durch ein Kapitel über Feministische Psychotherapie, die »keine eigenständige Therapieform« (S. 212) darstellt, sondern eher eine schulenübergreifende Bewegung, die sich patriachalen Strömungen herkömmlicher Formen entgegenstellt. Dem auf Emmanuel Mounier zurückgehenden Personalismus sind Einzeldarstellungen der Sichtweisen von Max Scheler, Nicolai Hartmann und Josef Rattner gewidmet.

Begriffe wie das Unbewusste, die Traumdeutung, Übertragung und Gegenübertragung, Widerstand und Verdrängung, Hermeneutik und Therapie werden vom Autor aus mehreren Blickwinkeln in seiner eigenen Interpretation wiederholt dargestellt und dienen der ausführlichen Erläuterung seiner persönlichen Sichtweise. In den abschließenden Erläuterungen zum Thema Therapie sieht der Autor nach langen zentrifugalen Bestrebungen eine Konvergenz der Schulen, die zunehmend interdisziplinär agieren. Als besonders richtungweisendes Konzept gilt ihm dabei Klaus Grawe, der »fünf grundlegende Faktoren, die in jeder Therapierichtung präsent sind« ( S. 312), beschreibt, und der dafür plädiert, »die klassischen Therapieschulen aufzugeben und sich stattdessen an den Faktoren zu orientieren, die für die heilende Wirkung (...) verantwortlich sind.« (S. 313). Herkömmliche Schulen seien zu sehr von Dogmatismen beherrscht, moderne Psychotherapie müsse empirisch fundiert sein. »Nicht die Veränderung der gesamten Persönlichkeit ist das Ziel ›der Therapie‹, sondern die Auflösung oder Verringerung von Symptomen oder eine begrenzte Verhaltensänderung.« (S. 314).

Nicht zuletzt wegen der Finanzierung durch die Krankenkassen zieht der Autor eine streng formalisierte Diagnostik, wie sie den ICD-Texten entspricht, und die messbare Minderung von Symptomen der ursachenorientierten Psychoanalyse vor, deren Vertreter »sich beharrlich weigern, die Effektivität ihrer fast schon esoterischen Behandlungsmethode überprüfen zu lassen«(S. 313). Auf das Problem und die Bedenklichkeit, die Komplexität eines analytisch induzierten Reifungsprozesses auf katalogisierbare Merkmalsvektoren herunterzubrechen, geht er nicht ein.

Fazit: Insgesamt stellen die »Grundlagen der Tiefenpsychologie« einen umfassenden Überblick über weltanschauliche, philosophische, neurobiologische und therapeutische Konzepte dar, die ihre Wurzeln in tiefenpsychologischen Denkansätzen haben und deren Einfluss auf die soziale Gegenwart unübersehbar ist. Der Autor vertritt dabei einen wertenden Standpunkt, von dem aus Dokumentierbarkeit von Effizienz mit Effizienz gleichgesetzt wird. Das Problem der Messbarkeit therapeutischen Fortschritts wird der Psychoanalyse gegenüber als Vorwurf artikuliert. Obschon vom Autor für »Studierende und Interessierte« gedacht, übersichtlich gegliedert, gut lesbar und mit der Sensationslust des Lesers spielend, ist es wegen seiner einseitig pejorativen Kritik an den psychoanalytischen Konzepten eher zur Diskussionsanregung in Fachseminaren geeignet.

Anna Blaha

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