Rezension zu Franz Alexander und die moderne Psychotherapie

LUZIFER-AMOR. Zeitschrift zur Geschichte der Psychoanalyse 27. Jahrgang – Heft 54 – 2014

Rezension von Galina Hristeva

Imke Melcher: Franz Alexander und die moderne Psychotherapie

Freud zählte den ungarischen Psychoanalytiker Franz Alexander zu den »stärksten Hoffnungen« für »die Zukunft« der Psychoanalyse (S. 185). Zugleich warnte er seinen jungen Schüler am 17. 5. 1926 davor, »zu resigniert und zu bescheiden« zu sein, standen ihm doch Aufgaben bevor, die weit über »die Ausarbeitung und Zusammenfassung des bestehenden analytischen Wissens« hinausgingen (ebd.).

Und tatsächlich legte Franz Alexander nicht nur ein umfangreiches und vielseitiges Werk vor, sondern auch eine Brillanz und Virtuosität an den Tag, die ihn zu einem der brillantesten Vertreter der Psychoanalyse machen. Alexanders sprudelnde Kreativität und Begeisterung werden von Helen Ross folgendermaßen beschrieben: »No fisherman ever told his admiring followers about his latest catch with greater enthusiasm, no chess player a series of successful moves with more accuracy and pleasure« (S. 48). Wie kommt es aber, dass Alexander bei all seinen Pionierleistungen und Verdiensten um die Psychoanalyse ins Abseits geriet und vom »hochwertigen Psychoanalytiker« (Max Eitingon 1922) zum »Abtrünnigen« (S. 10) wurde? Und wie verlief seine Gratwanderung zwischen der Zugehörigkeit zur Psychoanalyse und der für ihn lebenswichtigen Existenz eines »unabhängigen Denkers« (S. 31)?

Angesichts der spärlichen Forschung über Alexander war ein Buch wie das von Imke Melcher – eine Dissertation, die an der Alpen-Adria- Universität in Klagenfurt entstanden ist – überfällig und somit sehr willkommen. Zudem unternimmt Melcher eine deutliche Umakzentuierung: Sie richtet die Aufmerksamkeit nicht auf Alexanders Psychosomatik, sondern auf dessen Beitrag zur psychoanalytischen Psychotherapie. Ihre Hauptthese lautet, »dass Franz Alexander als ein wichtiger Vordenker und Wegbereiter der modernen Psychotherapie betrachtet werden kann« (S. 90).

Melcher hat Zeitzeugen, Kollegen und Verwandte Alexanders in den USA und in Budapest aufgesucht und auch eine umfangreiche Bibliografie einschließlich einiger unveröffentlichter Quellen (1), erstellt, die künftigen Forschern den Weg zu Franz Alexander ebnen wird. Das Ergebnis dieser aufwändigen »Spurensuche« (S. 10) ist dann doch recht bescheiden ausgefallen. Das Buch ist sehr konventionell in sieben Kapitel gegliedert: 1. Einleitung 2. Bio- grafie von Franz Alexander (1891–1964) 3. Theoretische Grundlagen 4. Prinzipien und Anwendungsmöglichkeiten der Psychoanalyse bei Franz Alexander 5. Die aktuelle Bedeutung Franz Alexanders 6. Diskussion 7. Literaturverzeichnis. Mehrere Unterkapitel beleuchten eine Reihe von Einzelaspekten, wobei die Autorin aber selten über die bloße Skizze hinausgeht, sich immer wieder auf die Aufzählung biografischer Fakten oder Werke Alexanders beschränkt (vgl. S. 59) und sich häufig durch eine summarische Darstellung weitere Kommentare erspart (oft z. B. mit Hilfe des Adjektivs »verschiedene«, vgl. S. 143: »Verschiedene Autoren beginnen, seine Ideen wertzuschätzen«).

Der längere »historische Abriss« über die Prinzipien der klassischen Psychoanalyse (S. 69–86) hebt sich zwar von diesem Hintergrund ab, ist aber ein unnötiger Exkurs. Außerdem übernimmt die Verfasserin hier weitgehend, und ohne dies zu erwähnen, Alexanders Schema aus dem 2. Kapitel des Buches »Psychoanalytic Therapy: Principles and Application« (1946), allerdings mit einer anderen Intention: Während Alexander den »sich ständig wandelnden Charakter« der Freud‘schen Psychoanalyse betont, will Melcher zeigen, dass »die vielfältigen nachfolgenden Entwicklungen« keine Abweichungen sind, sondern auf das »von Sigmund Freud erdachte Theoriegebäude« (S. 86) zurückgehen, womit sie lediglich die Beständigkeit der psychoanalytischen Theorie unterstreicht. Das für Alexander und für die Geschichte der Psychoanalyse so bedeutungsvolle Werk von Rank und Ferenczi »Entwicklungsziele der Psychoanalyse« (1924) wird hingegen nur gestreift. Zusätzlich wird in einer Fußnote kurz vermerkt, dass »der damals noch konservative Alexander eine kritische Rezension« (S. 88) darüber verfasst habe.

Die sich durch Melchers Buch ziehende Gegenüberstellung von »konservativen« bzw. »orthodoxen« und »progressiven« Psychoanalytikern ist ohnehin problematisch, da diese Bezeichnungen wie im obigen Beispiel nirgends konsequent expliziert und nur zur Etikettierung verwendet werden, was zu einer Schwarz-Weiß-Malerei führt. Unscharf bleibt ebenfalls die mehrmals angesprochene Unterscheidung zwischen Meinungsverschiedenheiten wissenschaftlicher und politischer Natur (vgl. S. 128, 142). Trotzdem gelingt es Melcher mit ihrem Fokus auf Alexanders Modifikationen der klassischen Behandlungstechnik – das Prinzip der emotional korrigierenden Erfahrung und das Prinzip der Flexibilität – einen Eindruck von seiner »undogmatischen Haltung« (S. 138) und von den zentralen Kontroversen um ihn zu vermitteln.

Imke Melchers Buch tritt mit dem Anspruch auf, Alexander aus dem »Ruf der Ketzerei« (S. 143) zu befreien und sein psychotherapeutisches Werk zu neuem Leben zu erwecken. Eine immens wichtige Aufgabe, bedenkt man Martin Grotjahns Vergleich Alexanders mit Freud: »It might be said that Sigmund Freud disturbed the sleep of the world, and Franz Alexander disturbed the sleep of the psychiatrists and psychoanalysts« (S. 60). Hierzu liegt mit Melchers Buch jedoch nur ein Grundriss, ein Gerüst vor. Sollte sich dieses als tragfähig erweisen, wird es nicht zuletzt an den eingestreuten Zitaten aus Alexanders Werken liegen, die ein beredtes Zeugnis vom souveränen und experimentierfreudigen Geist dieses Forschers ablegen.

Galina Hristeva (Stuttgart)

(1) Zu diesen Quellen gehören auch einige Stücke aus der aufschlussreichen Korrespondenz zwischen Freud und Alexander, die aber in einer betrüblich unzuverlässigen Transkription dargeboten werden (z. B. »Hofierung« statt »Isolierung« der Psychoanalyse: S. 190).

zurück zum Titel