Rezension zu Internationale Psychoanalyse Band 4-10
Analytische Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie Heft 164, XLV. Jg., 4/2014
Rezension von Annegret Wittenberger
Mauss-Hanke, Angela (Hrsg.): Internationale Psychoanalyse. Band 8.
Weiblichkeit und Schöpferisches. Ausgewählte Beiträge aus dem
International Journal of Psychoanalysis
Da ich die Beiträge in diesem neuen Auswahlband als sehr
unterschiedlich in ihrem Gehalt empfinde, habe ich mich zu einer
entsprechenden unterschiedlichen Gewichtung entschieden. D.
Birksted-Breen meint, in den bestehenden Konzepten von Rêverie,
gleichschwebender Aufmerksamkeit und dem gestiegenen Interesse am
»Hier und Jetzt« drohe die zeitliche Dimension verlorenzugehen, was
ich nicht nachvollziehen kann, da das von ihr eingeforderte
Wartenkönnen und damit die für die analytische Situation
notwendige zeitliche Ausdehnung auch bei den von ihr zitierten
Autoren (Bion, Segal, Ogden, Ferro) ein wesentliches Element im
potentiellen Raum des analytischen Paares darstellt. Interessant an
ihrem Fallbeispiel ist, wie der Kampf der Analytikerin um
symbolisches Denken, das sie gegen das konkretistische Denken ihrer
Patientin zu verteidigen sucht, selbst konkretistisch wird, da
Symbolisierung für sie zu einer überwertigen Idee geworden ist
und damit zum Gegenübertragungswiderstand aufgrund eigener Ängste
und Schuldgefühle.
U. Karacaoglans Beitrag enthält eine überzeugende Darstellung der
Bedeutung von Tätowierung während einer Analyse an zwei
Fallbeispielen als Versuch, Angst vor Objektverlust und
grenzüberschreitender Verschmelzung zu bannen. Erhellend sind ihre
Ausführungen v. a. auch für Analysen mit Adoleszenten. Allerdings
überschätzt die Autorin m. E. den Symbolgehalt des Tattoos sowie
dessen angeblich progressive Funktion: Im Rückgriff auf eine
Körpermanipulation werden ja gerade die depressiven Ängste durch
Regression auf die paranoid-schizoide Position vermieden. Die
geschilderten Patienten fühlten sich nach der Tätowierung
während der Unterbrechung ihrer Therapie besser, vermutlich weil
ihnen damit die Verleugnung ihrer Schuldgefühle sowie ihrer
Abhängigkeit von einem guten Objekt vorübergehend gelungen war.
Eine wirkliche Annäherung an die depressive Position zeigt die
Patientin erst im weiteren Verlauf der Analyse, als sie einen
erneuten Wunsch nach einem weiteren Tattoo nicht mehr konkret
umsetzen muss, sondern diese Vorstellung in der Phantasie belassen
und über ihre damit verbundenen Wünsche nachdenken kann.
D. Tucketts Ausführungen zur psychoanalytischen Behandlungstheorie
erscheinen mir weitgehend überflüssig. Ich frage mich, wozu ich
als Analytikerin weitere »Heuristiken« (lt. Duden: Erfindungskunst,
Anweisung Neues zu erfinden) brauchen sollte neben dem Reichtum
bestehender Theorien, die mir als hilfreiche Verstehensmodelle für
die Praxis zur Verfügung stehen. Auf die Rezension einer Rezension
über A. Greens neues Buch, das sich vorwiegend mit Manifestationen
von Destruktivität in psychoanalytischen Prozessen befasst,
möchte ich aus Platzgründen verzichten. Allerdings frage ich mich
beim Lesen des wie immer dankenswerter Weise im Anhang
veröffentlichten Gesamtverzeichnisses, ob es keinen lesenswerteren
Originalaufsatz gab.
Dann, im 2. Teil mit dem Thema »Weiblichkeit und Schöpferisches«,
wird es richtig spannend. C. Covington betrachtet Hannah Arendts
Begriff der »Banalität des Bösen« aus einer psychoanalytischen
Perspektive und findet bei Arendt Freuds Konzept der Lebens- und
Todestriebe angewendet auf Nazi-Deutschland. Ihre Charakterisierung
von Eichmann entspricht einer Persönlichkeit, die in einem
geschlossenen narzisstischen Universum bestimmt ist von der
paranoid-schizoiden Position, in der es weder Zeit noch Grenze
gibt, und die geprägt ist von dem, was Bion mit –H und –K
beschreibt, fehlendem bzw. kaltem Hass und Auslöschung des
Denkens, für Arendt die gefährlichste Form des Bösen: böse
Taten ohne böse Absichten, eine Anomalie der menschlichen Natur,
die Covington auch bei den Schergen des Pol Pot Regimes und den
Folterern von Abu Ghraib und Guantanamo entdeckt.
Eichmanns grausame Taten, die er als »Anhänger« in Identifikation
mit einem perversen »kollektiven Ich-Ideal« (Freud in
»Massenpsychologie und Ich-Analyse«) beging und die darauf zielten,
die Identität der Opfer vollständig zu zerstören, waren nicht
sadistisch, sondern narzisstisch motiviert und führten
unweigerlich zur Selbstzerstörung als Person. Was eine »Person«
ausmacht, ist die Fähigkeit, über Gedanken, Erinnerung und
Gefühle zu verfügen. Arendt stellt fest, dass Eichmann
»hartnäckig ein Niemand bleibe«. Böse sei nicht die Absicht,
jemanden zu verletzen, sondern die Entscheidung, ein »Niemand« zu
sein, weil damit die Tür geöffnet werde, anderen Verletzungen
zuzufügen. Covington kritisiert an dieser Stelle, zu Recht,
Arendts Unterschätzung der unbewussten Kräfte: Den scheinbaren
»Eigensinn« des »Niemands« versteht sie als regressiven Sog zu
einem kollektiven Ich-Ideal, welches das Über-Ich überwältigt
hat. Dieser Sog wurzelt im narzisstischen Wunsch des Kindes, mit
der Mutter zu verschmelzen, um den Schmerz und die Frustration der
Trennung in der ödipalen Situation zu vermeiden.
Menschen wie Adolf Eichmann verfügen über keinen inneren Raum, in
dem sie einen inneren Dialog führen könnten, Gefühle sind
bedeutungslos, weil sie dissoziiert sind und vernichtet werden, nur
so kann ein »Niemand« Befehlen so fraglos folgen wie ein Automat,
der nach Freud (in »Das ›Unheimliche‹«) Widerwillen und Erschrecken
hervorruft. Im brillant analysierten Fallbeispiel einer (sozial
unauffälligen) Patientin, die sich vollkommen einem tyrannischen,
elterlich-kollektiven Über-Ich untergeordnet hat, zeigt sie die
potentiell in uns allen angelegte Eichmann-Mentalität auf.
Eichmann hat die depressive Position, und damit die Fähigkeit,
Schuld zu empfinden, offenbar nie erreicht. Nach Arendt liegt
Eichmanns Schuld darin, dass er sich eigensinnig weigerte, zu einer
Person zu werden. Aus Covingtons psychoanalytischer Sicht hatte er
keine Wahl. Auch ihre Patientin hätte sich ohne Analyse wohl nicht
aus ihrer höflichen, beflissenen Automaten-Rolle lösen können.
Erst ein »Riss im analytischen Rahmen«, den die Patientin als
furchtbare Drohung, als »das Ende von allem« erlebte, ermöglichte
es ihr, mit Hilfe ihrer Analytikerin zu einem »Jemand« zu werden.
Immerhin entschied sie sich zur Therapie.
Wenn die Autorin allerdings aus Eichmanns großer Besorgnis um Leben
und Wohlergehen seiner Familie folgert, dass er nicht in jeder
Hinsicht, sondern nur in bestimmten Bereichen ein »Niemand« gewesen
sei, komme ich auf der von ihr gelegten Spur zu einer anderen
Schlussfolgerung: Meiner Ansicht nach war seine Familie in sein
narzisstisches Universum mit eingeschlossen. Seine Besorgnis war
wohl eher (paranoide) Angst vor Vernichtung eines aufgeblähten
Größenselbst als (depressive) Sorge um das Objekt – im Sinne von
Winnicotts »concern«. Vermutlich waren seine Angehörigen für ihn
Selbstobjekte, die er nicht in ihrer Eigenständigkeit wahrnehmen
konnte, so dass er auch ihnen gegenüber keine Empathie aufbringen
konnte, genauso wenig wie gegenüber seinen Opfern und sich selbst.
Es wäre interessant zu erfahren, was aus Eichmanns Söhnen
geworden ist.
Ausgehend von der faszinierend-irritierenden Figur der Baubo und
anhand eines ausführlichen Fallbeispiels zeigen D. Holtzmann und
N. Kulish das breite Spektrum des »Weiblichen Exhibitionismus« auf,
indem sie dessen ursprünglich einseitig negative Sichtweise unter
dem Blickwinkel der primären Weiblichkeit beleuchten und als eine
Erscheinung beschreiben, die Verhaltensweisen von »pervers« bis
»gesund« umfasst, bestimmt von den zugrunde liegenden psychischen
Strukturen und dem sozialen Kontext, in dem sie auftauchen – m. E.
ein wichtiger Beitrag auf dem von K. Horney begonnenen Weg,
männliche und weibliche sexuelle Entwicklung als Parallelgeschehen
zu erfassen.
Unter dem poetischen Titel »Lady of the Woods« analysiert A. Tutter
kreativ und anregend das Werk Francesca Woodmans, illustriert mit
zahlreichen Selbstportraits der Fotografin, die von großer
Intensität, Sinnlichkeit, Schönheit, Zartheit und Empfindsamkeit
bis hin zu Verletzlichkeit geprägt sind. Im Anklang an die Figur
der Daphne aus Ovids Metamorphosen entdeckt die Autorin in den
rätselhaften und eindringlichen, zwischen Romantik und
Surrealismus angesiedelten Bildern Woodmans sowohl die adoleszente
Angst vor dem Verlust der kindlichen Allmacht als auch die
gefährliche und damit ebenfalls gefürchtete Anziehungskraft aller
seltsamen, intensiven und verwirrenden Aspekte weiblicher
Sexualität, deren Bewältigung im frühen Suizid der Künstlerin
wohl letztlich scheiterte. Außerordentlich erhellend ist für mich
N. Rays Essay über Peter Greenaways Film »The Pillow Book« (dt.
»Die Bettlektüre«), da er mit Hilfe der »Allgemeinen
Verführungstheorie« Laplanches Worte findet, die exakt das
diffus-verstörende Empfinden ausdrücken, das mich als Zuschauerin
des Films beschlich, besonders verdichtet in der Anfangsszene, in
der Gesicht und Nacken der Protagonistin an ihrem 4. Geburtstag vom
Vater mit Schriftzeichen bemalt werden – eine Szene, die geradezu
die »rätselhaften Einschreibungen« der Erwachsenen in das Kind
illustriert. In der Verbindung von Greenaways Film und Laplanches
Theorie eröffnete mir der Autor ein Verständnis für beide –
neben dem Beitrag von Covington der eindrücklichste in diesem
Band.
Schwerer tue ich mich dagegen mit dem Aufsatz B. Salomonssons zur
infantilen Sexualität, der allerdings – das muss ich der Fairness
halber erwähnen – von S. Heenen-Wolff in ihrem Vorwort lobend
hervorgehoben wird. Mich stört einfach, dass dieser schon 2011 in
der Kinderanalyse auf Deutsch erschienen ist, so dass ich hier
lieber einen anderen der Beiträge aus dem International Journal
gelesen hätte. Es ist ja das erklärte Ziel der Herausgeberinnen
dieser Bände, eine Auswahl der bislang nur in Englisch
erschienenen Aufsätze einem deutschsprachigen Publikum zugänglich
zu machen – was, wie sich auch in diesem Band insgesamt gesehen
wieder einmal bestätigt, einen Gewinn für die Psychoanalyse in
unserem Raum darstellt.
Der Band schließt mit R. Steiners wertschätzend-liebevollem
Nachruf auf Hanna Segal, den zu lesen trotz des traurigen Anlasses
ein Vergnügen ist, so lebendig wird die große Analytikerin in
ihrer Lebensfreude, Leidenschaft und Scharfsinnigkeit. Er zeigt,
wie sich in ihrer Person schöpferisches klinisches Arbeiten mit
bahnbrechender Theorieentwicklung sowie politischem Engagement
verknüpft.
Annegret Wittenberger, Kassel