Rezension zu Sexualität

Sexuologie. Zeitschrift für Sexualmedizin, Sexualtherapie und Sexualwissenschaft Band 21 Nr. 1–2/2014

Rezension von Stefan Timmermanns

Ilka Quindeau, Sexualität

Die Sexualität gilt als Schlüsselbegriff in der Psychoanalyse und ist zentral für die therapeutische Beziehung. Ausgehend von den Drei Abhandlungen Freuds stellt die Autorin die Grundlagen der psychoanalytischen Sexualtheorie dar und diskutiert, wie die Lust in den Körper kommt, was man heute unter männlicher und weiblicher Sexualität versteht, ob eine Unterscheidung von Hetero- und Homosexualität sinnvoll ist und wie in Therapien über Sexualität gesprochen werden kann. Quindeau ist Psychologin und Soziologin und arbeitet als Psychoanalytikerin und Lehranalytikerin in eigener Praxis sowie als Professorin für Klinische Psychologie und Psychoanalyse an der Fachhochschule Frankfurt am Main. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten gehören neben der Geschlechter- auch die Biografie- und Traumaforschung.

Freuds Sexualitätskonzept revisited
Quindeau bescheinigt Freud ein breit angelegtes Sexualitätskonzept, das das sexuelle Erleben und Verhalten nicht bewertet. Zentrale Thesen in den Abhandlungen sind, dass der Trieb sowie die Zweizeitigkeit der Sexualentwicklung unabhängig vom Objekt existieren: zuerst in der Kindheit, dann in der Pubertät. Das Begehren ist von Grund auf konflikthaft angelegt und dem bewussten Zugriff weitgehend entzogen. Im Laufe der psychosexuellen Entwicklung erwirbt das Kind verschiedene Modalitäten der Befriedigungssuche, die polar als Gegensatzpaar von Aktivität und Passivität organisiert sind. Zu diesen Befriedigungsmustern gehören: Oralität (Einverleiben – Verschlungenwerden), Analität (Festhalten – Loslassen), Phallizität/Genitalität (Eindringen – Aufnehmen). Die biologischen Anlagen werden im Verlauf der Lebensgeschichte überformt. Das Verständnis von Sexualität als einem genetischen Programm zieht normative Setzungen nach sich: Das Verhalten muss sich messen lassen an Reproduktion und Heteronormativität. Der heterosexuelle Koitus ist die Norm, alles andere stellt eine Abweichung dar. Diesem allgemeinen Verständnis folgt die Autorin nicht, was weiter unten noch genauer ausgeführt wird.

Quindeau greift in ihrem Buch die Allgemeine Verführungstheorie von Jean Laplanche auf. Das Begehren des Kindes wird nicht von innen heraus als biologische Anlage entwickelt, sondern es kommt von außen und entsteht aus dem Begehren der Eltern, die sich dem Kind zuwenden. Diese sexuelle Dimension der Zuwendung ist den Eltern nicht bewusst. In der Konfrontation des Kindes mit dem unbewussten Begehren der Erwachsenen senden diese sogenannte rätselhafte Botschaften, die der Säugling nicht verarbeiten kann. Diese schreiben sich in die entstehende psychische Struktur des Säuglings ein. Das Begehren des Anderen erhält eine konstitutive Bedeutung für den Säugling, die Quindeau in Anlehnung an René Descartes’ berühmten Satz wie folgt umformuliert: »desideratus ergo sum«. In Form einer Erinnerungsspur wird das primäre Befriedigungserlebnis in den kindlichen Körper eingeschrieben.

Die Herausbildung erogener Zonen wird durch Reizungen an Haut- oder Schleimhautstellen hervorgerufen, die zu Lustempfindungen führen. Als Beispiel nennt die Autorin das Stillen, bei dem Lippen und Mund zu erogenen Zonen werden. Die sexuelle Erregbarkeit gründet also wesentlich in unbewussten Erinnerungen und wird weniger durch besondere physiologische Bedingungen bestimmt. Die Stimulierung von erogenen Zonen kann erheblich von Phantasien und Erinnerungen ausgelöst werden. Auf den Punkt gebracht könnte man sagen: Lust entsteht in erster Linie im Kopf und nicht durch Reibung an den Genitalien.

In der Adoleszenz wird aus der infantilen langsam eine erwachsene Sexualität. Dazu ist eine Veränderung nötig. Die in der Kindheit erworbenen Befriedigungsmuster werden im Verlauf der Lebensgeschichte fortwährend umgeschrieben. Die Befriedigungsmuster sind dem Körper eingeschrieben und bilden eine Art Körpergedächtnis, das den Rahmen für die Umschriften vorgibt. Der Ödipuskomplex ist dabei ein zentraler Knotenpunkt in der sexuellen Entwicklung. In der phallischen Phase eignet sich das Kind aktiv an, was ihm bisher passiv widerfahren ist. Die Eigenschaften von Mund, Anus, Urethra und Phallus werden integriert in eine Repräsentanz und phantasmatisch aufgeladen. Jungen haben dabei große Schwierigkeiten sich ihre innere Genitalität anzueignen. Dies hängt mit der Abwehrorganisation innergenitaler Empfindungen des Mannes zusammen, die ihren Ursprung darin hat, dass die inneren Genitalien mit Weiblichkeit gleichgesetzt werden. Daraus entstehen Ängste der Männer sich ihre passiven sexuellen Wünsche einzugestehen, weil sie aus ihrer Sicht unmännlich oder »schwul« sind.

Geschlechtliche und sexuelle Vielfalt
Quindeau begreift Geschlecht als ein Kontinuum. Die dichotome Unterteilung in männliche und weibliche Sexualität suggeriert ihrer Auffassung nach lediglich eine klare Abgrenzung. Dennoch leugnet die Autorin nicht die Unterschiede in der Sexualität von Männern und Frauen, die durch geschlechtsspezifisch aufgeladene Sozialisation entstehen.

Aufgrund der bisexuellen Identifizierung des Kindes stehen zunächst beide sexuellen Orientierungen nebeneinander. Eine davon wird manifest, die andere ins Unbewusste verdrängt und ist dort weiter wirksam. Eine Veränderung der sexuellen Orientierung ist jedoch grundsätzlich in jedem Lebensalter möglich.

Die Befriedigungsmodalitäten des Eindringens, des Aufnehmens und Verschmelzens verteilen sich nicht entlang der Geschlechtergrenzen, sondern sind in jeder Person individuell angesiedelt. Sowohl beim Mann als auch bei der Frau handelt es sich vielmehr um ein fließendes Wechselspiel von Eindringen und Aufnehmen. Quindeau weist darauf hin, dass aktive und passive Lustmodalitäten bei beiden Partnern zusammengedacht werden müssen. Dabei sind Penetration und Einverleibung nicht zwingend an die Genitalien gebunden, sondern können auch an anderen Körperteilen inszeniert werden, die eine Öffnung darstellen oder ein Eindringen ermöglichen.

Zur Entstehung von Homosexualität referiert die Autorin unterschiedliche Erklärungsmodelle aus der Fachliteratur. Sie betont aber, dass derzeit keine allgemeingültige Erklärung existiere. Aus ihrer Sicht gibt es keine zwingenden Gründe, warum sich ein Individuum hetero- oder homosexuell entwickelt. Die Entwicklung sexueller Orientierung lasse sich stets nur im Einzelfall nachträglich rekonstruieren. Dabei sieht Quindeau die Heterosexualität als genauso erklärungsbedürftig wie alle anderen Ausprägungen an. Ferner stellt die Psychologin den Sinn einer Kategorisierung in Hetero- und Homosexualität in Frage. Stattdessen plädiert sie für eine Sexualität mit verschiedenen, polarisierten Dimensionen, die in jedem Menschen vorhanden sind.

Sexualität und Psychotherapie
Quindeau weist darauf hin, dass die Thematisierung des Sexuellen für das therapeutische Setting sehr wertvoll ist, weil dadurch unbewusste psychische Konflikte zum Ausdruck kommen. Diese Konfliktmuster sind oftmals erst dann im analytischen Dialog zugänglich und bearbeitbar. Die Tendenz zur Dethematisierung des Sexuellen in therapeutischen Settings sei daher kontraproduktiv. Auch manche sexuelle Störungen können dadurch besser behoben werden. Die Therapeutin kritisiert in diesem Zusammenhang aktuelle Entwicklungen in der Sexualmedizin. Der Begriff der Funktionsstörung verweise auf ein mechanistisches Verständnis von Sexualität, das sich am Ideal der Machbarkeit orientiere. Im sexuellen Symptom manifestiere sich jedoch oft ein grundlegendes Beziehungsmuster, das nicht isoliert betrachtet werden und dessen Ursache auch mit Viagra nicht behandelt werden könne. Am Beispiel der Erektionsstörung bei Männern macht Quindeau deutlich, dass es hier oft um die Integration der als bedrohlich erlebten weiblichen Anteile gehe. Die Ausblendung der inneren Genitalität des Mannes führe in manchen Fällen dazu, dass die männliche Sexualität um ihre rezeptive und produktive Seite reduziert und damit gleichsam halbiert werde.

Mit ihrer Anknüpfung an Pfannenschmidts Idee eines »Übertragungsraums« als ein Raum, in dem das Begehren von Analysandinnen und Analysanden zur Therapeutin oder zum Therapeuten zur Sprache gebracht werden kann, zeigt sie eine konkrete Möglichkeit des Umgangs mit sexuellen Themen im therapeutischen Setting auf. Selbstverständlich weist die Autorin darauf hin, dass dieses Begehren in keiner Weise konkret werden darf. Aber dadurch, dass es ansprechbar wird, wird es überhaupt möglich, es für den weiteren Verlauf der Therapie zu nutzen. Es geht Quindeau darum, in der Therapie Übertragung und Gegenübertragung reflektiert zu nutzen und bestehende Ängste auf Seiten der Analytiker/innen zu mindern.

Diskussion
Die Sicht der Psychoanalyse auf die menschliche Sexualität ist immer noch von vielen Missverständnissen und der Ansicht geprägt, dass Freuds Theorien heute als widerlegt gelten. Quindeau räumt mit diesen Vorurteilen auf und ruft in Erinnerung, dass ein wichtiges Verdienst der Psychoanalyse die Überwindung des Dualismus von Körper und Seele ist. Die Autorin trägt zudem dazu bei, die aktuelle Debatte um sex und gender in die psychoanalytische Forschung und Praxis zu transportieren. Eine der Kernbotschaften des Buches lautet, dass genetische oder biologische Theorien nicht das entscheidende Kennzeichen menschlicher Sexualität erklären können: die Unabhängigkeit sexueller Erregung von sinnlicher Wahrnehmung. Diese entsteht eben nicht nur durch sinnliche Wahrnehmung, sondern erst durch Erinnerungen und Phantasien. Wichtig in diesem Zusammenhang ist auch die Erkenntnis, dass die Befriedigung der Lust vorausgeht. Nur so wird auch das Primat des Anderen in der Entwicklung des Subjekts verständlich. Die Lust entwickelt sich nicht »natürlich« aus den biologischen Anlagen des Säuglings, sondern wird von den primären Bezugspersonen unbewusst in das Kind hineingeschrieben. Grundlage hierfür sind soziale Interaktionen. Ein Grund mehr, der für eine sexual- und körperfreundliche Erziehung von frühester Kindheit an spricht, die nicht mit einer »Frühsexualisierung« verwechselt werden darf.

Genauere Informationen hätte man sich über die Zentren der Genitalerotik bei Frauen und Männern gewünscht. Neben dem Penis wird von der Autorin der Colliculus seminalis als bedeutungsvoll für die innergenitale Empfindung des Mannes erwähnt. Was genau damit gemeint ist, bleibt nach der Lektüre unklar. Welche Rolle genau spielt in diesem Zusammenhang der Musculus pubococcygeu (Beckenbodenmuskel)? Auch die Erkenntnisse über die innen liegenden Schwellkörper der Klitoris sowie die weibliche Prostata, die unter anderem von Angelika Beck veröffentlicht wurden, hätten Berücksichtigung finden können, um zu einem genaueren Verständnis des weiblichen Empfindens beizutragen.

Fazit
Das Buch ist gut lesbar und an der einen oder anderen Stelle mit einem ironischen Augenzwinkern geschrieben. So schreibt die Autorin bezugnehmend auf den aus der Entwicklungspsychologie stammenden Begriff des »kompetenten Säuglings«: »Auch wenn sich all diese Verhaltensweisen zweifellos bei Säuglingen beobachten lassen, liest sich diese Aufzählung [...] fast wie eine Stellenbeschreibung für Führungskräfte«.

Das Verständnis der Autorin von Geschlecht und Sexualität als Kontinuum macht das Buch sehr wertvoll und interessant für alle, die eine neutralere, wertfreie Sicht auf geschlechtliche und sexuelle Vielfalt haben. Quindeau schafft so ein theoretisches Gebäude, das (nicht nur) Psychoanalytikerinnen und -analytikern eine weniger normierende und defizitäre Sicht auf Homo- und Bisexualität ermöglicht. Dies könnte zu einer Entspannung in den Therapien von Homo- und Bisexuellen beitragen. Auch der Debatte um das Angeborensein oder den Erwerb der sexuellen Orientierung wird das Buch neue Anstöße geben. Die Autorin geht davon aus, dass eine Veränderung der sexuellen Orientierung prinzipiell in jedem Alter möglich ist, da sexuelle Skripte nicht in Stein gemeißelt sind, sondern prinzipiell umgeschrieben werden können. Die spannende Frage, wodurch genau eine solche Umschreibung geschieht und inwieweit dieser Prozess beeinflussbar ist, bleibt jedoch unbeantwortet.

Quindeaus Plädoyer für eine stärkere Thematisierung der Sexualität in therapeutischen Settings ist hilfreich, denn Sexualität kann tatsächlich als Seismograph dienen, der Bewegungen in Tiefenschichten sichtbar macht. Bestimmte Konflikte können auf diese Weise erst erkannt und bearbeitet werden. Voraussetzung dafür ist ein reflektierter Umgang mit dem Thema Sexualität sowie den eigenen Werthaltungen. Die Lektüre des Buches bietet zahlreiche Gelegenheiten diesem Ziel ein Stück näher zu kommen.

Stefan Timmermanns (Frankfurt/Main)

www.sexuologie-info.de

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