Rezension zu Heterosexuelle Normalität oder sexuelle Lebensqualität? Behandlungsziele im Wandel (PDF-E-Book)
literaturkritik.de Nr. 9, September 2014
Rezension von Heinz-Jürgen Voß
Auf Lebensqualität orientieren
Eine Ausgabe der Zeitschrift »psychosozial« informiert über
Intersexualität
Von Heinz-Jürgen Voß
Das Heft 135 (37. Jahrgang, 1. Heft 2014) der Zeitschrift
»psychosozial« wendet sich im Schwerpunkt dem Thema
»Intersexualitäten« zu. Der von Ada Borkenhagen und Elmar Brähler
herausgegebene Band enthält sieben Beiträge zum Schwerpunkt, auf
die drei weitere Beiträge im freien Teil und abschließende
Rezensionen folgen.
In den ersten beiden Beiträgen zeichnen Konstanze Plett und Evelyn
Kleinert die Entwicklungen bezüglich Intersexualität seit 2012
nach. Sie diskutieren die Stellungnahme des Deutschen Ethikrates,
stellen die wesentlichen Ergebnisse und die Lücken vor. Evelyn
Plett problematisiert die Unterscheidung des Ethikrates von »AGS-
und anderen DSD-Betroffenen«, wodurch letztlich eine
»Vorentscheidung für die Beurteilung medizinischer Interventionen
getroffen« werde. Der Ethikrat gehe mit dieser Unterscheidung davon
aus, dass bei AGS-Betroffenen das Geschlecht eindeutig sei. Auf
dieser Grundlage könnten »geschlechtsvereindeutigende« Maßnahmen
(solche, »die darauf abzielen, anatomische Besonderheiten der
äußeren Geschlechtsorgane, die bei ansonsten eindeutiger
geschlechtlicher Zuordnung bestehen, an das existierende Geschlecht
anzupassen«) leichter – und wenig problematisiert – stattfinden,
während Eingriffe, die darauf zielen, einen geschlechtlichen
»Zwischenzustand« zu beenden – »geschlechtszuordnend[e]« Eingriffe
– stärker sanktioniert würden. Neben solch wichtigen aktuellen
Implikationen zeigt Plett auch auf, dass seit 1876 zwar das
Geschlecht durch die Standesämter als Personenstand erfasst wurde,
dass aber erst seit 2010 (!) normativ im Gesetz festgeschrieben
sei, dass dies nur als »weiblich« oder »männlich« erfolgen könne.
Plett vollzieht anschaulich den Verlauf nach, an dessen Ende – nun
gültig – eine Regelung steht, die bestimmt, dass der
(binär-eindeutige) Geschlechtseintrag entfallen soll, wenn das Kind
weder dem »männlichen« noch dem »weiblichen« Geschlecht zugeordnet
werden kann.
Evelyn Kleinert holt im Folgenden auch die Positionen aus
Selbstorganisationen intergeschlechtlicher Menschen in den Blick
und zitiert ausführlich die erste Vorsitzende des Vereins
Intersexuelle Menschen e.V., Lucie Veith. Kathrin Zehnder
diskutiert die Stellungnahme des Deutschen Ethikrats im Kontext mit
der der Schweizerischen Nationalen Ethikkommission. Dabei schält
sie insbesondere Ähnlichkeiten heraus, die etwa Fragen des
Kindeswohls und der Schaffung geeigneter Kompetenzzentren
betreffen. Der darauf folgende Beitrag »Reden wir wirklich vom
Gleichen?« ist im Sinne einer transdisziplinären Diskussion
gehalten. Es werden dort Konzepte von Multi-, Inter- und
Transdisziplinarität verhandelt, wobei Transdisziplinarität
bedeutet, dass nicht nur Grenzen zwischen Disziplinen fluide werden
und so Neues entstehen kann, sondern dass auch die Grenzen zwischen
Fachexpertise und »Betroffenen«-Expertise verschwimmen. Der Beitrag
ist sehr produktiv, gerade weil Perspektiven von Fachexpert_innen
und von Selbstorganisationen zusammen kommen – und auch direkt in
der Autor_innenschaft des Beitrags benannt sind. Zugleich handelt
es sich um schweizerische Autor_innen, so dass der Beitrag von
Zehnder als konsistentes Bindeglied zwischen BRD- und
Schweiz-Diskurs deutlicher wird. Abgeschlossen wird der Schwerpunkt
mit drei Beiträgen von sozialwissenschaftlichen und medizinischen
Fachwissenschaftler_innen.
Im ersten stellt Katja Sabisch, anknüpfend an die
Masterarbeits-Ergebnisse von Anike Krämer, Interview-Ergebnisse mit
Eltern dreier intergeschlechtlicher Kinder vor. Die Ergebnisse
geben ein Indiz dafür, dass ein »doing inter« im Alltag möglich
ist. In den folgenden beiden Beiträgen diskutieren
Wissenschaftler_innen aus der Forschungsgruppe um Hertha
Richter-Appelt frühere eigene Forschungsvorannahmen kritisch.
Katinka Schweizer zeigt, dass in psychoanalytischen Perspektiven
auch »multigeschlechtlich« gedacht werden kann und nicht nur
dichotom. Verena Schönbucher et al. wenden sich dagegen,
»heterosexuelle Normalität« als Maßstab für medizinische
Behandlungen zu setzen und plädieren dafür, sich stattdessen
individuell auf »sexuelle Lebensqualität« zu orientieren.
Insgesamt ist die Ausgabe der Zeitschrift »psychosozial« sehr
lesenswert. Sie gibt einen guten Abriss über aktuelle Diskussionen
um Intersexualität und bringt punktuell neue Perspektiven und
Ergebnisse ein. Auch die übrigen Beiträge sind zu empfehlen, etwa
der von Ulrike Mensen, in dem sie Depression im Kontext
neoliberaler gesellschaftlicher Entwicklungen diskutiert.
www.socialnet.de/