Rezension zu Die Erfindung des Traumas (PDF-E-Book)
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Rezension von JProf. Dr. David Zimmermann
David Becker: Die Erfindung des Traumas
Thema
David Beckers Band mit dem zunächst irritierenden Titel »Die
Erfindung des Traumas« ist in einer Neuauflage im
Psychosozial-Verlag erschienen und hat gleichermaßen seit der
Ersterscheinung im Jahr 2006 nicht an Aktualität eingebüßt. Im
Mittelpunkt von Beckers Überlegungen stehen schwer traumatisierte
Menschen, etwa Opfer von politischer Verfolgung, Folter und
erzwungener Migration. Der Mainstream des internationalen
Traumadiskurses, so analysiert es der Autor, fokussiere nunmehr auf
die betroffenen Individuen und deren so genannte posttraumatische
Belastungsstörungen. »Die Erfindung des Traumas« hingegen lenkt den
Blick auf »sozialpolitisch verursachte Traumatisierungen« (S.8),
demnach auf die Rahmenbedingungen hoch beeinträchtigter
individueller, familiärer und gruppenbezogener Entwicklungen.
Autor
David Becker, Psychologe und Sozialpsychologe, berät primär
psychosoziale Projekte in Kriegs- und Krisengebieten. Er ist damit
zum Experten für die Traumaarbeit internationaler Regierungs- und
Nichtregierungsorganisationen geworden, betrachtet diese gleichwohl
aus einer kritischen Distanz. Seine eigene langjährige Praxis in
der Beratung und Therapie von politisch verfolgten Menschen in
Chile, teils bereits während der Pinochet-Diktatur, bildet die
Reflexionsfläche seiner theoretischen Überlegungen. »Psychisches
Leid ist nie unabhängig vom sozialen Kontext zu verstehen und zu
behandeln« (S. 26). Dies erscheint als Kernbotschaft von Beckers
Buch.
Aufbau und Inhalt
Die vorliegende Monografie ist in vier Hauptteile gegliedert.
Im ersten Teil, überschrieben mit »Trauma und Bindung«, beschreibt
Becker therapeutische Prozesse mit politisch verfolgten Menschen in
Chile. Dabei ist es ihm wichtig, dass sowohl die unmittelbare
menschliche Beziehung, namentlich die des Klienten zum Therapeuten,
als auch die größeren sozialen Rahmenbedingungen Grundvariablen für
gelingende therapeutische Prozesse sind. Auch die Analyse gestörter
familiärer Interaktionsmodi aufgrund von Verfolgung einzelner
Familienmitglieder nimmt Becker sehr intensiv und eindringlich
vor.
Bezug nehmend auf Aspekte der griechischen Mythologie gibt Becker
im zweiten Teil »Traumatische Prozesse und Gesellschaft« einen
Überblick, wie stark individuelle, langfristige traumatische
Prozesse einerseits und gesellschaftliche Erinnerungs- und
Aufarbeitungsprozesse andererseits in Verbindung stehen. Im
Hinblick auf die deutsche sozialpolitische Realität meint Becker,
dass Erinnerung an die deutsche Geschichte und Umgang mit heutigen
Flüchtlingen in einem engen Verhältnis zueinander stehen. Ein
hochaktueller Gedanke.
Im dritten Teil »Die Erfindung des Traumas« erneuert Becker seine
Kritik am psychiatrischen Modell der posttraumatischen
Belastungsstörung. In Erweiterung des psychosozialen Rahmenmodells
»Sequentielle Traumatisierung« von Hans Keilson entwickelt er eine
sechsphasige Traumakonzeption, vor deren Hintergrund sich
traumatische Prozesse politisch verfolgter und geflüchteter
Menschen im gegebenen gesellschaftlichen Kontext nachvollziehen
lassen. Die einzelnen Sequenzen werden dabei als kritische Phasen
im traumatischen Prozess gekennzeichnet, die spezifische
Herausforderungen mit sich bringen. Mit dem Titel »Die Erfindung
des Traumas« kann es, so ist Becker zu verstehen, demnach nicht um
eine Fundamentalkritik an jeglicher Traumakonzeption gehen. Die
Einengung auf einen individualisierten Traumafolgeverlauf, wie ihn
die psychiatrischen Klassifikationen nahelegen, kritisiert Becker
in diesem Sinne jedoch als »Erfindung«.
Im letzten Teil »Trauma und kulturelle Differenz« greift Becker auf
seine vielfältigen Erfahrungen in psychosozialen (Hilfs-)Projekten
zurück. Es zeigt sich, dass die individuell orientierte, scheinbar
unpolitische Hilfe eine Sackgasse auch für die zwischenmenschlichen
Aspekte mit sich bringt. Im Rückgriff auf Edward Saids Thesen
vertritt er die Ansicht, der individualisierte, pathologisierende
Traumadiskurs sei ein Teil kulturalistischer und imperialer
Überformung. Die völlig unterschiedlichen Interessen der
Betroffenen in den jeweiligen Ländern würden dabei weitgehend
ignoriert.
Diskussion
David Beckers Buch stellt einen hoch bedeutsamen Beitrag zur
unübersichtlich gewordenen Diskussion um Traumatisierungen dar.
Zwar wird mittlerweile auch an anderen Stellen auf die Beziehungs-,
teils auch auf die sozialpolitische Komponente von Traumatisierung
verwiesen. Dennoch: in dieser Dichte, aufgrund der Fallgeschichten
auch emotional, liegen nur wenige Publikationen vor, die die
Weiterentwicklung der Traumatheorie und -arbeit so prägen dürften.
Beckers Kritik an der Arbeitsweise und Organisationsform
internationaler Zusammenarbeit scheint vielfach berechtigt, auch,
wenn dies sicher nicht auf jede einzelne Institution zutrifft. Das
von Becker weiterentwickelte Modell der Sequentiellen
Traumatisierung kann, so sagt es der Autor selbst, auf verschiedene
sozialpolitische Rahmenbedingungen übertragen werden. Es bedarf
gleichermaßen stets einer intensiven und zeitaufwändigen Analyse
der individuellen und sozialen Leidensgeschichte. Geschieht dies,
kann nicht mehr per se von posttraumatischen Belastungen gesprochen
werden, vielmehr muss die Aktualität der traumatisierenden Realität
in den Blick genommen werden.
Fazit
Für Entscheidungsträgerinnen in NGOs und politischen Gremien sollte
David Beckers Buch zur Standardlektüre werden. Auch für den großen
und wachsenden Bereich der traumabezogenen psychosozialen Arbeit
(Therapeut_innen, Pädagog_innen, Berater_innen) bieten Beckers
Aussagen viele wichtige Anregungen. Denn sie hinterfragen die
Klassifizierbarkeit menschlicher Entwicklung in Folge von
Belastungsereignissen, professionelle, hierarchische Denkmuster und
insbesondere die meist als unveränderliche Realität hingenommenen
Rahmenbedingungen.
Rezensent
JProf. Dr. David Zimmermann, Juniorprofessor für Pädagogik bei
Verhaltensstörungen, Leibniz Universität Hannover, Institut für
Sonderpädagogik
Zitiervorschlag
David Zimmermann. Rezension vom 19.09.2014 zu: David Becker: Die
Erfindung des Traumas. Psychosozial-Verlag (Gießen) 2014. 2.
Auflage. 313 Seiten. ISBN 978-3-8379-2396-4. In: socialnet
Rezensionen, ISSN 2190-9245,
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