Rezension zu Veränderungspotenziale in Krankenhausorganisationen
Gesundheitswesen 2014 76 (08/09)
Rezension von Prof. Dr. Michael Wessels
Veränderungspotenziale in Krankenhausorganisationen – Formalität
und Informalität in nordostdeutschen Krankenhäusern
Die Krankenhäuser in Deutschland befinden sich nicht zuletzt seit
der Umstellung auf das pauschalierte Vergütungssystem der Diagnosis
Related Groups (DRCs) im Zuge des Gesundheitsreformgesetzes
(GKV-GRG) im Jahr 2000 in einem sich verschärfenden
Wettbewerbsumfeld. Sie agieren in einem Spannungsfeld von
qualitativ hochwertiger Versorgung der Patienten auf der, einen
Seite und ökonomisch notwendiger Effizienzverbesserungen auf der
anderen Seite. Weitgehend unerforscht Ist die Frage, welchen
Einfluss informelle Aspekte in Veränderungsprozessen auf formale
Strukturen in Krankenhäusern haben. Welche Auswirkungen haben
informelle Initiativen auf Krankenhäuser? Welche informellen
Aspekte können identifiziert werden? Wie durchdringen informelle
Aspekte die formalen Strukturen einer Organisation und wie können
sie in Abhängigkeit Ihres Erfolgs institutionalisiert und damit
formalisiert werden? Diese Fragen spielen bislang in
Entscheidungsprozessen, insbesondere in Krankenhäusern eine
nachgeordnete Rolle, weil sie noch weitgehend unerforscht sind. Vor
diesem Hintergrund verfolgen Crojethovic et al. das Ziel, diese
theoretischen Fragen »zum Verhältnis zwischen Formalität und
lnforrmalität« (S. 8 f.) empirisch zu beleuchten. Das Buch ist
zweigeteilt in eine theoretische Fundierung einerseits und eine
empirische Analyse andererseits, im theoretischen Teil werden
einleitend die Dimensionen der Organisation dargestellt, indem die
Autoren zunächst auf komplexe Organisation und die Bedeutung der
Organisationskultur eingehen, bevor eine Einordnung formeller
versus informeller Organisationsanalysen in der Theorie vorgenommen
wird. Auf dieser Grundlage erfolgt im 2. Kapitel eine Übertragung
auf den Krankenhaussektor, indem die Komplexität einer
Krankenhausorganisation umfassend dargestellt wird. Hierzu
fokussieren die Autoren zunächst die Aufbauorganisation von
Krankenhäusern, bevor sie auf die jeweiligen Akteure eingehen.
Dabei werden differenziert die Rolle des ärztlichen Personals, des
pflegerischen Personals sowie der Verwaltung dargestellt. Ergänzend
werden die Arbeitsbedingungen pflegerischen und ärztlichen
Krankenhauspersonals dargestellt, indem Jeweils die besonderen
Anforderungen und Belastungen der Berufsgruppen aufgezeigt werden.
Im 3. Kapitel wird schließlich als Vorbereitung für die empirische
Untersuchung eine umfassende Darstellung der
Krankenhausorganisation unter DRG-Einfluss vorgenommen Hierzu
werden zunächst zentrale Kennzahlen präsentiert: Krankenhäuser,
Bettenzahlen, Trägerschaften, Verweildauer, Fallzahlen und
Personalstruktur. Ein angemessen kurzer historischer Abriss zur
Entwicklung der Vergütungssysteme im Krankenhaussektor sowie die
Darstellung der Zielsetzung bei der Implementierung der
DRG-Vergütung bereiten eine Analyse der Auswirkungen des
DRG-Vergütungssystems vor. Dabei benennen Crojethovic et al.
deutlich Fehlanreize der DRGs, wie beispielsweise »medizinisch
nicht indizierte Operationen, eine erhebliche Fallzahlsteigerung,
eine postulierte vorsätzliche Falschkodierung von Fällen und eine
zu frühe Überleitung von Patienten« (S. 67). Darüber hinaus stellt
das Autorenteam »die Auswirkungen des DRG-Systems auf die
Organisationsbeziehungen innerhalb und zwischen den Krankenhäusern
auf Grundlage der DRG-Begleitforschung« (S. 76) dar. Positiv
hervorzuheben ist die sich anschließende dezidierte Darstellung der
Auswirkungen der DRGs auf die (im zweiten Kapitel vorbereitend
dargestellten) Akteure im Krankenhaus: Ärztinnen und Ärzte sowie
Pflegende. Der empirische Teil beginnt im 4. Kapitel mit der
Darstellung der Methodik: Zunächst wird das methodologische Design
(standardisierter Fragebogen und leitfadengestützte
Experteninterviews) vorgestellt, das eine quantitative und eine
qualitative Erhebung umfasst. Die umfassende Darstellung der
Ergebnisse folgt im 5. Kapitel. Im Ergebnisteil werden die
Ergebnisse vorrangig in Tabellenform, ohne grafisch optische
Spielerei präsentiert. Der qualitative Teil umfasst
(erwartungsgemäß) eine Vielzahl von wörtlichen Auszügen aus den
Interviews. Am Ende des qualitativen Teils präsentiert das
Autorenteam eine sehr gute tabellarische Übersicht, in der die
umfangreichen Ausführungen präzise und übersichtlich
zusammengefasst werden. Diese Tabelle ermöglicht dem Leser einen
schnellen Einstieg in die empirischen Ergebnisse des qualitativen
Teils. Hier weisen die Autoren neben einer spezifischen Diskussion
explizit auf bestehende Limitationen ihrer Studie vor. Die
Bezugnahme auf empirische Ergebnisse aus Argentinien und deren
angenommene Relevanz für nordostdeutsche Krankenhäuser erscheint
auf den ersten Blick befremdlich. Im Verlaufe der Ausführungen
gelingt es Crojethovic et al. aber, deutlich zu machen, dass es
hier nicht um einen Vergleich der Gesundheitssysteme bzw. der
Strukturen im Krankenhaussektor in Deutschland und Argentinien
geht, sondern vielmehr um die Identifikation und Interpretation von
informellen Handlungen bzw. Initiativen geht, die durch
Veränderungsprozesse initiiert werden. Im Ergebnis ging es darum,
zu verifizieren, ob die in argentinischen Krankenhäusern erzielten
Ergebnisse so auch in nordostdeutschen Krankenhäusern zutreffen
würden. Die empirische Eingrenzung auf nordostdeutsche
Krankenhäuser mag ebenfalls zunächst verwundern, ist aber vor dem
Hintergrund bislang fehlender empirischer Evidenz und begrenzter
Ressourcen in Forschungsvorhaben unmittelbar einsichtig.
Insgesamt gelingt den Autoren – trotz bestehender und offen
kommunizierter Limitationen – eine nachvollziehbare und relevante
Schaffung empirischer Evidenz, die in der Form so bislang nicht
existiert hat. insofern wird (empirisches) Neuland betreten, das zu
weiterer Forschung anreizt und deren Notwendigkeit deutlich
macht.
Prof. Dr. Michael Wessels, Rheine
DOI: 10.1055/s-0034-1389940
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