Rezension zu Schatten des Schweigens, Notwendigkeit des Erinnerns

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Rezension von Prof. Kurt Witterstätter

Christa Müller: Schatten des Schweigens, Notwendigkeit des Erinnerns

Thema
Heutzutage ist es selbstverständlich, Beteiligte an Katastrophen psychologisch zu begleiten und ihre Traumata therapeutisch aufzuarbeiten. Bei Zeitzeugen und Opfern der Jahrtausendkatastrophe Zweiter Weltkrieg geschah dies nicht. Gerade auch für Kinder waren Kampfhandlungen, Bombennächte, Vertreibung, Flucht, Hunger, Tod und Not einschneidende Erlebnisse. Christa Müller bringt mit ihren im Psychosozial-Verlag Gießen erschienenen Interviews bei 72 einstigen Weltkriegskindern »Schatten des Schweigens, Notwendigkeit des Erinnerns« Licht in dieses Dunkel. Sie untersucht die »schwarzen Löcher« mit zwei Fragestellungen: Welche Auswirkungen hatte das Weltkriegserleben auf das Geschichtsbild und sodann auf die psychische Gesundheit der zum Interview-Zeitpunkt 2005/2006 nunmehr 60- bis 75jährigen seinerzeitigen bis 15-jährigen Kleinkinder?

Autorin
Diplom-Psychologin Dr. phil. Christa Müller arbeitet in München als Psychoanalytikerin, Psychologische Therapeutin sowie als Kinder-, Jugend-, Erwachsenen-, Paar- und Familientherapeutin. Daneben ist sie tätig als Dozentin und Institutsangehörige an der Akademie für Psychoanalyse und Psychotherapie in München. Auch beteiligt sie sich als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Projekt Münchener Kriegskinder.

Aufbau und Inhalt
Der Band »Schatten des Schweigens, Notwendigkeit des Erinnerns« bettet die unter Einzelaspekten heraus gefilterten Interviewauszüge der Befragten in das wissenschaftstechnisch erforderliche Erkenntnisraster ein.

Nach einer zeithistorischen Besinnung zur Aufarbeitung der NS-Vergangenheit werden erste Forschungsaspekte zu den Erlebnisumständen der Kindheit in Kriegs- und Nachkriegszeit skizziert. In diesen Forschungsskizzen werden sodann nach dem Theoretical Sampling qualitative Stichproben aus tausend Personen einer medialen Fragebogenaktion ermittelt. Hieraus bildeten sich Grobkategorien für die untersuchten Phänomene. Mit ihnen wurden die Interviews in den Räumen München (62 an der Zahl) und Stralsund (dort 12) geführt.

Die Auswertung dieser dann bei insgesamt 72 vorhandenen Interviews erfolgte anhand von Material-Strukturierungen in vier Stufen:

Zuerst wurden im Forscher-Gruppendiskussionsverfahren Vergleichsdimensionen entwickelt (Vater-, Muter-, Selbstbild, NS/Holocaust, Kriegserlebnis, Nachkriegszeit). In einer zweiten Stufe erfolgten auswertende Textanalysen und Vergleiche zu einer zweiten Ausdifferenzierung der Typen Vaterbild, Mutterbild, Selbstbild, Kriegserlebnisse, NS-System, Holocaust und Nachkriegszeit. Die dritte Stufe der Auswertung diente der Bildung inhaltlicher Zusammenhänge und von Typen der Verarbeitung des Erlebten. Die vierte Stufe brachte psychoanalytische Einzelfalluntersuchungen unter den Rastern weniger oder stärker ausgeprägter Lebensfolgen, der Verarbeitung mittels Therapie und den lebenslangen Folgen aus dem Vaterverlust. Die Ergebnisse werden abschließend diskutiert und zusammengefasst unter den Aspekten unauslöschlicher Bilder und Erinnerungen, Leerstellen, belastenden Vater- und Mutter-Bildern, schwieriger Nachkriegszeit sowie dem Umgang mit Holocaust und NS-Zeit. Hier stellte sich heraus, dass viele Kriegskinder lebenslange Schädigungen davon getragen haben.

Eine Aufarbeitung fand kaum statt: Zum einen aus Gründen der psychischen Stabilisierung mittels Abwehr und wegen Verlagerung der Kräfte auf den Wiederaufbau (»nach vorn blicken«). So blieben viele der Befragten auf sich alleine gestellt und hatten die Belastungen in ihrem Inneren zu vergraben. Aufgrund der zerbrochenen Vorbildsysteme des Führersystems verlief die Identitätsbildung uneinheitlich, diskontinuierlich bis konfliktuös. Die »Leerstellen« konnten erst in Erinnerungsrunden von den 1990er Jahren an langsam gefüllt werden.

Diskussion
In vielen Menschen, die die Jahre vor und nach 1945 im Kindesalter durchlitten haben, sind latent oder manifest lebenslang Belastungen virulent. Christa Müllers qualitative Untersuchung spürt diese Altlasten mittels narrativer Interviews bei 72 Befragten akribisch auf. Vaterverluste, Mütterungleichgewichte, Entnazifizierung, Verdrängung des Holocaust und persönliche Traumata werden als Folgen aufgezeigt.

Da die Untersuchung nicht quantitativ vorgeht, kann von ihr keine repräsentative Aussage zur umfänglichen Verbreitung der Schädigungen in der seinerzeitigen Kinder- und Jugendlichen-Population erwartet werden. Auch beschränkt sich die Auswahl der 72 letztlich Befragten auf die Räume München und Rostock. Hinzu kommt eine gewisse Verzerrung dadurch, dass sich 62 Frauen, aber nur zehn Männer zu den Interviews zur Verfügung stellten. Das Interesse der Autorin bestand eben darin, vor allem Stimmen von Traumatisierten einzufangen.

Die vierstufige Interview-Auswertung (von Seite 55 bis Seite 277) macht das Lesen schwer, da das Material recht zerstückelt auf die Lesenden zukommt. Die Interview-Berichte wurden zur Gewinnung der Forschungs-Zielelemente so sehr filettiert und auf verschiedene Kapitel verteilt, dass die den Lesenden mitgeteilten Passagen oftmals auf isolierte Schnipsel reduziert sind, die erst mit Folgepassagen an weit entfernen Stellen in Zusammenhang gebracht werden können. Für eine breite kommerzielle Veröffentlichung hätte die Studie zuvor lesefreundlicher überarbeitet gehört.

Fazit
Eine etwas sperrige qualitative Untersuchung zu den lebenslangen psychischen Belastungen von Zweit-Weltkriegskindern zeigt, dass Traumata in der Entstehungszeit aufgearbeitet gehörten. Die jahrzehntelangen »dunklen Stellen« konnten teilweise erst dank der Erinnerungskultur der 1990er Jahre ans Licht gebracht werden.

Rezensent
Prof. Kurt Witterstätter
Dipl.-Sozialwirt, lehrte bis zur Emeritierung 2004 Soziologie, Sozialpolitik und Gerontologie an der Evangelischen Fachhochschule Ludwigshafen - Hochschule für Sozial- und Gesundheitswesen; er betreute zwischenzeitlich den Master-Weiterbildungsstudiengang Sozialgerontologie der EFH Ludwigshafen

Zitiervorschlag
Kurt Witterstätter. Rezension vom 23.09.2014 zu: Christa Müller: Schatten des Schweigens, Notwendigkeit des Erinnerns. Psychosozial-Verlag (Gießen) 2014. 379 Seiten. ISBN 978-3-8379-2354-4. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, http://www.socialnet.de/rezensionen/17528.php

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