Rezension zu Versuche zur Psychologie des nationalsozialistischen Terrors (PDF-E-Book)
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Rezension von Prof. Dr. Wolfgang Frindte
Ernst Federn, Roland Kaufhold u.a. (Hrsg.): Versuche zur
Psychologie des nationalsozialistischen Terrors
Thema
Wer weiß, dass Ernst Federn am 26. August 2014 100 Jahre geworden
wäre? Wer weiß überhaupt von Ernst Federn? Nun gut, die Kolleginnen
und Kollegen, die sich mit der Psychoanalyse beschäftigen, sollten
ihn schon kennen. Ein nichtrepräsentativer Versuch des Rezensenten,
Psychoanalytiker und -analytikerinnen seines Umfeldes nach Ernst
Federn zu befragen, war aber leider nicht sehr erfolgreich. Einige
hatten seinen Namen schon gehört, andere dachten eher an Paul
Federn, ein Schüler Sigmund Freuds und Vater von Ernst Federn. Nur
wenige unter den, nun ja, knapp 20 Befragten, wussten von dem
großen Wiener, der die Konzentrationslager Dachau und Buchenwald
überlebt hat und später zu einem Pionier der Psychoanalytischen
Pädagogik und Sozialarbeit und einer Psychologie des Terrors
wurde.
Es ist vor allem dem Publizisten und Pädagogen Roland Kaufhold zu
verdanken, dass wir uns heute nicht nur an Ernst Federn erinnern
können, sondern seine Arbeiten über die Psychologie des Terrors
lesen und auf ihre Aktualität überprüfen können (1). Das
vorliegende Buch ist die erweiterte Neuauflage des schon 1998 im
Psychosozial-Verlag erschienenen Bandes. An Aktualität hat es nicht
verloren. Im Gegenteil. Der Rezensent denkt dabei an den Terror der
islamistischen dschihadistischen Terrororganisation »Islamischer
Staat«, an die gefangenen, gefolterten und getöteten Opfer des
Terrors, den die Al-Shabaab Milizen in Somalia ausüben, an die
traumatisierten Flüchtlinge, die gegenwärtig Schutz und Hilfe in
reichen europäischen Ländern suchen, aber auch an die Gefangenen
auf Guantanamo.
Die Arbeiten von Ernst Federn zur Psychologie des Terrors beziehen
sich fast ausschließlich auf den Terror in den
nationalsozialistischen Konzentrationslagern. (2) Sie zeigen aber
darüber hinaus, und das verweist auf ihre Aktualität, wie
terroristische Systeme und Organisationen funktionieren und wie die
Opfer die psychischen und physischen Torturen erleiden und
bewältigen.
Autoren
Ernst Federn, der Hauptautor des vorliegenden Bandes, wurde am 26.
August 1914 in Wien geboren und starb dort am 24. Juni 2007. Als
Mitglied der trotzkistischen Revolutionären Kommunisten Österreichs
arbeitete er in den 1930er Jahren im Untergrund gegen den
Faschismus, wurde 1938 verhaftet und in das Konzentrationslager
Dachau verbracht und später nach Buchenwald. Von der amerikanischen
Armee befreit, emigrierte er 1948 mit seiner Frau in die USA, wo er
bis 1972 als Familienberater, Sozialarbeiter und Psychotherapeut
tätig war. 1972 kehrte er nach Wien zurück und arbeitete bis zu
seinem Tode als Psychotherapeut, setzte sich für die Reformierung
des Strafvollzuges ein und publizierte neben den Arbeiten zum
Verhältnis von Psychoanalyse und Gewalt auch zahlreiche
psychologiehistorische Schriften.
Roland Kaufhold, der Herausgeber des Bandes, wurde 1961 geboren,
studierte Sonderpädagogik in Köln, promovierte 2000 über Pioniere
der Psychoanalytischen Pädagogik an der Universität Hamburg und ist
als Sonderschullehrer tätig. Zu seinen zahlreichen Publikationen
gehören – vor allem – die Arbeiten über Ernst Federn, aber auch
über Bruno Bettelheim und Schriften zur jüdischen Identität in
Deutschland nach dem Holocaust.
Maritha Barthel-Rösing, geb. 1952, ist Diplompädagogin und
Gruppenanalytikerin in Bremen.
Bernhard Kuschey, geb. 1955, studierte Geschichte und
Leibeserziehung an der Universität Wien und arbeitet dort als
Lehrer an einem Realgymnasium.
Wilhelm Rösing, Dr. phil. nat., wurde 1947 in Berlin geboren und
arbeitet als Dokumentarfilmer, Autor und Regisseur. Unter anderem
produzierte er eine Filmtriologie über jüdische Exilanten.
Aufbau und Inhalte
Das Buch beginnt mit zwei Vorworten; eines ist von Roland Kaufhold,
das andere von Ernst Federn. Roland Kaufhold schildert in seinem
Vorwort zur Neuauflage eindrucksvoll den Lebensweg des
Protagonisten. »Ernst Federn«, so Kaufhold, »wurde zur
Projektionsfläche, zum Phantasma innerhalb unterschiedlichster
Berufsgruppen und politischer Kreise. Er, der im
Konzentrationslager Buchenwald sieben Jahre nicht nur von den
Nationalsozialisten, sondern als Trotzkist auch von der
›stalinistischen‹ Häftlingsselbstverwaltung existentiell bedroht
wurde, war der einzige deutschsprechende Trotzkist Buchenwalds, der
die zweifache Bedrohung mit äußerstem Glück überlebt hat« (S. 15).
Dass es nicht nur Glück war, sondern auch mit dem starken
Überlebenswillen und dem solidarischen Handeln von Federn zu hatte,
wäre noch zu ergänzen. In seinem eigenen Vorwort (aus dem Jahre
1998) verweist Ernst Federn darauf, dass sich der moderne Mensch
nicht der schweren Aufgabe entziehen könne, die globalen Gefahren,
die nach wie vor von terroristischen Regimen ausgehen und die ganze
Zivilisation bedrohen, zu bekämpfen.
In der folgenden Einleitung beschreibt Roland Kaufhold seine
zahlreichen persönlichen Gespräche und Begegnungen mit Hilde und
Ernst Federn und ordnet die im Band vorgelegten Studien zur
Psychologie des Terrors von Ernst Federn in dessen Biographie und
Leidensweg ein. Ungewöhnlich, so Kaufhold, sei an den Studien vor
allem, dass sie ohne jeglichen Hass und Verbitterung geschrieben
seien (S. 31). Federn fühlte sich nicht als Opfer, sondern
analysierte die Situation im Konzentrationslager und auch sein
eigenes Leiden aus einer professionellen psychoanalytischen und
politischen Perspektive. Das dürfte ein gewichtiger Grund sein,
durch die Federns Studien die schon erwähnte Aktualität und
Relevanz erfahren.
Der anschließende Teil 1 des Bandes umfasst drei Studien von Ernst
Federn.
Die erste Studie (»Versuch einer Psychologie des Terrors«) wurde
bereits im Juni 1946 abgeschlossen. In systematischer Weise
behandelt Federn hier die Grundmerkmale und die Methoden einer
»Psychologie des Terrors«. Unterschiedliche Formen der Folter
(physische und psychische) werden unterschieden und am Beispiel des
Lagerlebens exemplifiziert. Eine Analyse der Rollen von Opfer und
Tätern wird vorgelegt. Und es werden die Faktoren herausgearbeitet,
die trotz der Brutalität des Terrorregimes ein Überleben im Lager
möglich machten.
In der zweiten Studie (»Einige klinische Bemerkungen zur
Psychopathologie des Völkermordes«), die 1960 abgeschlossen wurde,
arbeitet Ernst Federn am Beispiel des Lagerkommandanten von
Auschwitz, Rudolf Höß, die Ambivalenzen zwischen dem »freundlichen
Menschen« und dem Massenmörder heraus. Verstehen lassen sich diese
Ambivalenzen dann, wenn – wie es Federn tut – die Funktionsweise
des autoritären Charakters (im Sinne von Adorno und Fromm)
analysiert wird. Insofern ist diese Studie auch eine hervorragende
Einzelfallanalyse zur Bedeutung des Autoritarismus.
Die dritte Studie aus dem Jahre 1996 beruht auf einem Vortrag, den
Federn im Oktober 1996 auf einem Kongress der Internationalen Ärzte
gegen den Atomkrieg (IPPNW) gehalten hat. Diese Studie trägt den
Titel »Mechanismen des Terrors«. Federn analysiert vier Merkmale
oder Mittel, die terroristische Regimes oder Organisationen zur
Durchsetzung ihrer Macht einsetzen: Vernichtung des Gegners,
Errichtung von KZs, die Forderung, Andersdenkende zu foltern und zu
töten und die Einführung eines Spitzelwesens.
Der Teil 2 des Bandes enthält drei Arbeiten von Ernst Federn, in
dem er seine Erinnerungen an Mithäftlinge beschreibt (Fritz
Grünbaum, Robert Danneberg und Bruno Bettelheim).
Teil 3 des Bandes »… umfasst drei vertiefende Studien zu Federns
Entwürfen einer Psychologie der Extremsituationen« (S. 41).
Bernhard Kuschey analysiert das Leben von Ernst Federn unter dem
Terror des nationalsozialistischen Lagersystems. Wilhelm Rösing und
Maritha Barthel-Rösing schildern die Entstehung eines Films mit
Ernst und Hilde Federn. Und Roland Kaufhold erläutert sehr
ausführlich und informativ den Briefwechsel zwischen Bruno
Bettelheim und Ernst Federn zur Psychoanalyse und zu einer
Psychoanalytischen Pädagogik. Dieser Text ist eine wahre Fundgrube
für historisch und psychoanalytisch interessierte Leserinnen und
Leser. Man erfährt von Kaufhold z. B., dass Ernst Federn 1976 eine
Studie zum Verhältnis von Marxismus und Psychoanalyse verfasst hat,
die vom ehemaligen österreichischen Bundeskanzler Bruno Kreisky
gelobt wurde oder dass Ernest Mandel, der später berühmt gewordene
Wirtschaftstheoretiker, ein Trauzeuge bei der Hochzeit von Hilde
und Ernst Federn war usw.
Im Anhang des Bandes finden sich weitere spannende Materialien, so
die ganz frühe Arbeit von Federn über den »Terror als System: Das
Konzentrationslager« aus dem Jahre 1945 mit einer Einleitung von
Wilhelm Rösing und die Dokumentation des Briefwechsels zwischen
Bettelheim und Federn.
Abgerundet wird das Ganze durch ein umfangreiches
Literaturverzeichnis.
Fazit
Für den Rezensenten ist dieser Band eine Entdeckung und er schämt
sich ein wenig, nicht schon 1998, bei Veröffentlichung der
Erstausgabe, auf die Psychologie des Terrors von Ernst Federn
aufmerksam geworden zu sein. Der Band ist in seiner Neuauflage eine
gelungene Würdigung zum 100. Geburtstag des Protagonisten und, wie
gesagt, eine informative Quelle für historisch und psychoanalytisch
interessierte Leserinnen und Leser. Aber auch die akademisch
arbeitenden Terrorismusexperten und Extremismusforscher können viel
lernen aus der Lektüre dieses Buches. Nicht zuletzt sei den
Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, den Sozialarbeiterinnen
und Sozialarbeitern und all jenen, die mit traumatisierten Menschen
arbeiten, dieser Band empfohlen.
Hinweisen möchte der Rezensent aber auch auf haGalil.com, die
deutschsprachige Internetadresse für jüdisches Leben, die von David
Gall, der kürzlich leider viel zu früh verstorben ist, gegründet
wurde. Dort finden sich weitere Materialien und Informationen zu
Ernst Federn (z.B.
http://www.hagalil.com/archiv/2010/04/10/federn-einfuehrung/).
Nicht schlecht wäre es auch, wenn Diktatoren und große und kleine
Terroristen den Band lesen würden. Sie nämlich könnten lernen, dass
eine humanistische, konstruktive und kreative Grundhaltung, so wie
sie Ernst Federn gelebt und realisiert hat, oftmals stärker ist als
terroristische Unterdrückung und Gewalt. Aber die Hoffnung auf
dieses Leseklientel ist sicher doch etwas utopisch.
[1] Zum Beispiel:
Kaufhold, R. (Hrsg.) (1993). Pioniere der Psychoanalytischen
Pädagogik: Bruno Bettelheim, Rudolf Ekstein, Ernst Federn und
Siegfried Bernfeld. psychosozial, Nr. 53.
Kaufhold, R. (1995). Psychoanalytiker, Sozialreformer, Historiker:
Ein Interview mit Ernst Federn. Behindertenpädagogik, 34, 2, S.
157-170.
Kaufhold, R. (Hrsg.) (1999). Ernst Federn: Versuche zur Psychologie
des Terrors. Material zum Leben und Werk von Ernst Federn. Gießen:
Psychosozial-Verlag.
Kaufhold, R. (2001). Bettelheim, Ekstein, Federn: Impulse für die
psychoanalytisch-pädagogische Bewegung. Gießen: Psychosozial
Verlag.
[2] Während des Schreibens an dieser Rezension meldet SPIEGEL
ONLINE, dass polnische und israelische Archäologen Reste der
Gaskammern von Sobibor gefunden haben (Quelle:
http://www.spiegel.de/wissenschaft/natur/sobibor-archaeologen-entdecken-reste-der-gaskammern-des-vernichtungslagers-a-992311.html;
21.9.2014).
Rezensent
Prof. Dr. Wolfgang Frindte
Friedrich-Schiller-Universität Jena
Institut für Kommunikationswissenschaft – Abteilung
Kommunikationspsychologie
Homepage www.ifkw.uni-jena.de
Zitiervorschlag
Wolfgang Frindte. Rezension vom 26.09.2014 zu: Ernst Federn, Roland
Kaufhold, Roland Kaufhold u.a. (Hrsg.): Versuche zur Psychologie
des nationalsozialistischen Terrors. Psychosozial-Verlag (Gießen)
2014. 250 Seiten. ISBN 978-3-8379-2346-9. In: socialnet
Rezensionen, ISSN 2190-9245,
http://www.socialnet.de/rezensionen/16958.php
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