Rezension zu Kinderheim Baumgarten
SLR – Sozialwissenschaftliche Literatur Rundschau. Zeitschrift für Sozialarbeit, Sozialpädagogik, Sozialpolitik und Gesellschaftspolitik 1/2012
Rezension von Timm Kunstreich
Kinderheim Baumgarten
Über: Daniel Barth: Kinderheim Baumgarten. Siegfried Bernfelds:
»Versuch mit neuer Erziehung« aus psychoanalytischer und
soziologischer Sicht
Der Bericht über das Kinderheim Baumgarten in Wien, in dem
Siegfried Bernfeld zusammen mit einer Gruppe engagierter
Pädagoginnen und Pädagogen seinen »Versuch mit neuer Erziehung«
startete, steht in seiner Bekanntheit sicherlich den Berichten über
das Warschauer Waisenhaus von Janusz Korczak und Makarenkos
Versuch, mit »verwahrlosten« Jugendlichen produktive Gruppen zu
gründen, nicht nach. Trotz dieser großen Bekanntheit gab es bislang
jedoch nur wenige Versuche, Bernfelds Experiment im Ganzen zu
untersuchen und kritisch auszuwerten. Daniel Barth hat diese Lücke
mit seiner umfassenden Analyse geschlossen.
Der Hauptteil des Buches besteht aus vier Kapiteln, deren
jeweiliger Umfang eine deutliche Schwerpunktsetzung markiert. Der
erste Abschnitt über »Politik« umfasst gut 50 Seiten, der danach
folgende über »Neue Erziehung«, der – wie der Autor selbst
konstatiert (42) – auch mit »Psychoanalyse» überschrieben, werden
könnte, umfasst gut 100 Seiten, während der darauf folgende
Abschnitt über Sozialpädagogik knapp 40 Seiten umfasst. Der
abschließende Teil, der mit »Soziologie« überschrieben ist, umfasst
ca. 80 Seiten.
Die beiden mittleren Teile stehen in einem besonderen Verhältnis,
wenn man die jeweiligen Untertitel miteinander in Beziehung setzt:
Geht es bei der »neuen Erziehung« um die Rekonstruktion des idealen
Konzeptes bzw. der expliziten Theorie in Baumgarten, so geht es in
dem Abschnitt über »Sozialpädagogik« um die Rekonstruktion des
realen Konzeptes bzw. der impliziten Theorie.
In der Einleitung stellt der Autor die drei Rezeptionsphasen
Bernfelds dar: die erste in den zwanziger Jahren, die zweite nach
seiner Wiederentdeckung Ende der Sechziger durch Lutz von Werder
und Reinhart Wolff (1969) und die dritte in den neunziger Jahren.
In allen drei Phasen geht es um die unterschiedliche Gewichtung des
Zusammenhangs von kritischer Erziehungswissenschaft und kritischer
Theorie des Subjekts, um die Erziehung der ErzieherInnen
insbesondere durch psychoanalytische Selbstreflexion sowie um die
Positionierung sozialistischer Politik und kritischer
Erziehungswissenschaft in den Klassenkämpfen im Bildungssektor (27
f.). Gerade in der letzten Phase liefen verschiedene Rezeptionen in
Gefahr, den inneren Zusammenhang zwischen den psychoanalytischen,
marxistischen und zionistischen Komponenten des Bernfeldsehen
Denkens auseinander zu dividieren. Der Autor selbst versteht sich
in der Tradition der 68er Rezeption und belegt diese Zusammenhänge
in vielfältiger Weise (42).
Auch noch zur Einleitung gehören die methodischen Überlegungen des
Autors (41 ff.). Neben diskursanalytischen Aspekten orientiert sich
der Autor vor allem an der tiefenhermeneutischen Textanalyse, wie
sie von Lorenzer (1986) entwickelt wurde. Um die latenten
Sinngehalte in den manifesten Textaussagen zu finden, sucht der
Autor nach »Emergenten«, die er als Irritationen im Text versteht,
z.B. nach besonders gefühlsbeladenen Äußerungen. »Der Emergent ist
als Schnittpunkt zwischen lebensgeschichtlicher Vertikalität einer
Teilnehmerin und Horizontalität der aktuellen Gruppensituation
konzeptualisiert« (49). Auf diese Weise will der Autor auch die
impliziten Theoreme in der expliziten Theorie auffinden bzw.
kenntlich machen. Das gelingt ihm vor allem in den Abschnitten über
Psychoanalyse und Sozialpädagogik in beeindruckender Weise und
macht so die Fruchtbarkeit dieses Vorgehens deutlich.
Der Untertitel des ersten thematischen Schwerpunktes »Politik«
lautet: »Schaffung kultureller Tatsachen als Strategie im Kampf um
gesellschaftliche Veränderung» (51).
In der Praxis besteht dieser Kampf aus vielen einzelnen Kämpfen.
Sie begannen schon vor der Gründung des Kinderheims am 15. Oktober
1919, steigerten sich während der kurzen Existenz von sechs Monaten
und waren auch mit der kollektiven Kündigung des gesamten
Erzieherteams am 15. April 1920 nicht vorbei.
Mit dem Zerfall der österreichisch-ungarischen Monarchie und seiner
Auflösung in diverse Nationalitäten und Territorien wurde die Lage
der jüdischen Minderheit (als »Nationalität« ohne eigenes
Territorium) noch prekärer als sie vorher schon war. Insbesondere
aus den östlichen Teilen des ehemals großen Reiches flohen viele
Menschen nach Westen, viele Familien zerbrachen, viele Kinder
wurden Waisen. In dieser Situation wollten Bernfeld und seine
Mitstreiter nicht nur gegen einen noch aggressiveren Antisemitismus
kämpfen, sondern auch gegen die bürgerlichkapitalistische
Lebensweise überhaupt – für einen sich selbst regulierenden
Sozialismus – nicht nur in Palästina, sondern überall auf der Welt.
Die »Blaupause« für zukünftige Kibbuzim fertigte Bernfeld schon
1919 in seiner Schrift: »Das jüdische Volk und seine Jugend« an;
viele Elemente daraus wollte er im zu gründenden Kinderheim
realisieren, das weder Schule noch traditionelles Heim sein sollte.
In einer Art subversiven Strategie kämpfte er gegen die
dominierende bürgerliche, konservative Wohltätigkeit und versuchte,
die Selbstorganisation der Kinder und Jugendlichen zum zentralen
Bezugspunkt seiner Arbeit zu machen (63 ff.).
Orientiert an einem Modell des Zusammenhangs von Macht und Prestige
rekonstruiert der Autor den Versuch,das Machtdefizit der Pädagogen
durch Prestigegewinn zu kompensieren (Abb. 2:71). In diesem Kampf
um Hegemonie geht es darum, gegen die traditionelle
individualisierende und entmündigende Sozialhilfe eine
sozialpolitische und sozialarbeiterische Innovation zu setzen. Die
soziale Problematik von Flüchtlingskindern sollte im Mittelpunkt
stehen statt Konzepte vom individuellen Verschulden; derartige
Heime sollten eigentlich aus Steuern finanziert werden und nicht
von Spenden (83). Es sollte Aufbau ermöglicht, nicht caritative
Hilfe geleistet werden. Die Autarkie der »freien jüdischen
Schulsiedlung« sollte nicht Funktion der (alten) Gesellschaft sein,
sondern umgekehrt: Das Projekt sollte Vorschein einer neuen
Gesellschaft sein, eine »Vorverwirklichung« – wie Landauer (1911)
das ausdrückte. Perspektivisch sollen es Institutionen sein, »die
uns aus dem heutigen Zustand herausheben« – «denn wir sind
gefährlich« (103).
Den zweiten Schwerpunkt »Neue Erziehung« rekonstruiert der Autor
als »sozial Orientierte Pädagogik«, wie Bernfeld eine
psychoanalytisch fundierte Sozialpädagogik kennzeichnet. Diese
»explizite Theorie« ist demnach das »ideale Konzept«. das Bernfeld
im Baumgarten-Experiment entwirft. Dabei belegt der Autor
eindrucksvoll seine These. dass dieses Konzept entgegen der Meinung
vieler durchaus systematisch psychoanalytisch fundiert ist.
Materialreich entwickelt er drei verschiedene Fäden, die zusammen
ein komplexes Gewebe einer kritischen Sozialpsychologie ergehen
(übersichtlich zusammengestellt in Abbildung 4:113/114). Den ersten
Faden sieht er in einem an Martin Buber orientierten
lnteraktionisrnus realisiert, dessen Leitthema
»Kameradschaftlichkeit« ist; die affektive Objektwahl sieht er in
Bernfelds Rezeption der Psychoanalyse sozial erweitert und der
dritte Faden »Arbeit» beinhaltet die Reproduktion von
klassenspezifischen Jugendformen, wozu Bernfeld eine marxistisch
inspirierte Soziologie entwickelt.
Im Mittelpunkt des Bernfeldschen »Interaktionismus» steht Sein
berühmtes Dictum, dass Pädagogik aus der »Antinomie zwischen dem
berechtigten Willen des Kindes und dem berechtigten Willen des
Lehrers« entsteht. Schlägt sie sich auf die Seite des Kindes, hebt
die Pädagogik sich auf, schlägt sie sich auf die Seite des Lehrers
(des Erwachsenen), wird sie zur schwarzen Pädagogik. Der
Kompromiss, der gefunden werden muss, liegt nicht in der Mitte.
sondern in einem Dritten, wie es im Projektkonzept bei Dewey zu
finden ist oder bei Makarenko in der gemeinsamen
Aufgabenbewältigung (vgl. Mannschatz, 2010). In diese Richtung
argumentiert auch der Autor mit Bezug auf das Konzept der
kommunikativen Kompromissbildung nach Habermas, das auf der
Gleichberechtigung der Interaktionspartner aufbaut. Wie
Verständigung psychoanalytisch inspiriert erreicht werden kann,
zeigt der Autor am Beispiel des »Beginns« (vgl. Hörster, 1995): In
den ersten Tagen ihres Experimentes lassen die Erzieher die
Jugendlichen und Kinder toben, auch wenn dabei vieles zu Bruch geht
und ein ohrenbetäubender Lärm entsteht. Sie weigern sich, die
»Ordnung« zu repräsentieren bzw. diese durchzusetzen. Nach einigen
Tagen entwickeln Kinder und Erzieher gemeinsam Regeln des
Zusammenlebens. So entstehen Glaubwürdigkeit und Wahrhaftigkeit in
einem »explikativen Diskurs« (129). Wird dieser realisiert, kann
die »Richtigkeit« von Handeln in kathartischen
Gerichtsverhandlungen herausgefunden werden. Auf diese Weise
entsteht so etwas wie «Wahrheit«, die auf »rechtem
Kameradschaftlichen und rechtem Vertrauen zu einer legitimen
Heimordnung entsteht« – die Kinder fühlen sich dann zu Hause
(151).
Der zweite Faden, die neue Bindung der Affekte im Sozialen und
Baumgarten als Praxis psychoanalytischer Erkenntnisse entwickelt
der Autor am (heute zu recht verpönten) Begriff »Erziehbarkeit« mit
der Frage nach der Ausbildung »antiegoistischer Seelenkräfte«
(155). Hier rekurriert der Autor vor allem auf die Freudsche
Triebkonzeption. Plausibel belegt er die Entwicklung von der
anarchischen, autoerotischen Funktion der Partialtriebe in der
sadomasochistischen infantilen Periode über das Akzeptieren
antisozialer Tendenzen (160) zu einer erweiterten »Selbstliebe«,
die Voraussetzung zur »Erziehbarkeit« wird: Der Weg vom Ich zum Du
führt über den Freund, die Gruppe und das Kinderkollektiv
(170).
Der so entstehende komplementäre Aufbau von subjektiver und
sozialer Welt realisiert sich in der Entwicklung von normativen
Ordnungen im Rahmen der Schulreform (178). In diesem dritten Faden
unter der Überschrift »Soziologie« zeigt der Autor, wie sich die
freiwerdenden Affekte neu binden. Dabei werden vier sich
überlappende, aber dennoch aufeinander aufbauende soziale Ordnungen
deutlich: nach der »Unordnung« des Chaos entwickelt sich eine
autoritative, eine technische sowie eine moralische Ordnung
(Abbildung 6:181). Während die autoritative Ordnung im Wesentlichen
durch Bernfelds Autorität durchgesetzt wird, von der auch der
Schülerausschuss lebt, entsteht eine technische Ordnung durch
Organisationen wie Histadruth und andere Gruppierungen, die
funktionale Regularien im Alltag übernehmen. Die moralische Ordnung
schließlich entsteht aus der Heterogenität der Gruppe und der
Notwendigkeit, gemeinsam in einer Schulgemeinde zu leben.
Zusammenfassend hebt der Autor hervor, dass diese
Kontextualisierung psychoanalytischer Begrifflichkeit vielleicht
Verzerrungen mit sich bringt, dass sie aber insgesamt
wissenschaftlich innovativ ist (202 ff.).
Der dritte Schwerpunkt »Sozialpädagogik« ist quasi die »Gegenprobe«
zum vorherigen. Der Autor geht auf die Suche nach Kennzeichen des
»realen Konzeptes«, die »implizit« in denen des idealen Konzeptes
enthalten sind. Hier wird die Fruchtbarkeit des
tiefenhermeneutischen Vorgehens nach Lorenzer besonders deutlich.
Mindere Beachtung erfährt danach die Tatsache, dass die »realen«
Kinder dem »Anforderungsprofil« des idealen Konzeptes (223) nicht
entsprechen. Es sind weitgehend proletarische Kinder. die zum Teil
schwer traumatisiert sind, nur wenige sind zionistisch orientiert.
Entgegen seiner Zuneigung zu proletarischen Kindern muss sich
Bernfeld notwendigerweise auf die wenigen bürgerlichen beziehen,
die eine Art Ordnungsfunktion zu haben schienen – so der Autor. Das
Erschrecken über die Erzichbarkeitsniveaus der Baumgartenkinder
wird immer wieder durch inflationär gebrauchte Begriffe wie
»pathologisch« und vergleichbare Bezeichnungen deutlich. Hier
scheinen Hilflosigkeit und Ohnmacht durch. »Unerziehbarkeit«
scheint dabei aber nicht als Ausgrenzungsmetapher zu fungieren,
sondern als Vorform von möglicher Integration, also von
Erziehbarkeit (242). Auch die Überhöhung der
Selbstorganisationsfähigkeit der Kinder bei tatsachlicher
Stagnation der Entwicklung der Schulgemeinde ist für den Autor
»Emergenz des Latenten«. Dass häufig die Alltagspraxis
weitergehenden Ideen entgegensieht, macht der Autor an der Tatsache
deutlich, dass für viele Verrichtungen des Alltags »Dienstmädchen«
zur Verfügung stehen, wo eigentlich nach der »linkszionistischen
Ideologie« (255) von Produktivität derartige Alltagsverrichtungen
von den Kindern selbst verrichtet werden mussten. Ähnliches gilt
für den Kampf gegen die Verwaltung, der letztlich zum Scheitern des
Projekts führte (258).
Im Mittelpunkt des vierten Schwerpunktes – »Soziologie« – mit dem
Untertitel »Der strukturelle Misserfolg des Versuchs mit ›neuer
Erziehung‹« steht das Anomiekonzept von Robert Merton. Ausgehend
von dem Versuch, die latente Sinnebene des Konfliktes zwischen den
Pädagogen und der Verwaltung in Baumgarten zu finden, verfolgt der
Autor die These, dass zwischen dem pädagogischen Erfolg und dem
strukturellen Misserfolg eine anomische Spannung herrscht, die aus
zwei Grundspannungen besteht: Die eine markiert den Widerspruch
einer Pädagogik »vom Kinde aus« gegen den Versuch von Bernfeld,
eine »Kaderschmiede« (269) aufzubauen, die zweite ist durch die
Pole von punktueller versus langfristiger Hilfe gekennzeichnet
(271). Bernfelds Erkrankung noch vor Ende des Projektes (274)
resultiert nach Meinung des Autors aus den damit verbundenen
Widersprüchen: Aus dem Subjekt im Widerspruch wird ein Widerspruch
im Subjekt (274). Aus diesem Ungleichgewicht im Beziehungsgeflecht
entsteht der zentrale Konflikt zwischen Macht und Prestige, den der
Autor mit Bezug auf Peter Heintz (1968) zu einer »Theorie der
strukturellen und anomischen Spannungen« erweitert. Eine
strukturelle Spannung entsteht dann, wenn ein Ungleichgewicht
zwischen Macht und Prestige entsteht, das dann zur anomischen wird,
wenn gesellschaftliche Ziele und Mittel zueinander in Widerspruch
geraten (vgl. Abhildung 9: Typologie der Arten individueller
Anpassung nach Merton, 284). Danach entsteht der strukturelle
Konflikt in Baumgarten aus dem hohen Prestige der Erzieherschaft,
dem zugleich aber ein Machtdefizit entspricht, wobei sich bei der
Verwaltung genau umgekehrt verhält: Sie hat einen Machtüberschuss
ohne Prestige (292). Aus diesen Spannungen resultieren – wiederum
nach Merton – die Typen von individuellen Anpassungsverhalten
(297): Apathie/Rückzug, Rebellion und Innovation, wobei die
Beispiele nicht immer plausibel sind und der Eindruck entsteht, der
Autor illustriere lediglich die Mertonsche Theorie mit Beispielen.
Diese Aspekte vertieft der Autor an zwei Themen, wobei er das erste
als »Feld der Angestellten« charakterisiert – hier steht die
Auseinandersetzung um Schulformen und Schuldisziplin im Mittelpunkt
– und zweite als das »Feld der Insassen« – hier geht es um die
systemnotwendige Abweichung des Schulschwänzers bzw. um
Schulschwänzen als Anpassung an anomische Spannungen (vgl.
Abbildung 10:342). Abschließend zieht der Autor die
Schlussfolgerung, »dass Bernfeld das Ausmaß der Devianz verharmlost
und die Ordnungsleistung der Schulgemeinde, welche das
Schulschwänzen reglementieren und einschränken will, aus
ideologischen Gründen nicht stützt und damit enteignet«« (348).
Im Schlusskapitel unterstreicht der Autor. dass mit Bernfeld die
Frage der Konstitution sozialer Ordnungen als sozialpädagogische
Aufgabe einen besonderen Stellenwert erhält. Der soziale Ort
»Schulgemeinde in der Jugendfürsorge« wird dabei zum Gegenentwurf
zur traditionellen Schule (352). Auch die analytische
Sozialpsychologie als wissenschaftliche Basis von Sozialpädagogik
hat das Konzept vom »sozialen Ort« als Bezugspunkt. »›Soziale
Psychologie‹, verstanden als Psychologie des ›sozialen Orts‹, und
›Psychopolitik‹, verstanden als sozialtherapeutische Methode des
›sozialen Orts‹, sind Bernfelds Gegenentwurf zur damaligen
Psychologie« (357). Die Erfahrungen mit den sozialen Grenzen von
Erziehung markieren zugleich den Anfang einer
gesellschaftstheoretischen Reflexion und kritischen Sozialpädagogik
(359). Zustimmend zitiert der Autor abschließend Dahmer (364):
Bernfelds verschiedene Theoriesprachen sind »mit der Grammatik der
unterdrückten Wünsche ebenso vertraut ... wie mit dem Spiel
gesellschaftlicher Entwicklungstendenzen; sie werden der auf die
Klärung von Interaktionsproblemen (und deren Korrelat, eine
subjektfreie Systemtheorie) zusammengeschrumpfte Soziologie die
beiden Dimensionen bewußtloser Praxis in Erinnerung rufen, von
denen sie absieht: die Lebensgeschichte der Individuen und die der
Klassengeschichte« (1989:29).
Die ersten drei Schwerpunkte der materialreichen und kritischen
Analyse des Experiments Baumgarten überzeugen und bringen die
Rezeption Bernfelds auf ein Niveau, hinter das niemand mehr
zurückgehen sollte. Zusammen mit den Reflexionen über Bernfeld, wie
sie von Burkhard Müller, Reinhart Hörster (vgl. 1992) und – vor
allem was das Konzept des »sozialen Ortes« angeht – von Michael
Winkler (1988) in vielfältiger Weise erarbeitet wurden, liegt jetzt
eine gesellschaftskritische und psychoanalytisch informierte
sozialpädagogische Position vor, die zu weiteren theoretischen,
aber auch praktischen Experimenten einlädt.
Dagegen fällt der vierte Schwerpunkt ab. Bernfeld wird hier von
außen als einen »Fall« für die Anomie-Theorie abgehandelt. Hätte es
nicht nahe gelegen, eine kritische Rahmung eher in den
theoretischen Ansätzen zu suchen, die sich selbst in Nachfolge von
Bernfeld verstehen? So lässt sich unschwer in der praktischen
Kinderschutzarbeit von Reinhart Wolff und seiner stringenten
dialogischen Orientierung eine Weiterentwicklung der Bernfeldschen
Ansätze erkennen genauso wie in seinen psychoanalytischen
Differenzierungen. Aber das wäre sicherlich Aufgabe für eine
weitere Dissertation.
Literatur
Bernfeld, S., 1919: Das jüdische Volk und seine Jugend.
Berlin/Wien/Leipzig
Dahmer, H., 1989: Psychoanalyse ohne Grenzen. Freiburg
Heintz, P., 1968: Einführung in die soziologische Theorie.
Stuttgart
Hörster, R,,1995: Das Problem des Anfangs in der sozialen
Erziehung. Praxeologisch-empirische Anmerkungen zur Inszenation des
pädagogischen Prozesses. In: neue praxis 1:2-12
Hörster, R./ Müller, B., 1992: Jugend, Erziehung und Psychoanalyse.
Zur Sozialpadagogik Siegfried Bernfelds. Neuwied
Landauer, G., 1911/1978: Aufruf zum Sozialismus. Wetzlar
Lorenzer, A.,1986:Tieferrhermeneutische Kulturanalyse. In: derselbe
(Hg): Kulturanalysen. Frankfurt/M: 11.98
Mannschatz, t., 2010: Was zum Teufel ist eigentlich Erziehung?
Berlin
Werder, L. von, Wolff, B., 1969: Antiautoritäre Erziehung und
Psychoanalyse. Ausgewählte Schriften. Frankfurt/M
Winkler, M., 1988: Eine Theorie der Sozialpädagogik. Über Erziehung
als Rekonstruktion der Subjektivitat. Stuttgart
Abstract
In the centre of this comprehensive analysis of Siegfried Bernfelds
famous attempt to create a new education stands the reconstruction
of the ›ideal‹ concept and the »explicit« theory of Bernfelds
approach and its confrontation to the »real« concept and the
»implicit« theory. The author lines out the still meaningful
development of a psychoanalytic based socialpsychology in theory
and a subject-oriented education in practice. This analysis closes
a gap in the rediscovery of Bernfelds rich and fruitful oevre.