Rezension zu Die Erfindung des Traumas (PDF-E-Book)
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Rezension von Gerhard Wolfrum
David Becker: Die Erfindung des Traumas
Thema
Die mit 313 Seiten jetzt erschienene Neuauflage der 2. Auflage von
2006 (damals Edition Freitag, Berlin, jetzt 2014
Psychosozial-Verlag) setzt sich mit den kritischen Seiten
humanitärer Hilfsprojekte und den damit verbundenen
traumatherapeutischen Angeboten an Betroffene in Krisen- und
Kriegsgebieten auseinander. Der Autor reflektiert die damit häufig
verbundenen Widersprüche im Hinblick auf die psychotherapeutische
Praxis angesichts der politischen und sozialen Hintergründe und
plädiert für ein Umdenken in der Traumatheorie.
Autor
PD Dr. phil., Dipl.-Psych., Sozialpsychologe, ist Direktor des
Büros für psychosoziale Prozesse (OPSI) der internationalen
Akademie für innovative Pädagogik, Psychologie und Ökonomie gGmbH
in Berlin. Sein Arbeitsschwerpunkt liegt in der Beratung
psychosozialer Projekte in Kriegs- und Krisengebieten.
Inhalt
Im ersten Teil »Trauma und Bindung« steht die Frage nach der
Beziehung zu traumatisierten Menschen im Mittelpunkt, im ersten
Kapitel zur »Psychotherapie von Extrem-traumatisierten« (Chile)
wird das Konzept der »vinculo comprometido«, der sich einlassenden
Bindung vorgestellt und im Rückblick von heute aus kritisch
reflektiert. Im Kapitel »Mariana« steht die Therapiestunde mit der
Tochter eines chilenischen Verschwundenen im Zentrum, in der der
Kern ihrer traumatischen Erfahrung lebendig wurde. In »Setting und
Übergangsraum« geht es um die Relevanz und die Bedeutung der
Rahmenbedingungen für den therapeutischen Prozeß mit der
Kernaussage, dass sich Institution und Behandlungstechnik an den
Patienten anpassen müssen und nicht umgekehrt. »Von der Mühsal, die
eigene Ohnmacht zu nutzen« beschreibt die eigenen Erfahrungen des
Autors als Supervisand und als Supervisor von Gruppen, wo es in der
Arbeit mit Extremtraumatisierten sowohl des Glaubens an die eigene
Omnipotenz bedarf als auch des Erlernens und Aushaltens der eigenen
Ohnmacht. Dabei bezieht sich der Autor bevorzugt auf die Theorie
der Übergangsphänomene von D. W. Winnicott und auf die
Container-Funktion nach W. Bion.
Der zweite Teil »Traumatische Prozesse und Gesellschaft« stellt die
gesellschaftspolitische Dimension von Traumata in den Mittelpunkt
und beklagt die »fatale Psychologisierung der
Flüchtlingsproblematik in Deutschland, hinter der sich ein
relevantes politisches Problem verbirgt«. »Die Wahrheit der
Erinnyen« widmet sich den griechischen Rachegöttinnen, die im Zuge
einer Gerichtsverhandlung gegen den Muttermörder und Vaterrächer
Orest im Sinne einer Wandlung zu Schutzgöttinnen Athens werden.
»Das Elend mit den Flüchtlingen – undankbare Opfer und ihre Helfer«
diskutiert die gesellschaftliche Dimension von Trauma in Bezug auf
Flüchtlinge und den »reduktionistischen Opferbegriff, mit dem wir
versuchen, Verständnis für die Leidenden dieser Welt aufzubringen,
während wir gleichzeitig bemüht sind, sie uns vom Leibe zu halten«.
Dabei hinterfragt der Autor auch kritisch die Praxis der
Begutachtung von Flüchtlingen, was für ihn weder ein
wissenschaftliches noch therapeutisches Problem, sondern vor allem
ein Politikum ist.
Im dritten Teil »Die Erfindung des Traumas« steht der theoretische
Ansatz selbst zur Debatte, vor allem mit der Frage, wie ein
Traumaverständnis beschaffen sein muß, das die vielfältigen
Kritiken am Konzept angemessen berücksichtigt – auch angesichts des
historischen Schicksals des Traumabegriffs vor dem Hintergrund der
psychoanalytischen Theorieentwicklung. »Zur Notwendigkeit eines
konzeptionellen Neuanfangs« geht detailliert auf Hans Keilsons
Konzept der »sequentiellen Traumatisierung« als eines notwendigen
Paradigmenwechsels ein. Dabei bemüht sich der Autor Keilsons
Theorie zu reformulieren und ein länderunspezifisches sechsstufiges
Sequenzmodell zu entwickeln. »Die Ferne träumen« greift unter
Rückgriff auf Edward Said die Entwicklung und den Gebrauch
psychoanalytischer Traumatheorien historisch auf und bezieht sich
auf die Kommunikationsprobleme zwischen der sog. »ersten« und der
»dritten Welt«.
Im vierten Teil »Trauma und kulturelle Differenz« stellen Saids
verflochtene Geschichten die Brücke und den Rahmen zu den eigenen
Erfahrungen und Reflexionen des Autors dar. »Edel, hilfreich und
gut« diskutiert die Krise der humanitären Hilfe in Kriegsregionen
in kritischer Auseinandersetzung mit einem Buch von David Rieff,
welcher von der Notwendigkeit spricht, zu einer scheinbar
unpolitischen und neutralen humanitären Hilfe zurückzukehren. Dem
widerspricht der Autor und stellt die These auf, dass es eine
nicht-neutrale, sich für Menschenrechte und deren Einhaltung
interessierende humanitäre Hilfe geben kann, »ohne dass dies
notwendigerweise zu Katastrophen wie in Ruanda führen muß«. Er
kritisiert karitative, angeblich neutrale Hilfsvorstellungen, die
in Wirklichkeit politisch sind und häufig Schaden anrichten. Die
»sich entfaltende Kultur der Lüge« scheint dem Autor eine
notwendige Begleiterscheinung des internationalen Hilfsgeschäfts zu
sein. »Verflochtene Geschichten« formuliert die Hypothese, dass
Traumadiskurs und Traumaarbeit einerseits »das letzte imperiale
Kulturprojekt« darstellen, andererseits aber auch die Chance
enthalten, mehr vom Leid der Menschen zu verstehen, und helfen
könnten, nicht nur im unmittelbaren psychosozialen Bereich, sondern
in der internationalen Zusammenarbeit insgesamt bessere und
wechselseitig hilfreichere Formen der Begegnung zu ermöglichen.
Dabei stellt der Autor eine von ihm und von Barbara Weyermann
entwickelte Methode dar, die nicht nur für alle Beteiligten
brauchbare Evaluationsergebnisse ermöglicht, sondern darüber hinaus
die übliche Dynamik zwischen Geldgebern und Geldempfängern
durchbricht und auf Seiten der lokalen Projekte emanzipatorische
Prozesse fördert. Nach Meinung des Autors sind in der
internationalen Zusammenarbeit Qualitätsentwicklung und -kontrolle
wahrscheinlich »die zentralen Aktivitäten, an denen sich
entscheidet, ob sich Ausbeutung und Unterdrückung mittels
imperialer Kultur verschärft fortsetzen oder ob es zu neuen, sich
bewusst verflechtenden Begegnungen kommt, die Emanzipation,
Autonomie und antiimperiale Veränderungen fördern«. Der kritischen
Bewertung und Entwicklung von Traumaarbeit und psychosozialen
Fragestellungen in Konflikt- und Postkonfliktgebieten komme damit
eine Schlüsselrolle zu.
Diskussion
Das vorliegende Buch irritiert bereits mit dem Titel »Die Erfindung
des Traumas – verflochtene Geschichten«. Traumatische
Lebenserfahrungen gibt es seit Anbeginn der Menschheitsgeschichte
und in allen Erdteilen – das Trauma muss also niemand neu erfinden.
Ebenso irritierten die Aussagen, dass es nach wie vor umstritten
sei, »was Trauma eigentlich bedeutet« oder das Statement, es
müssten Vorschlage erarbeitet werden, die helfen, »die aktuelle
Sackgasse in der Traumadebatte zu verlassen und einen Neuanfang zu
riskieren«. Auch die offensichtlich ironische Formulierung, die
Psychotraumatologie versuche, »dem Begriff die notwendigen
wissenschaftlichen Weihen zu erteilen« sorgte für Stirnrunzeln beim
Rezensenten ebenso wie die Forderung, es solle »keine
wissenschaftlich abgesicherte, absolute Traumadefinition gesucht
oder erfunden werden. Alle Versuche in diese Richtung sind nicht
nur nutzlos, sondern auch schädlich und verlogen …« Mehr als
Irritation löste die Behauptung aus, »der PTSD ist das weltweit
bekannteste Traumakonzept, gleichzeitig aber auch das nutzloseste,
um man-made-disasters zu verstehen und mit ihnen umzugehen« und
erst Recht die fast abfällige Kommentierung des Lehrbuchs der
Psychotraumatologie von Fischer & Riedesser (1999, 4. Aufl. 2009),
den Begründern dieser wissenschaftlichen Disziplin in Deutschland.
Ironischerweise hätte der Autor genau hier sehr vieles dargestellt
gefunden, was er in vielen Abschnitten seines Buches bei
Traumakonzepten als fehlend beklagt, z.B. die fehlende
Kontextualisierung und Isolierung traumatischer
Belastungserfahrungen oder die wiederholte Betonung, dass die
traumatische Erfahrung eine Verlaufserkrankung ist, was Robert
Bering 2005 in seinem Buch »Verlauf der Posttraumatischen
Belastungsstörung« weiter vertieft hat – jenseits dessen, womit
Hans Keilson mit seinem Konzept der sequentiellen Traumatisierung
den Grundstein gelegt hatte. Auch die vom Autor beklagte oft
fehlenden ätiologische Orientierung hätte er ausführlich in dem
explizit diesem Thema gewidmeten Buch »Kausale Psychotherapie –
Manual zur ätiologieorientierten Behandlung psychotraumatischer und
neurotischer Störungen« von Gottfried Fischer (2007) finden
können.
Berührend ist die Darstellung der eigenen Lebensgeschichte und die
frühe Konfrontation mit traumatischen Begebenheiten, zu bewundern
der Mut, 1982 nach Chile umzuziehen, um zusammen mit einem Team in
den antidiktatorischen Kampf einzusteigen, um Opfern zu helfen und
vermutlich auch das eigene Leben zu riskieren. Die Konfrontation
mit extremtraumatisierten Menschen, mit Folter und systematischem
staatlichen Terror wird in den Schilderungen der Begegnung mit
Opfern sehr deutlich. Leider wird angesichts vieler z. T. auch sehr
berechtigter kritischer Auseinandersetzungen nicht klar, mit
welcher Ausbildungs-Qualifikation der Autor dorthin ging, zumal zu
dieser Zeit in Europa noch niemand von Trauma sprach, geschweige
denn eine Qualifikation gehabt hätte. Zumindest scheint der Autor
der Psychoanalyse nahe zu stehen und von einer frühen Kontroverse
(1980) beeindruckt gewesen zu sein, wo er Hans Keilson begegnete,
dessen Konzept für ihn handlungsleitend wurde. So wertvoll die
Erkenntnisse von Keilson waren, so kritisch muß darauf hingewiesen
werden, dass die Bedeutung und Nutzung der postexpositorischen
Phase im Hinblick auf die Ausbildung von Traumasymptomen und vor
allem für den Heilungsverlauf ebenfalls bereits im 1999
erschienenen Lehrbuch der Psychotraumatologie von Fischer &
Riedesser ausführlich dargestellt ist. Dort findet sich auch eine
wertvolle Diskussion von hilfreichen Trauma-Definitionen, die dem
Denken des Autors eigentlich hätten gefallen müssen.
Uneingeschränkt Recht muß dem Autor nicht nur bzgl. einem eher
Technik- statt Beziehungs-orientierten Umgang mit Traumapatienten
gegeben werden und der »Verwässerung« im Hinblick auf eine
objektive Faktenlage, gerade angesichts von man-made-disasters und
der Konfrontation mit Extremtraumatisierung, sondern auch
angesichts des häufig fehlenden sozialpolitischen Verständnisses
und dem damit verbundenen Zynismus im Umgang mit den Opfern.
Eindrücklich sind die frühen Konfrontationen mit
Extremtraumatisierten – einem Begriff, der nicht vom Autor, sondern
von Bruno Bettelheim stammt – und die notwendige Einbeziehung des
gesellschaftlichen und vor allem politischen Kontextes, ohne
welchen man Opfern von man-made-Traumatisierung in keiner Weise
gerecht werden kann. Der Autor beklagt z.T. zu Recht, daß dieser
Kontext und der politische Bezug von den meisten Institutionen
ignoriert werden und häufig »Trauma« als zu behandelnde Krankheit
definiert und in ICD-Kategorien abgehandelt wird, womit das tiefe
Leid der Opfer keine wirkliche Anerkennung findet. Daraus leitet er
die unbestreitbare Konsequenz ab, das »Trauma« nur in Bezug auf
einen spezifischen kulturellen und sozialpolitischen Kontext
verstanden werden kann, was er mithilfe der griechischen Mythologie
anschaulich macht.
Der skandalöse Umgang mit Flüchtlingen und die damit verbundenen
Gutachterpraxis in Deutschland werden vom Autor zu Recht scharf
kritisiert, ebenso kritisch blickt er auf humanitäre Hilfsprojekte,
welche auch traumatherapeutische Hilfe anbieten, die seiner
Überzeugung und Erfahrung nach in der Regel aber selten transparent
genug sind, um den Betroffenen wirklich zu helfen oder einem Land
zu helfen, sich wirklich emanzipieren zu können. Hier führt er das
von ihm weiter entwickelte Modell von Hans Keilson an, demzufolge
sich das Ausmaß der Entwicklung von Traumasymptomatik immer erst in
der postexpositorischen Phase zeigt – in Anhängigkeit von der
Ehrlichkeit und Dauer der angebotenen Hilfe vor dem Hintergrund
einer »Kultur der Lügen«. Er schildert hierzu interessante
Erfahrungen als Berater und Ausbilder z. B. in Angola, Bosnien und
Herzegowina. Das konzeptionelle Umdenken auf der Basis des
Konzeptes von Hans Keilson und des Umgangs mit der
postexpositorischen Phase bringt angesichts des mittlerweile
Bestehens einer Psychotraumatologie als eigenständiger
Wissenschaftsdiziplin (z.B. Fischer, 2011) keine wirklich neuen
Gedanken, auch die angekündigte Neu-Konzeptionalisierung des
Traumabegriffs kommt zu kurz. Die vielen, vor allem sozialpolitisch
interessanter (Hintergrund-)Informationen sind sehr bereichernd,
die Merkwürdigkeiten bezogen auf den Traumabegriff und die den
Opfern angebotenen Therapiemöglichkeiten zeigen im
psychotraumatologischen Bereich jedoch einen Stand der Diskussion,
der zeitlich der Erstveröffentlichung entspricht.
Fazit
Insgesamt ein sehr interessantes, von viel persönlicher Erfahrung
getragenes und politisch ausgerichtetes Buch für diejenigen, die
bereit sind, sich mit humanitären Projekten, psychosozialer Hilfe
in der internationalen Zusammenarbeit und mit den Hintergründen
kriegerischer Auseinandersetzungen und den Folgen für die dabei
Beteiligten auseinanderzusetzen. Trotz des wiederholt beschworenen
konzeptionellen Umdenkens in der Traumatheorie kommt gerade dieser
Aspekt in einem ansonsten sehr lehrreichen Buch zu kurz –
diskutiert werden Kontroversen des letzten Jahrzehnts.
Rezensent
Dipl.-Psych. Gerhard Wolfrum, Psychologischer Psychotherapeut,
Psychoanalytiker, Fach-Psychotherapeut für Traumatherapie,
München
Zitiervorschlag
Gerhard Wolfrum. Rezension vom 11.09.2014 zu: David Becker: Die
Erfindung des Traumas. Psychosozial-Verlag (Gießen) 2014. 2.
Auflage. 313 Seiten. ISBN 978-3-8379-2396-4. In: socialnet
Rezensionen, ISSN 2190-9245,
http://www.socialnet.de/rezensionen/17098.php.
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