Rezension zu Otto Rank
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Rezension von Prof. Dr. Dr. Hans-Peter Heekerens
E. James Lieberman: Otto Rank. Leben und Werk
Entstehungshintergrund
Das vorliegende Buch, in zweiter Auflage im selben Jahr erschienen
wie die deutschsprachige Erstausgabe des Freud-Rank-Briefwechsels
ist auf Deutsch erstmals 1997 im Psychosozial-Verlag erschienen und
basiert auf dem 1985 erschienenen US-amerikanischen Original. Wie
Vieles hat sich seither in Sachen Rank diesseits und jenseits des
Atlantiks verändert! Im Vorwort zur US-Taschenbuchausgabe von 1993
(im Buch wieder gegeben auf den Seiten 13–20) zählt James Lieberman
auf, wie viele Neuübersetzungen, Neuauflagen und
Taschenbuchausgaben zwischen 1985 und 1993 erschienen waren. Mit
zeitlicher Verzögerung hat diese Publikationswelle auch den
deutschsprachigen Raum erreicht. Ich liste nachstehend alle
Rankschen Werke auf, die seit 1997 zumeist erstmals wieder seit den
Jahren 1907 – 1933 in ihrem Originalwortlaut publiziert wurden. Man
gewinnt dabei zugleich einen ersten Eindruck von der Breite und
Tiefe des Rankschen Schaffens. Es erschienen
2000 »Kunst und Künstler« (englischsprachige Erstausgabe 1932),
2006 »Technik der Psychoanalyse Bde. 1 – 3« (Erstausgaben 1926 –
1931),
2007 »Das Trauma der Geburt« (Erstausgabe 1924),
2008 »Der Mythos von der Geburt des Helden« (Erstausgabe 1909),
2008 »Entwicklungsziele der Psychoanalyse« (zusammen mit Sándor
Ferenczi, Erstausgabe 1924),
2010 »Das Inzestmotiv in Dichtung und Sage« (Erstausgabe 1912),
2010 »Die Don-Juan-Gestalt« (Erstausgabe 1922),
2010 »Erziehung und Weltanschauung« (Erstausgaben 1932/1933),
2010 »Sexualität und Schuldgefühl« (Erstausgabe 1926; Studien aus
den Jahren 1912 – 1923),
2010 »Eine Neurosenanalyse in Träumen« (Erstausgabe 1924),
2010/2013 »Psychoanalytische Beiträge zur Mythenforschung«
(Erstausgabe 1919; Studien aus den Jahren 1912 – 1914),
2012 »Der Künstler« (Erstausgabe 1907),
2013/2014 »Der Doppelgänger« (Erstausgaben 1914/1925),
2013/2014 »Die Bedeutung der Psychoanalyse für die
Geisteswissenschaften« (zusammen mit Hanns Sachs; Erstausgabe 1913)
und
2014 »Die Lohengrinsage« (Erstausgabe 1911).
Als eine Kollegin und ich vor über einem Jahrzehnt unsere Artikel
über Otto Rank als Inspirator für die Funktionale Schule der
Sozialen Arbeit (Ohling & Heekerens, 2004) und Ahnherr der
experienziellen Psychotherapie (Heekerens & Ohling, 2005)
schrieben, waren mit Ausnahme von »Kunst und Künstler« die meisten
der o.g. Bücher nur als Erstausgaben und diese in speziellen
Bibliotheken einzusehen. Das hatte aber auch zuvor schon Marina
Leitner aus Salzburg nicht daran gehindert, eine kenntnisreiche und
differenzierte Diplomarbeit in Psychologie über »Freud, Rank und
die Folgen« zu schreiben; die Arbeit ist 1998 als Buch erschienen,
eine Kurzdarstellung aus dem Jahr 1997 ist im Internet einsehbar
(http://www.werkblatt.at/archiv/38Leitner.html). Leitner war eine
der Referent(innen) auf der Anfang November 1997 in Heidelberg
stattfindenden Tagung »Die Wiederentdeckung Otto Ranks für die
Psychoanalyse«, deren Beiträge 1998 als Themenheft der Zeitschrift
»psychosozial« erschienen (Janus, 1998). Wie »normal« Rank auch für
die »offizielle« Psychoanalyse geworden ist, zeigt folgende
Begebenheit: Als am 26. April 2008, fast auf den Tag genau, die
100-Jahr-Feier des ersten internationalen psychoanalytischen
Treffens in Salzburg – im selben Hotel wie damals (dem Bristol) –
stattfand, da lagen auf dem Büchertisch im Foyer nebeneinander
dicht an dicht die Werke von Sigmund Freud, Ferenczi und Rank.
Zumindest auf dem Büchertisch war in Salzburg damals wahr geworden,
was Lieberman sich bei seinem Heidelberger Vortrag 1997 für »Das
Trauma der Geburt« erhofft hatte: »dass sich dieses Buch nach über
einem halben Jahrhundert den Werken von Freud und Ferenczi in der
Suche nach dem Verständnis der menschlichen Seele und Gesellschaft
wieder zugesellen wird« (Lieberman, 1998, S. 12).
Autor
E. James Lieberman, Doktor der Medizin und Master of Mental Health
war Klinischer Professor des Department of Psychiatry and
Behavioral Sciences der George Washington University School of
Medicine and Health Science, Washington sowie als Erwachsenen- und
Familienpsychiater praktizierend in privater Praxis und am Family
Institute, Washington.
Übersetzerin
Anni Pott hat viele Bücher zur Klinischen Psychologie und
Psychotherapie aus dem (amerikanischen) Englisch ins Deutsche
übersetzt (vgl. etwa
http://buch.archinform.net/author/Anni_Pott.htm).
Aufbau und Inhalt
Das Vorwort zur deutschen Ausgabe von 1997 wurde von dem
Düsseldorfer Diplom-Psychologen und Gestalttherapeuten Bertram
Müller, damals Vorsitzender der von ihm mit begründeten Deutschen
Otto Rank Gesellschaft (zwischenzeitlich aufgelöst)
geschrieben.
Als Neues Vorwort (für die deutsche Ausgabe aktualisiert) wird das
Vorwort des Autors für die US-Taschenbuchausgabe von 1993 wieder
gegeben. Dort wird geschildert, dass sich in den USA seit 1984 eine
Rank- Renaissance ereignet habe; der Autor fügt Informationen aus
zwischenzeitlich verfügbaren Quellen hinzu und rechtfertigt seinen
Ansatz, gerade bei einem Psychologen Leben und Werk als ein
ineinander greifendes, unlösbares Ganzes anzusehen. Ich teile diese
Ansicht und halte es daher für eine große Schwäche der unlängst
erschienenen Abraham-Biographie, dass sie nur das Leben, nicht aber
das Werk dieses großen deutschen Psychoanalytikers darstellt.
Im 1984 verfassten Vorwort zur Originalausgabe beschreibt der
Autor, wie er durch Kontakt mit der Washingtoner Otto
Rank-Arbeitsgruppe (zwischenzeitlich aufgelöst) mit Ranks Denken
und seiner Be- und Verurteilung durch andere bekannt wurde und den
Entschluss fasste, zum 100. Geburtstag Ranks ein Buch vorzulegen,
das sein Leben und Werk so umfassend, wie es die Datenlage erlaubt,
darzustellen. Die Zeit dafür war reif, will ich anfügen. Denn auch
im Mainstream der Psychoanalyse hatten sich nachdenkliche und
mutige Frauen und Männer daran gemacht, die Geschichte der
Psychoanalyse anders zu sehen als so, wie sie Ernest Jones in
seiner gleichsam »amtlichen« Freud-Biographie (1953 – 1957)
gezeichnet hatte. Auf der Jahresversammlung der Deutschen
Psychoanalytischen Vereinigung 1982 hatte Johannes Cremerius den
von Jones ebenso wie Rank zum Psychopathen abgestempelten Ferenczi,
Ranks langjährigen Weg- und Denkgenossen gleichsam rehabilitiert.
Die 1980er waren in Sachen Rank und Ferenczi gleichermaßen eine
Zeitenwende, die sich jenseits wie diesseits des Atlantiks
ereignete.
Die Danksagung führt Bibliotheken, Organisationen und einzelne
Personen (darunter viele, die Rank zu Lebzeiten kannten) auf, die
mit Informationen, Ideen und konkreten Hilfestellungen das Buch
ermöglichten. Genannt werden auch Schwierigkeiten und
unüberwindbare Hindernisse beim Zugang zu bedeutsamen Quellen
(darunter solchen in den Sigmund Freud Archives).
Die Einleitung: Jenseits der Freudschen Psychologie lässt wie in
einer Opernouvertüre den Tenor des Buches, hervorstechende Merkmale
darin vorkommender bedeutsamer Personen sowie wesentliche Elemente
(Lesarten des Ödipus-Mythos, die Verleumdung Ranks und dessen
Revival, seine Person und sein Werk als Einheit, sein Gang an und
über Grenzen – psychotherapietheoretische, behandlungspraktische
und auch geographische) anklingen.
In Kapitel 1: Ein jugendliches Tagebuch werden die ersten 20
Lebensjahre des 1884 in »kleine Verhältnisse« hinein und in einem
Wiener Außenbezirk jenseits des Donaukanals (nahe der
Prater-Gegend) geborenen Otto Rosenfeld dargestellt. Da sehen wir
einen Jungen, der, weil das Geld zur akademischen Ausbildung nicht
reicht, eine Maschinenschlosserlehre macht, anschließend für einen
Hungerlohn in einer Wiener Maschinenfabrik arbeitet, aber noch vor
20 ein Tagebuch voller tiefer Selbstreflexion schreibt, sich
zunehmend als Künstler begreift, in Theater und Konzerte geht und
Philosophen liest: Arthur Schopenhauer etwa (»Wille zum Leben«)
oder Friedrich Nietzsche (»Wille zur Macht«) oder Otto Weiniger
(»Wille zum Wert«). Der Hausarzt der Familie ist ein gewisser
Alfred Adler, der seit 1902 an Freuds Mittwochsgesellschaft (oder:
Kleine Vereinigung) teilnimmt; Rank selbst aber muss sich erst noch
auf dem Weg zu Freud machen.
Kapitel 2: Selbstgeschaffene Seele betrachtet die Jahre 1904/1905.
In der Zeit hat Rank erstmals die fünf Jahre zuvor erschienene
Freudsche »Traumdeutung« (ein Exemplar hat er sich mal bei Adler
ausgeliehen) und dessen soeben erschienenen »Drei Abhandlungen zur
Sexualtheorie« gelesen. Aber: Rank, der später der, weil ohne
ärztliche Ausbildung, erste »Laien-Analytiker« werden sollte, las
beide Bücher mit anderen Augen als die meisten ersten
Freud-Schüler; die waren in der Regel Ärzte. Und er las
insbesondere die »Traumdeutung« mit den Augen des jungen Mannes,
der sich mit »Der Künstler« (in durch Freudsche Gedanken
veränderter Form publiziert 1907) einen eigenständigen Standpunkt
geschaffen hatte; in der Rankschen Tradition wird die Arbeit mit
Träumen anders aussehen als in der Freudschen – und das hat hier
seinen Anfang.
Das 3. Kapitel: Sigmund Freud bietet eine Skizze der Entwicklung
Freuds und der jungen Psychoanalyse bis zur Etablierung der
Mittwochsgesellschaft. In zwei Punkten unterscheidet sich diese
Darstellung von den meisten Freud-Biographien (insb. der Jones’).
Zum einen wird berichtet, dass und wie Rank Freud »analysierte«,
d.h. deutete, und zum anderen hebt der Autor hervor, dass die
später immer deutlicher zutage tretende Tendenz vieler
Psychoanalytiker(innen), Andersdenkende mit psychopathologischen
Etiketten zu versehen, auf Freud selbst zurück geht und von diesem
schon früh praktiziert wurde.
Die in Kapitel 4 betrachtete »Kleine Vereinigung«, die schon
mehrfach genannte Mittwochsgesellschaft wurde 1902 auf Anregung
Wilhelm Stekels von Freud in seinem Haus eingerichtet und von ihm
1907 beendet, um einer Vereinigung mit stärkerer Verbindlichkeit
und höherem Organisationsgrad Platz zu schaffen. Rank, seit 1905
Freuds Sekretär protokolliert ab 1906 die Gespräche der
Mittwochsgesellschaft; sie sind die ersten Aufzeichnungen der
psychoanalytischen Bewegung. Vollwertiges Mitglied der
Mittwochsgesellschaft wird Rank aber erst durch eine Reifeprüfung:
Vortrag vor der Mittwochsgesellschaft und Diskussion mit dessen
Mitgliedern. Zu Ranks Schriften gibt es das durchaus zutreffende
Urteil, es sei durchzogen von »darstellungsökonomischen Mängeln«
(Ungern-Sternberg, 1998, S. 14), die eine »beachtliche
Rezeptionsblockade« (ebd.) darstellten. Das ist dem scharfen Blick
des Gastgebers der Mittwochsgesellschaft nicht entgangen. Zu einem
Rankschen Vortrag merkt er an: »Zunächst einmal verstehen Sie es
nicht, sich einzuschränken und das ganze Thema scharf zu begrenzen…
Ein zweiter Fehler ist, daß Sie es nicht verstehen, Ihre
Erkenntnisse und Resultate zu demonstrieren; es genügt Ihnen, wenn
Sie die Sache selbst begreifen.« (S. 129) In den hier betrachteten
Zeitraum fällt die erste Begegnung zwischen Freud und Carl G. Jung
sowie Ranks Arbeit an »Der Mythus von der Geburt des Helden«
(1909).
Im 5. Kapitel: Die psychoanalytische Bewegung werden die Jahre 1907
– 1911 betrachtet. Es sind Jahre der Institutionalisierung,
Internationalisierung und Professionalisierung der Psychoanalyse.
1908, zwei Jahre vor der offiziellen Gründung der Wiener
Psychoanalytischen Vereinigung (WPV) als Verein, wurde die »Kleine
Vereinigung« durch eine Organisation(sform) ersetzt, die
wesentliche Züge der späteren WPV trug, weshalb als Gründungsjahr
der WPV oft 1908 angegeben wird. Im selben Jahr fand in Salzburg
der (heute so bezeichnete) 1. Internationale Psychoanalytische
Kongress statt, 1909 wird Freud (neben Jung) an die junge, aber
schon renommierte Clark University zu Vorträgen eingeladen und
erhielt dort die Ehrendoktorwürde und 1910 wird die Internationale
Psychoanalytische Vereinigung (IPV) gegründet. In deren erstem
Präsidenten Jung, ein »offizieller Psychiater« und »Nichtjude«, so
sein Anforderungsprofil des Führers der IPV, sieht Freud den Mann,
der der Psychoanalyse zu akademischem Ansehen verhelfen und sie vor
dem Verdikt des »jüdischen Sektierertums« bewahren soll. Hat die
junge psychoanalytische Bewegung hier personalen Zugewinn, so auf
der anderen Seite Verlust: Alfred Adler wird von Freud
theoretischer Differenzen wegen aus der WPV gedrängt, zahlreiche
Anhänger folgen ihm. In jenen Jahren werden in der WPV (ausweislich
deren Protokolle, einer der wichtigsten Quellen für Ranks Wiener
Jahre) Themen diskutiert, die Rank, der in dieser Periode erstmals
als klinischer Psychoanalytiker in Erscheinung tritt, später in der
für ihn typischen Art und Weise ausgestalten sollte:
(Gegen-)Übertragung, Terminierung der Therapie („aktive Therapie“)
und Bedeutung des Geburtsaktes.
Kapitel 6: Krieg und Heirat behandelt die Jahre 1911 – 1919. Es
sind die Jahre der – auch hier wegen theoretischer Differenzen
bedingten – Trennung von Freud und Jung, in deren Gefolge 1912/13
das (Geheime) Komitee gegründet wurde, eine neben den offiziellen
und demokratisch legitimierten Institutionen der frühen
psychoanalytischen Bewegung bestehende und einflussreiche
Geheimorganisation (mit allen dafür typischen Merkmalen). Während
des 1. Weltkriegs lief die psychoanalytische Druckpresse langsamer,
kam aber nie zum Stillstand. Treffen des Komitees aber können nicht
stattfinden: Jones (London) gehört zum »Feind«, Karl Abraham
(Berlin) und Ferenczi (Budapest) dienen als Militärärzte, Rank ist
zur Mitarbeit an einer Zeitschrift in Krakau verpflichtet – wo er
seine erste Ehefrau Beate (geb. Mincer) kennen lernt, die er gegen
Kriegsende (nach jüdischem! Ritus) heiratet und mit ihr schon 1919
eine Tochter Helene, sein einziges Kind, bekommt. Nach dem Krieg
arbeitet Rank als Analytiker, Redakteur (»Imago«, »Internationale
Zeitschrift für ärztliche Psychoanalyse«), Verleger
(Internationaler Psychoanalytischer Verlag) und »Ausbildungsleiter
für angehende Analytiker, die nach Wien kamen, und zwar
meistenteils aus den Vereinigten Staaten« (S. 222). Als
psychoanalytischer Schriftsteller tritt er 1911 mit »Die
Lohengrinsage« (damit wurde er 1912 von der Universität Wien
promoviert), 1912 mit »Das Inzestmotiv in Sage und Dichtung« sowie
1914 mit zwei Kapiteln in der vierten Auflage von Freuds
»Traumdeutung« in Erscheinung.
In diesem Abschnitt findet sich eine Tagebuchnotiz Lou
Andreas-Salomés über ein Treffen der WPV, auf dem Rank über
Königsmörder referierte und Freud ihr auf ein Blatt notiert haben
soll: »R. erledigt den negativen Teil seiner Sohnesliebe durch dies
Interesse für die Psychologie der Königmörder, darum ist er so
anhänglich.« (S. 206) Man darf diese Bemerkung wohl so verstehen,
dass Freuds damalige Zuneigung zu Rank echt war – aber eben auch
schon geprägt durch die Erfahrung von Adlers und Jungs
»Abfall«.
In Kapitel 7: Das Komitee nimmt dessen Darstellung den größten Raum
ein; seine Mitglieder werden vorgestellt und Konflikte im Komitee,
die meist London und Berlin auf der einen sowie Wien
(einschließlich Freud selbst) und Budapest auf der anderen Seite
sowie als bedeutsamste Kontrahenten Jones und Rank sehen,
skizziert. Die Darstellung des Kapitels endet mit dem Vorabend des
Erscheinens von »Das Trauma der Geburt« (Rank, 1924) und
»Entwicklungsziele der Psychoanalyse« (Ferenczi & Rank, 1924),
beide noch 1923 erschienen (Korrespondenzblatt IZP / IX / 1923 /
553;
http://www.luzifer-amor.de/fileadmin/bilder/Downloads/korrespondenzblatt_1910-1941.pdf,
S. 523). Kurz vor deren Erscheinen war bei Freud eine (nicht nur)
die Komitee-Mitglieder verwirrende lebensbedrohliche
Gaumenkrebserkrankung, an der er 15 Jahre später denn auch sterben
sollte, diagnostiziert und er deshalb operiert worden.
Ab 1913 korrespondierten die Mitglieder des Komitees in
»Rundbriefen« miteinander. Seit 2006 sind diese publiziert. In
seiner Rezension führte der Psychoanalytiker und
Psychoanalysehistoriker Bernd Nitzschke aus: »Das zentrale Thema
der Rundbriefe stellen vielmehr die latenten – und oft auch
manifesten – Eitelkeiten und die dadurch motivierten Streitigkeiten
der Männer dar, die sich zusammengefunden haben der ›Sache‹ zu
dienen – und sich dabei anzudienen versuchten. Jeder ›Sohn‹ hatte
die Hoffnung, eines Tages vom ›Vater‹ auserwählt und als dessen
Nachfolger auf den Thron gesetzt zu werden. Daß dies schließlich
keiner aus dem Männerbund, sondern eine Frau (Anna Freud) schaffte,
kann man als Ironie der Geschichte verstehen – oder als Ausdruck
eines ungenügend durchgearbeiteten und deshalb am Ende
verwirklichten Kastrationswunschs des Erfinders der Psychoanalyse
interpretieren.«
(http://www.werkblatt.at/nitzschke/rez/271.htm)
In einem Rundbrief vom November 1922, als der – über
Verlagsangelegenheiten ausgetragene – Konflikt zwischen Jones und
Rank auf dem Höhepunkt war, schrieb Freud in einem Rundbrief: »…ich
kann es doch nicht unterstützen, wenn irgendwo eine Neigung
bestehen sollte, Affekte, die mir gelten, an Rank zum Vorschein zu
bringen…« (S. 252-253). Kann, muss, ja soll man den Hass (das
scheint mir eine angemessene Bezeichnung), mit dem Jones Rank
selbst über dessen Tod hinaus verfolgte, nicht, nicht überwiegend
oder zumindest nicht auch verstanden werden dürfen als Fortsetzung
jener von Freud diagnostizierten Affektumleitung? Jones hatte allen
Grund, Freud selbst nicht anzugreifen: Der zum Freud-Retter
Stilisierte und als Freud-Biograph Autorisierte wäre ohne Freud
nichts gewesen; da verhielt es sich mit Rank anders. Und Grund,
Freud zu hassen, hatte Jones allemal: Freud hat ihn nicht nur in
Sachpunkten wie der Laien-Analyse oder der Zulassung von
Homosexuellen zum Analytiker öffentlich als Erzkonservativen
entblößt, er hat ihn auch immer wieder persönlich zurück gesetzt –
zuletzt, als alle männlichen Konkurrenten schon ausgeschieden,
hinter seine Tochter Anna.
Kapitel 8: Aktive Therapie und »Das Trauma der Geburt« betrachtet
hauptsächlich die erste Hälfte des Jahres 1924. Zu der Zeit zeigen
sich erste Risse in der Beziehung zwischen Freud und Rank und tiefe
Gräben im Komitee. Beide Prozesse sind nicht unabhängig von
einander und sie rühren von Kräften jenseits bloßer Auffassungs-
und Meinungsunterschiede her; von den sonstigen Gründen seien nur
die mit Ende des 1. Weltkriegs einsetzende und später in
Kalifornien endende »Westdrift« der Psychoanalyse und Freuds
schwindende Gesundheit genannt. Deutlich wird, dass das »Trauma«,
und damit zeigt es sich als echtes Geschwister der
»Entwicklungsziele«, weniger in theoretischer Hinsicht
wirkungsmächtig wurde als in behandlungspraktischer. Erst Anfang
der 1920er, so sei an dieser Stelle angemerkt, wird über die
psychoanalytische Behandlungstechnik öffentlich gesprochen (vgl.
Leitner, 2001).
Kapitel 9, die Jahre 1924 – 1926 betrachtend, ist mit Der Bruch mit
Freud nur zur Hälfte charakterisiert. Die andere – damit verwobene
Hälfte – müsste man mit »Ranks Debüt in den USA« überschreiben;
1924/25 unternahm er gleich drei USA-Reisen. Das Wort »Bruch« ist
eine irreführende Metapher; es suggeriert die Vorstellung von einer
einzigen heftigen Krafteinwirkung und einem schlagartigen Resultat
mit klaren Kanten. Die Trennung zwischen Rank und Freud war anders:
langwierig, mit Hin-und-Her, mit allem Seelendrama, mit Trennung,
Versöhnung und erneuter Trennung. Unter welchen seelischen
Schmerzen sich ein anderer Freud-Jünger frei machte, ist in
Ferenczis »Klinischem Tagebuch« nachzulesen.
In Kapitel 10: Unabhängigkeit werden die Jahre 1926 – 1930
betrachtet, Jahre, in denen Rank mit seiner Frau und Tochter in
Paris lebt, wichtige Bücher (fort)schreibt und als Psychotherapeut
arbeitet, in denen er aber immer wieder in die USA fährt: zu
Vorträgen, psychotherapeutischer Tätigkeit (v.a. in New York) und
Lehrtätigkeit an der New York School of Social Work auf Einladung
seiner früheren Analysandin Marion Kenworthy und der Pennsylvania
School of Social and Health Work (ab 1934 Pennsylvania School of
Social Work; künftig »Penn«) durch Vermittlung von Jessie Taft,
einer früheren Analysandin, mit der er bald ein freundschaftliches
und kollegiales Verhältnis entwickeln sollte, dem die Soziale
Arbeit wichtige und bis heute bedeutsame Impulse verdankt (ausf.
Müller, 2012; vgl. meine Rezension). Nicht erhalten konnte sich
Ranks Einfluss auf die Psychiatrie; hier schob das
psychoanalytische Establishment der USA 1930 einen eisernen Riegel
vor. Zu den wesentlichen Werken, die in dieser Zeit geschrieben und
veröffentlicht wurden, gehören die drei Bände »Technik der
Psychoanalyse« und die drei Bände »Grundzüge einer genetischen
Psychologie auf Grund der Psychoanalyse der Ichstruktur« (deren
dritter Band erst 1931 veröffentlicht wurde). In jener Zeit
vollendet wurde auch das Manuskript von »Kunst und Künstler«, das
zuerst aber 1932 in englischer Übersetzung publiziert wurde (die
Veröffentlichung des deutschen Originalmanuskripts erfolgte erst im
Jahre 2000!).
Auch wenn Rank im Titel der »Grundzüge« noch das Wort
»Psychoanalyse« verwendet, so hat er doch ein Verständnis von
Psychoanalyse, wie es in den zwanziger und dreißiger Jahren
vorherrschend und mit Herrschaftsanspruch auftretend war, bereits
weit hinter sich gelassen. Er streift das Alte ab. Das geht bei ihm
so weit, dass er im Mai 1930 auf einem großen internationalen
Kongress für Psychohygiene öffentlich und angesichts seiner Gegner,
die im Auditorium sitzen, erklärt: »Ich bin kein Psychiater, kein
Sozialarbeiter, kein Psychoanalytiker, nicht einmal ein
gewöhnlicher Psychologe, und, um Ihnen die Wahrheit zu sagen, ich
bin froh darüber.« (S. 373) Das macht es seinem mächtigsten
Gegenspieler in den USA, dem Psychiater und Psychoanalytiker
Abraham A. Brill leicht, seine Ausführungen als »ein Zeichen seiner
gegenwärtigen Fehlanpassung« (S. 377), als Symptom seiner
psychischen Krankheit, zu verunglimpfen.
Kapitel 11: Die Lebenskunst betrachtet die Jahre 1931 – 1933, Jahre
in Paris mit deutlich selteneren USA-Aufenthalten als zuvor. Es ist
die Zeit, zu der ein viertel Jahrhundert nach »Der Künstler« (1907)
mit »Art and Artist« (1932) das Buch erscheint, mit dem Rank einen
alten Faden wieder aufnimmt, sich auf der Höhe seines denkerischen
Könnens zeigt und weit über das Gebiet der Psychotherapie hinaus
bekannt wird. Anais Nin (s.u.) lernt er nur kennen, weil sie das
Buch gelesen und mit Henry Miller, der Ranks Patient wird, darüber
diskutiert hat. Mit »Art und Artist« ist nicht nur ein Höhepunkt
erreicht, sondern auch eine Wende markiert: Ab jetzt schreibt Rank
nur noch Weniges. Der Autor tritt zurück hinter dem Therapeuten und
Lehrer. Und außerdem will er jetzt »mehr leben«, sich von Altem
trennen (die Trennung von seiner Frau gehört dazu), »sich selbst
finden«.
Beim Lesen von Kapitel 12:Anais Nin muss man sich vergegenwärtigen,
dass Lieberman bei der Abfassung des Buches (Original: 1985) nicht
die erst später »unzensiert«, d.h. vollständig veröffentlichten
Pariser Tagebücher 1932 – 1934 von Nin (Original: »Incest« von
1992) kennen konnte. Die von ihm nach damaligem Kenntnisstand
geäußerte Vermutung, Rank und Nin hätten (auch) ein
Liebesverhältnis gehabt, ist nach heutigem Kenntnisstand eine
Tatsache. Und was für ein Liebesverhältnis es gewesen sein muss,
ahnt man bei Nins Worten: »Der Liebhaber in ihm ist der feurigste
und bewegendste, den ich jemals kennengelernt habe« (Nin, 1997, S.
451).
Liest man Nins Tagebucheinträge vom Sommer 1934 parallel mit den
zeitgleichen Angaben Tafts (1958) und Ranks (»am Ende begeistert
über den Erfolg des Sommerseminars«; S. 434) wird deutlich,
zwischen welch verschiedenen Welten Rank damals hin und her
pendelte. Von Mitte Juli bis Ende August 1934 leitete Rank in der
Fondation des Etats Unis in der Cité Universitaire in Paris ein
spezielles Seminar, das zum großen Teil von US-amerikanischen
Sozialarbeiter(inne)n besucht wurde; auch Taft und ihre
Lebenspartnerin und Kollegin Virginia Robinson waren dabei. Während
diese eine weite Reise auf sich genommen hatten, weil sie sich
weitere Professionalisierung vom Sommer-Institut erwarten durften
(Taft, 1958), ging Nin widerwillig – »weil ich keine Analytikerin
werden wollte« – und nur »Rank zuliebe« dorthin (Tagebucheintrag
vom 16. Juli 1934; Nin, 1997, S. 411). Im Tagebucheintrag vom 23.
Juli 1934 ist zu lesen: »Seminar bringt nichts ein« (Nin, 1997, S.
414), und zuvor hatte sie am 16. Juli 1934 notiert: »Die
Diskussionen sind pragmatisch, stumpfsinnig, wie alle
amerikanischen Fachgespräche. Für Ideen interessieren sie sich
nicht.« (Nin, 1997, S. 412)
Von Nin, die Rank 1934 auch nach New York folgte, und dem
Sommer-Seminar handeln lange Passagen des Buches. Daneben auch von
seiner verstärkten Tätigkeit in der Ausbildung von
Sozialarbeiter(inne)n an der US-amerikanischen Ostküste mit
Schwerpunkt an der »Penn«. Rank versicherte auf An- und Nachfragen,
»daß die Pennsylvania School keine Laienanalytiker ausbildete,
sondern bestrebt war, die psychologischen Fertigkeiten der
Sozialarbeiter zu verbessern« (S. 437).
Kapitel 13: Der Wille behandelt die letzten Jahre Ranks. Es sind
die Jahre mit Estelle Buel, die er in Paris kennen gelernt hatte,
mit der er seine US-amerikanischen Jahre verbringt und im letzten
viertel Jahr seines Lebens verheiratet war. Es ist die Zeit, in der
Kalifornien das Ziel seiner langen (Lebens-)Reise wird, ohne dass
er es je erreichen wird; seine »Erben im Geiste«, Carl Rogers und
Fritz Perls werden dort ein viertel Jahrhundert später
Psychotherapiegeschichte schreiben (vgl. Heekerens & Ohling, 2005).
Und es sind die Jahre, in denen er seinen Einfluss auf die Soziale
Arbeit, genauer: die Soziale Einzel(fall)hilfe (Social Casework)
und die Erziehungsberatung (Child Guidance) festigt (vgl. Ohling &
Heekerens, 2004). 1936 erscheinen die dreibändigen »Grundzüge«, von
Taft übersetzt, in New York in einem Band unter dem Titel »Truth
and Reality« und die Bände II und III der »Technik der
Psychoanalyse« in dem Buch »Will Therapy«. Beide Titel bringen im
Unterschied zu den Originaltiteln schlagwortartig zum Ausdruck,
worin sich Rank von Freud grundlegend unterscheidet (»Truth and
Reality«) und was den Kern der Rankschen (Therapie-)Theorie
ausmacht (»Will Therapy«).
Der Epilog, Kapitel 14 zeigt anhand der Nachrufe, wie gespalten die
Einschätzung Ranks nach seinem Tod bleibt. Auch der weitere Verlauf
der Nachgeschichte spiegelt die Verschiedenheit wieder. Deutlich
wird aber auch, dass Rank, oft ohne dass sein Name genannt würde,
in den Ideen vieler Psychotherapeut(inn)en, auch solchen, die als
»offizielle« Psychoanalytiker(innen) gelten, fortlebte und weiter
entwickelt wurde.
Im Anhang finden sich Veröffentlichungsgenehmigungen, ein
Verzeichnis der 35 Abbildungen in der Buchmitte, eine
Rank-Genealogie, eine Darstellung der Freud-Familie im Jahr 1905,
ein Stadtplan Wiens zu Freuds und Ranks Zeiten, eine
bio-bibliographische Gegenüberstellung von Freud und Rank sowie
eine Auflistung der psychoanalytischen Kongresse und Zeitschriften
zu Ranks Zeiten.
Es folgen die nach Kapiteln nummerierten und für die deutsche
Ausgabe modifizierten zahl- und umfangreichen Anmerkungen, eine für
die deutsche (Erst-)Ausgabe aktualisierte zweiteilige Bibliographie
(Ranks Werke sowie eine allgemeine Bibliographie) sowie ein
umfangreiches und detailliertes Personen- und Sach-Register.
Diskussion
Zu der vom Autor im 14. Kapitel betrachteten Nachgeschichte gehört
auch, wie Rank in der 1953–1957 veröffentlichten dreibändigen
Freud-Biographie von Jones, dem damals mächtigsten Psychoanalytiker
der Welt, charakterisiert wurde. Was Rank nach seiner Trennung von
Freud anbelangt, so wird er zusammen mit seinem früheren
Weggefährten Ferenczi postum in die Irrenanstalt eingewiesen: »Bei
beiden entwickelten sich psychotische Erscheinungen, die sich unter
anderem darin äußerten, daß sie sich von Freud und seinen Lehren
abwandten.« (Jones, 1984, S. 62; englischsprachiges Original 1957)
So konnte man es 1984 in der dtv-Ausgabe von Jones’
Freud-Biographie lesen – und nur ein Jahr später erschien das
amerikanische Original des vorliegenden Buches! Man ahnt, gegen
welchen (Un-)Geist Lieberman damals anschrieb. Es ist sein
bleibender Verdienst, Rank mit seinem Werk das Denkmal gesetzt zu
haben, das diesem Mann gebührt.
Es gibt in diesem Buch Weniges, dem aus sachlichen Gründen zu
widersprechen wäre, und selbst wenn man hie und da Fehler findet
und anderer Meinung sein darf, so ändert das wenig an dem
Gesamtbild, das hier von Ranks Leben und Werk gezeichnet wird, und
schmälert nicht die Leistung, die Lieberman mit diesem Buch
vollbracht hat. Mit diesen Worten im Hinterkopf möge man die
nachfolgenden kritischen Anmerkungen lesen, deren Sinn und Zweck
darin besteht, dem Buch noch mehr die Klarheit zu geben, die es
verdient.
Da heißt es im Bericht über den Budapester Kongress von 1918
beispielsweise: »Angesichts des bevorstehenden Endes des Krieges
und des österreichisch-ungarischen Reiches waren die Teilnehmer des
Fünften Internationalen Psychoanalytischen Kongresses bester
Stimmung.« (219) Die Teilnehmer waren fast ausnahmslos
Österreicher, Ungarn oder Deutsche! Es fällt schwer, dem Autor so
viel Wirklichkeitsverkennung, wie sie aus dem Satz spricht, zu
unterstellen; möglicherweise liegt hier ein Übersetzungsfehler oder
ein Druckfehler vor. Sinnlos erscheint auch der Satz: »Biologische
und soziale Ganzheit hingegen sei ohne ›durch die positive
Gefühlsbeziehung der Liebe‹ erreicht werden – das war für Rank die
eigentliche Aufgabe der Psychotherapie.« (S. 362)
Und dann gibt es sachlich Unzutreffendes. Als falsch muss man
Brills Kennzeichnungs als »ungarisch-amerikanischer Psychiater« (S.
163) ansehen. Brill, einer der frühesten und aktivsten Exponenten
der Psychoanalyse in den USA, geboren 1874 im heute zu Polen,
damals zu Österreich gehörenden Teil Galiziens, emigrierte von dort
– wie viele andere – als Jugendlicher alleine und ohne Vermögen in
die USA. Aus Galizien stammen viele Psychoanalytiker selbst oder
deren Vorfahren. Auf S. 165 erklärt der Autor, der Begriff
»Dementia präcox« sei von Eugen Bleuler 1911 durch den der
»Schizophrenie« ersetzt worden. Diese Datierung ist falsch. Der
Begriff »Schizophrenie« wurde von Bleuler am 24. April 1908 in
Berlin auf einer Sitzung des Deutschen Vereins für Psychiatrie
erstmals öffentlich vorgestellt
(http://ajp.psychiatryonline.org/article.aspx?articleID=100311). Im
selben Jahr veröffentlichte Bleuler den Artikel »Die Prognose der
Dementia praecox (Schizophreniegruppe)« in der »Allgemeinen
Zeitschrift für Psychiatrie und psychischgerichtliche Medizin«.
Tatsächlich aus dem Jahr 1911 stammt Bleulers Buch »Dementia
praecox oder die Gruppe der Schizophrenien«; aber da war die
deutschsprachige Psychiatrie – und auch viele US-amerikanischen
Psychiater konnten Deutsch – schon seit drei Jahren über
»Schizophrenie« informiert.
Auf S. 182 schreibt der Autor: »Der zweite Kongress der
Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPV) fand am 30.
März 1910 in Nürnberg statt.« Dieses Nürnberger Treffen vom
30./31.3.1910 kann man sicher als 2. Internationalen
Psychoanalytischen Kongresses bezeichnen – nicht den der IPV. Die
nämlich wurde, was der Autor nicht erwähnt, eben dort erst
gegründet!
Im o. g. Bericht über den Budapester Kongress, der noch vor dem
Zusammenbruch der k. u. k. Monarchie stattfand, findet sich die
Notiz »Ferenczi erhielt einen Ruf, an der Universität Vorlesungen
über Psychoanalyse zu halten« (S. 219). Die Vorstellung, Ferenczi
könnte zu k. u. k. Zeiten einen solchen Ruf erhalten haben,
verkennt sowohl Ferenczi als auch das k. u. k. System. Erst als der
Krieg zu Ende war, die k. u. k. Monarchie ihr (wohl verdientes)
Ende gefunden hatte, Ungarn ein politisch eigenständiger Staat war
und die »Asternrevolution« vom Spätjahr 1918 eine linksliberale
Regierung unter der Führung des »roten Grafen« Mihály Károlyi an
die Macht gebracht hatte, war es so weit. Jetzt wurde Ferenczi
(wohl) Anfang 1919 über eine Studentenpetition zum Professor (bzw.
zu einer der ordentlichen Professur gleichwertigen Stellung) für
Psychoanalyse an der Universität Budapest berufen; die erste
Professur für Psychoanalyse und für lange Jahre die einzige. Die im
März 1919 an die Macht gekommene Räteregierung bestätigt die
Berufung, die aber 1920 nach der Machtergreifung des
präfaschistischen Regimes Miklós Horthys sogleich annulliert
wurde.
Und da wir schon beim 1. Weltkrieg sind: Über die damalige
geopolitische Lage Krakaus, wo Rank Dienst leisten musste, sagt der
Autor, es habe »damals am östlichsten Zipfel des Habsburgerreiches«
(S. 216) gelegen. Oh nein, bis zum »östlichsten Zipfel«, noch
hinter Lemberg (Lwiw, heute Ukraine) gelegen, waren es noch mehr
als 400 km Luftlinie. Und dort, im östlichen Teil Galiziens fanden
die für die k. u. k. Armeen mit schweren Verlusten verbundenen
Kämpfen mit Russland statt. Lemberg war Front, Krakau Etappe.
Zu der noch vor Kriegsausbruch stattfindenden Gründung des Komitees
liest man auf S. 208: »Jones hatte als erster die Idee, einen
geheimen inneren Kreis zu bilden…« Damit übernimmt der Autor die
vom psychoanalytischen Mainstream unter Verweis auf eine dahin
gehende Aussage Freuds lange unkritisch tradierte Darstellung. Die
Wahrheit ist: Die Idee stammt von Ferenczi, Jones aber hat sie
selbst später für sich reklamiert (vgl. Zienert-Eilts, 2013, S.
131). So baut man sich, wenn der eine Kronprinz (Jung) von der
Erbfolge ausgeschlossen ist, als der nächster (auch Jones war
»Nichtjude« und »offizieller Psychiater«) auf. Und Jones’ Rechnung
sollte aufgehen.
Um beim 6. Kapitel zu bleiben: Es verwundert bei einem Autor, der
nicht müde wird aufzuzeigen, wie sehr Rank zumindest bis Ende des
letzten Jahrhunderts verkannt, unterschätzt und totgeschwiegen
wird, dass er zu Ranks (Dissertations-)Schrift »Die Lohengrinsage«
(1911) nicht anmerkt, (auch) bezüglich dieser Schrift würde Rank
Unrecht getan. Bis heute wird die Ehre, auf dem Gebiet der
psychoanalytischen Literaturwissenschaft Pionierarbeit geleistet zu
haben nicht ihm, sondern – und zwar ohne dass er als möglicher
»Mitpionier« überhaupt genannt würde – Theodor Reik zuteil. Ich
zitiere zur Demonstration aus den englisch- und deutschsprachigen
Wikipedia-Artikeln beim Stand vom 1. August 2014: Da heißt es, Reik
Dissertation »was the first psychoanalytic dissertation ever
written« (http://en.wikipedia.org/wiki/Theodor_Reik) und seine
(Dissertations-)Schrift »Flaubert und seine ›Versuchung der
heiligen Antonius‹. Ein Beitrag zur Künstlerpsychologie« sei »die
erste auf psychoanalytischer Grundlage stehende literaturkritische
Studie« (http://de.wikipedia.org/wiki/Theodor_Reik). Rank wie Reik
wurden 1912 an der Universität Wien promoviert, Ranks Buch wurde
schon 1911 publiziert – und zwar als 13. Heft der von Freud
herausgegebenen »Schriften zur Angewandten Seelenkunde«. Das von
Reik aber erst 1912 – bei Bruns in Minden, damals bekannt für sein
belletristisches Programm. Man kann sich über beide Bücher übrigens
leicht sein eigenes Urteil bilden; die International Psychoanalytic
University Berlin hat sie im Internet zugänglich gemacht
(https://archive.org/details/SzaS_13_Rank_1911_Die_Lohengrinsage
bzw. https://archive.org/details/Reik_1912_Flaubert_k).
In einem späteren Kapitel bezeichnet der Autor Carolin Newtons als
»Laienanalytikerin« (S. 357). Diese Bezeichnung ist zumindest
fragwürdig. »Miß Caroline Newton«, wie sie 1924 im
Korrespondenzblatt (IZP / X / 1924 / 244;
http://www.luzifer-amor.de/fileadmin/bilder/Downloads/korrespondenzblatt_1910-1941.pdf,
S. 591) genannt wird, hatte Psychoanalytikerin werden wollen, aber
die gänzlich gegen die Laien-Analyse, die Analyse Erwachsener durch
Nicht-Ärzte, eingestellte New Yorker Psychoanalytische Vereinigung
hatte ihr, die sie seit 1924 Mitglied der WPV war, 1925 die
Mitgliedschaft verweigert, worauf hin sie ihren Plan aufgab (ausf.
Fallend, 2012). Definitiv falsch ist die Angabe, ihr Vater sei »ein
prominenter Psychologe« (S. 357) gewesen; es gibt nichts, was A.
Edward Newton, der als Buchsammler berühmt wurde
(http://en.wikipedia.org/wiki/A._Edward_Newton), als »Psychologen«
zu bezeichnen rechtfertigen würde.
Schließlich gibt es Punkte, an denen ich zu anderer Einschätzung
komme. Ungerechtfertigt scheint mir folgende Bewertung Nins: »Nin
war eine wilde Verführerin, deren Affäre mit Rank ihrerseits durch
Lug und Trug charakterisiert war.« (S. 18) Zu »Lug und Trug« trägt
der Autor keine Belege bei, und angesichts der neuerdings
zugänglichen »unzensierten« Nin-Tagebücher erscheint der Vorwurf
nur mehr absurd. Ein zweiter Punkt: Ranks in jungen Jahren
erfolgter »Austritt aus dem Judentum« in die Konfessionslosigkeit
und seine Namensänderung von Rosenfeld zu Rank werden vom Autor so
gewertet: »Er begann damit, ein anderes Selbst zu schaffen, eine
neue Persönlichkeit, sein eigenes Schicksal zu gestalten.« (S. 51)
Diese Interpretation halte ich für übertrieben; eine soziologische
Begründung ist der psychologischen vorzuziehen. Was der junge Rank
tat, haben in der k. u. k. Monarchie Zehntausende von Juden getan;
es ist Teil des Phänomens »Assimilation«. Man denke nur etwa an
Freud, der seinen ersten Vornamen Sigismund in den
»unauffälligeren« Sigmund verwandelte und den zweiten, Schlomo,
ganz wegließ; an dem konnte man nichts »verbessern«.
In Kapitel 5, wo die Jahre 1907 – 1911 behandelt werden, geschehen
zwei Dinge, die nach meiner Meinung vom Autor in ihrer Bedeutung
für Ranks späteres Weggehen von Freud und Wien unterschätzt werden.
Da ist einmal das Hinausdrängen Adlers, des Hausarztes und
väterlichen Freundes, der Rank zur Psychoanalyse gebracht hatte und
mit dem er bedeutsame »dissidente« Vorstellungen teilt; Rank hat
hier zwar nicht am eigenen Leib, aber in Leibesnähe miterlebt, wie
selbst ein verdienter und hochrangiger Psychoanalytiker von Freud
verstoßen werden konnte, falls dessen eigenständiges Denken von
Freud nicht als »Fortentwicklung«, sondern als »Abweichung«
gedeutet wurde. Ab jetzt konnte und musste Rank wissen, welches
Risiko er selbst eingeht und in welche Gefahr er sich begibt. Und
da ist dann zweitens Freuds Beziehung zu Jung, deren emotionale
Tiefe und Intensität vom Autor unterschätzt wird – offensichtlich,
weil er zu wenig von Freuds »homoerotischen Verstrickung mit Jung«
(Zienert-Eilts, 2013, S. 88) wusste. Stellt man diese in Rechnung,
darf man annehmen, Rank habe damals die Erfahrung gemacht, er sei
nicht der einzige »Lieblingsjünger« Freuds, ja ein ersetzbarer.
Und auch in einem weiteren Punkte komme ich zu einer anderen
Einschätzung. Drei Tage nach seinem Berliner
»Schizophrenie«-Vortrag sitzt Bleuler im Auditorium des Salzburger
Kongresses. Das kann schwerlich am »Ostersonntag 1908« gewesen
sein; der nämlich fiel damals nach römisch-katholischer Zählung –
und für Salzburg zählt nur die – auf den 19.4.
(http://www.maa.mhn.de/StarDate/feiertage.html), der Kongress aber
fand ausweislich des »Programm(s) für die Zusammenkunft in
Salzburg« am 26. (Anreise) und 27. (Vorträge) statt. Wichtiger
aber: Der Autor hat offenbar keine Vorstellung davon, dass auf dem
damaligen Kongress für Freud Bleuler, dessen Anwesenheit vom Autor
nicht einmal erwähnt wird, die wichtigste Person war. So aber sieht
es der auch von Lieberman hoch geschätzte Psychoanalyse-Historiker
Ernst Falzeder: »Für Freud war Bleuler von unschätzbarem Wert in
seiner Absicht, in etablierten akademischen Kreisen anerkannt zu
werden, einen Fuß in die Tür der deutschsprachigen Psychiatrie zu
gewinnen, ja die Psychiatrie zu ›erobern‹, wie er an Bleuler
schrieb (…), sowie die ›Gefahr‹ von der Psychoanalyse abzuwenden,
›eine jüdisch nationale Angelegenheit zu werden‹ (…).« (Falzeder,
2008)
Ein Letztes. Zu der Bemerkung »Sándor Ferenczi, der nach Rank sein
(Freuds; d. Verf.) Lieblingsschüler war« (S. 97) muss man fragen:
Wer will dies mit der Gewissheit, die die historische Forschung
einer Tatsachenbehauptung als Forderung auferlegt, denn eigentlich
wissen? Freuds Äußerungen selbst bieten keinen festen Grund. Er hat
doch, wie der Autor selbst an anderer Stelle schreibt, die
Konkurrenz unter seinen Schülern fortlaufend geschürt (divide et
impera!); eindrucksvoll hat das zuletzt Karin Zienert-Eilts (2013)
in ihrer Abraham-Biographie gezeigt. Ist denn nicht eine
»Rangreihung im Lieblingsschülerstatus« – wenngleich unbeabsichtigt
– die Fortsetzung jenes Freudschen Stils. Man sollte Rank und
Ferenzci in ihrer Freundschaft und Verbundenheit sehen, in die
Freud erst (1924/25) den Keil trieb, um sie später wieder darin zu
vereinen, dass er sie beide, zuerst Rank, später Ferenczi
verdammte. Zu Zeiten, als dieses Verdammungsurteil noch zum festen
Bestandteil des psychoanalytischen Mainstreams gehörte
charakterisierte Erich Fromm die beiden im Jahre 1955 als »die
beiden einzigen produktiven und einfallsreichen Jünger aus der
ursprünglichen Gruppe, die nach Adlers und Jungs Abfall geblieben
waren (Fromm, 1984, S. 116). Und beide haben – gleichermaßen und
ohne, dass ihre Spuren sauber zu unterscheiden wären – ihre
Fußabdrücke hinterlassen sowohl in der modernen Psychoanalyse wie
in der Experienziellen Psychotherapie (Heekerens & Ohling,
2005).
Fazit
Das vorliegende Buch empfiehlt sich allen zur Lektüre, die an
Psychotherapie und ihrer Geschichte interessiert sind. In
Bibliotheken hochschulischer Ausbildungsstätten in Klinischer
Psychologie, Klinischer Sozialarbeit und Sozialer Arbeit sollte es
nicht fehlen. Sozialarbeiter(innen), die verstehen wollen, was an
psychologischem und psychotherapeutischem Erfahrungs- und
Gedankengut hinter der »Funktionalen Schule« des Sozialen Casework
(ausf. Müller, 2012) steht, kommen ohne das vorliegende Buch nicht
aus.
Ergänzende Literaturnachweise
Fallend, K. (2012). Caroline Newton, Jessie Taft, Virginia
Robinson: Spurensuche in der Geschichte der Psychoanalyse und
Sozialarbeit. Wien: Löcker.
Falzeder, E. (2008). Die geplante Eroberung der Psychiatrie. Das
Burghölzli und Freud. Vortrag, gehalten am Treffen „Aus den
Anfängen der Institutionalisierung der Psychoanalyse“ aus Anlaß der
100-Jahr-Feier des ersten internationalen psychoanalytischen
Treffens Salzburg, Hotel Bristol, 26. April 2008 (das Ms kann beim
Rezensenten angefordert werden).
Fromm, E. (1984). Das Christusdogma und andere Essays. München: dtv
(englischsprachiges Original: 1955).
Heekerens, H.-P. & Ohling, M. (2005). Am Anfang war Otto Rank: 80
Jahre Experienzielle Therapie. IntegrativeTherapie, 31, 276-293
(kann als pdf-Datei vom Rezensenten angefordert werden).
Janus, L. (Hrsg.) (1998). Die Wiederentdeckung Otto Ranks für die
Psychoanalyse. psychosozial, 21(3).
Jones, E. (1984). Sigmund Freud: Leben und Werk Bd. III. München:
dtv (englischsprachiges Original 1957).
Leitner, M. (1998). Freud, Rank und die Folgen. Ein
Schlüsselkonflikt für die Psychoanalyse. Wien: Turia + Kant.
Leitner, M. (2001). Ein gut gehütetes Geheimnis. Die Geschichte der
psychoanalytischen Behandlungs-Technik von den Anfängen in Wien bis
zur Gründung der Berliner Poliklinik im Jahr 1920. Giessen:
Psychosozial- Verlag.
Lieberman, E. J.(1998). Über „Das Trauma der Geburt“. In L. Janus
(Hrsg.), Die Wiederentdeckung Otto Ranks für die Psychoanalyse.
Psychosozial, 73, 9-12.
Müller, B. (2012). Professionell helfen: Was das ist und wie man
das lernt. Die Aktualität einer vergessenen Tradition Sozialer
Arbeit. Ibbenbüren: Münstermann.
Nin, A. (1997). Trunken vor Liebe – Intime Geständnisse, Bern –
München – Wien: Scherz (Original 1992).
Ohling, M. & Heekerens, H.-P. (2004). Otto Rank und die Soziale
Arbeit. neue praxis, 34, 355-370 (kann als pdf-Datei vom
Rezensenten angefordert werden).
Taft, J. (1958). Otto Rank. New York: The Julian Press.
Ungern-Sternberg, W. v. (1998). Otto Rank in seiner Wiener Zeit
zwischen Psychoanalyse und Philologie: Eine Problemskizze. In L.
Janus (Hrsg.), Die Wiederentdeckung Otto Ranks für die
Psychoanalyse. Psychosozial, 73, 13-37.
Zienert-Eilts, K. (2013). Karl Abraham. Eine Biografie im Kontext
der psychoanalytischen Bewegung. Gießen: Psychosozial-Verlag.
Rezensent
Prof. Dr. Dr. Hans-Peter Heekerens, Hochschullehrer für
Sozialarbeit/Sozialpädagogik und Pädagogik an der Hochschule
München
Zitiervorschlag
Hans-Peter Heekerens. Rezension vom 10.09.2014 zu: E. James
Lieberman: Otto Rank. Leben und Werk. Psychosozial-Verlag (Gießen)
2014. 620 Seiten. ISBN 978-3-8379-2362-9. In: socialnet
Rezensionen, ISSN 2190-9245,
http://www.socialnet.de/rezensionen/16563.php.
www.socialnet.de