Rezension zu Sigmund Freud und Otto Rank
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Rezension von Prof. Dr. Dr. Hans-Peter Heekerens
E. James Lieberman, Robert Kramer (Hrsg.): Sigmund Freud und Otto
Rank
Thema
In dem Buch werden rund 250 Briefe aus dem Briefwechsel zwischen
Sigmund Freud und Otto Rank dargestellt. Der zeitliche Rahmen eines
viertel Jahrhunderts zwischen 1906 und 1925 erklärt sich, wenn wir
Anfang und Ende betrachten. Rank wurde kurze Zeit nach dem Treffen
der beiden 1905 Freuds Sekretär, als welcher er ab 1906 die
Gespräche der »Mittwochsgesellschaft« (»Psychologische
Mittwochs-Gesellschaft«), einer (informellen) Vorläuferin der
späteren (und formellen) Wiener Psychoanalytischen Vereinigung
(WPV), protokollierte. Im April 1926 stattete Rank Freud seinen
Abschiedbesuch ab, nachdem es zwischen den beiden – beginnend
1923/24 – zu einem Prozess wechselseitiger Entfremdung gekommen
war.
Die Rank-Freud-Briefsammlung umfasst insgesamt 1240 Briefe; damit
ist sie größer als die von Abraham-Freud und Jones-Freud, aber
kleiner als der Briefwechsel Freuds mit Sándor Ferenczi. Mit dem
korrespondierte er aber auch einige Jahre länger, und vor allem
wohnte Ferenczi »außerhalb«: nämlich in Budapest. Freud und Rank
aber wohnten nicht weit voneinander, die meiste Zeit in fußläufigem
Abstand, und sie trafen sich aus beruflichem wie privatem Anlass
oft – im Regelfall mindestens ein Mal die Woche. Daher verwundert
es nicht, dass die meisten Briefe verfasst wurden, wenn einer der
beiden oder beide außerhalb Wiens waren. Die hier vorgestellten
Briefe sind nur eine, aber eben doch eine bedeutsame Quelle zur
Klärung der Freud-Rank-Beziehung im Kontext der frühen
Psychoanalyse (der »Sache«, wie beide zu sagen pflegten).
Als zweite Quelle sind die Briefe an Dritte zu nennen, in denen
sich der eine über den anderen in solcher Weise äußert, dass es
zugleich als Definition der Beziehung mit ihm gelesen werden kann.
Beispiele dafür finden sich in vorliegendem Buch einige; etwa in
Briefen Freuds an Jung (S. 21) oder an Jones (S. 27) Als Drittes zu
nennen sind all die in beider Publikationen zu findenden
Bezugnahmen des einen auf den anderen, wie sie beispielsweise in
Liebermans Rank-Biographie (vgl. meine Rezension) dargestellt sind.
Eine dritte Quelle stellen die von Rank zwischen 1906 und 1918
erstellten Protokolle der WPV bzw. deren Vorläuferin dar; sie
wurden durch Hermann Nunberg und Ernst Federn zugänglich gemacht
(»Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung Band I-IV«,
Psychozocial-Verlag, 2008). Als vierte Quelle dienlich sein können
einige »Komitee-Rundbriefe« (1913 – 1927), die von Gerhard
Wittenberger und Christfried Tögel heraus gegeben wurden (in vier
1999 – 2006 bei edition diskord erschienenen Bänden).
Welchen Stellenwert die in vorliegendem Buch versammelten
Freud-Rank-Briefe als Quelle zur Einschätzung derer Beziehung und
als Dokumente für die Frühzeit der psychoanalytischen Bewegung
haben, umreißen Lieberman und Kramer so: »Die Freud-Rank-Briefe
sind mehr als ein Lückenfüller in der Geschichte von Theorie,
Praxis und Organisation der Psychoanalyse. Sie lassen in
dramatischer Weise die Wechselwirkung von Persönlichkeit und
Profession, von Theorie und Praxis erkennen.« (S. 10-11)
Dergleichen Inszenierung kann nur gelingen, wenn man gerade keine
»historisch-kritische Edition« des Briefwechsels beabsichtigt; eine
solche ließe die Dokumente, versehen (allenfalls) mit Anmerkungen
und/oder Einleitung(en) weitestgehend für sich selbst sprechen –
was freilich nur für die Ohren weniger Spezialist(inn)en
verständlich sein könnte. Stattdessen unternehmen Lieberman und
Kramer den – durch Begriffe wie »Anmerkungen« und »Einleitungen«
nicht mehr gedeckten – Versuch, die Briefe für die Rekonstruktion
(bestimmter Teilbereiche) der frühen analytischen Bewegung
einzusetzen. Unabhängig davon, wie externe Beobachter(innen) das
Gelingen dieses Vorhabens beurteilen mögen, ist damit eines klar:
Bloße »Herausgeber« sind Lieberman und Kramer nicht; sie sind weit
mehr »Autoren« als sich das mit »Herausgeberschaft« vereinbaren
lässt.
Autoren
E. James Lieberman, Doktor der Medizin und Master of Mental Health
war Klinischer Professor des Department of Psychiatry and
Behavioral Sciences der George Washington University School of
Medicine and Health Science, Washington sowie als Erwachsenen- und
Familienpsychiater praktizierend in privater Praxis und am Family
Institute, Washington (ausf. http://www.ejameslieberman.net/). Er
ist bekannt geworden durch seine 1985 im englischen Original und im
Psychosozial-Verlag 2014 in zweiter deutscher Auflage erschienene
Rank-Biographie „Otto Rank. Leben und Werk“.
Robert Kramer ist ein international agierender Personal- und
Organisationsentwickler
(http://www.washingtonindependentreviewofbooks.com/reviewer/robert-kramer
). Er hat sich einen Namen gemacht mit dem Buch »Otto Rank. A
Psychology of Difference: The American Lectures« (Princeton:
Princeton University Press, 1996), in dem er 22 Vorträge, die Rank
zwischen 1924 und 1938 in den USA gehalten hat, gesammelt sowie mit
Einleitungen und Anmerkungen versehen hat; 18 von ihnen sind Ranks
post-Freud-Phase zuzuordnen. Wenn man wissen will, wie Kramer
Personal- und Organisationsentwicklung und Rank zusammen bringt,
lese man seinen 2012 im American Journal of Psychoanalysis (72,
326-351) erschienenen Artikel »Otto Rank on Emotional Intelligence,
Unlearning and Self-Leadership« (als Download verfügbar unter:
http://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=2194018).
Übersetzerin
Die Anglistin Antje Becker ist eine (auch) in den Bereichen
Psychologie und Psychoanalyse erfahrene Übersetzerin, die seit
einem Jahrzehnt für den Psychosozial-Verlag tätig ist (vgl.
http://www.rotpunkt-texte.de/).
Entstehungshintergrund
Das vorliegende Buch basiert auf dem 2012 in der Johns Hopkins
University Press, Baltimore erschienen Buch »The Letters of Sigmund
Freud and Otto Rank: Inside Psychoanalysis« (hrsg. von Lieberman &
Kramer). Ich sage bewusst »basiert auf« und vermeide das Wort
»Übersetzung«. Das vorliegende Buch ist in seiner Gesamtheit
keineswegs eine bloße »Übersetzung« der »Letters«. Übersetzt wurde
lediglich der von den Herausgebern/Autoren verfasste Text, nicht
aber die in den »Letters« in englischer Übersetzung gänzlich oder
in Ausschnitten zitierten in deutscher Sprache verfassten Briefe
zwischen Freud und anderen Analytikern als Rank; die werden nach
edierten Briefwechseln (etwa zwischen Freud und Karl Abraham,
Ferenczi oder Carl Gustav Jung) zitiert. Auch die dargebotenen
Briefe Freuds und Ranks sind keine (Rück-)Übersetzungen; vielmehr
werden sie (mit Ausnahme zweier kleiner Briefausschnitte, für die
kein deutscher Text vorlag; s. S. 347) nach dem deutschen
Originaltext wiedergegeben. Damit ist das Buch Anderes und mehr als
eine bloße »Übersetzung«; hier liegt die Erstpublikation des
relevanten Freud-Rank-Briefwechsels im Original vor.
Freilich: Man muss diese Aussage mit Fragezeichen versehen. Denn
den im vorliegenden Buch präsentierten Briefen liegen nicht etwa
die Originalbriefe oder Faksimiles zu Grunde, sondern eine in den
USA in Liebermans und Kramers Auftrag erstellte und elektronisch
gespeicherte Abschrift. Wie genau diese ist, lässt sich ohne
Einsicht in die handschriftlichen Originale nicht ermitteln. Dass
sie mit Fehlern behaftet sein dürfte, ist nach aller Erfahrung
anzunehmen; mehr dazu im Diskussionsteil. Hier aber dies: Man
erfährt über die eben geschilderten Details des Zustandekommens der
Brief-Texte kein Wort! Ohne Kenntnis der »Letters« und
quellenkritische Vorbildung wäre der Rezensent nicht auf die Idee
gekommen, an diesem Punkte, der bei der Herausgabe eines
Briefwechsels – auch eines, der keinen Anspruch auf
»historisch-kritische Edition« erhebt – essentiell ist,
nachzufragen. Frau Becker hat meine Fragen mit hoher Kompetenz
beantwortet – und dabei gezeigt, dass sie am Entstehen des
vorliegenden Buches in weit größerem Umfang mitgewirkt hat, als das
mit »Übersetzerin« gemeinhin bezeichnet wird.
Aufbau und Inhalt
Nach dem Inhaltsverzeichnis und einem Dank an die finanziellen
Unterstützung der deutschen Ausgabe – darunter Ludwig Janus
(Herausgeber von »Die Wiederentdeckung Otto Ranks für die
Psychoanalyse«. Psychosozial, 1998, 73) – findet sich ein Vorwort,
das Angaben zu Fundorten der herangezogenen Briefe macht und
gewisse Lesehilfen gibt, und danach eine Einleitung, die auf drei
Seiten den Horizont, in dem die Freud-Rank-Beziehung zu sehen ist,
eröffnet.
In Kapitel 1 Die Wiener Psychoanalytische Vereinigung (1906-1910)
werden die ersten fünf Jahre der ersten Ortsgruppe von
Psychoanalytiker(inne)n kurz beleuchtet; Rank steht nicht im
Zentrum der Betrachtung und ein Freud-Rank-Briefwechsel scheint
nicht stattgefunden zu haben; entsprechende Briefhinweise oder
-zitate finden sich jedenfalls nicht.
2 Alfred Adler weicht ab (1911)
Im Jahr 1911 macht Rank Bildungsreisen nach Griechenland und
Italien und liest in Maria Wörth (am Korrekturfahnen seiner
Dissertationsschrift (»Lohengrinsage«). Die räumliche Trennung von
Freud macht Briefe notwendig, von denen sich hier sechs finden. Zu
Adler, der Anfang 1911 von Freud aus der WPV gedrängt wurde, findet
sich in den Briefen nahezu keine Bemerkung. Wir wissen, weil er
auch später darüber schwieg, nicht, wie Rank das Hinausdrängen
Adlers empfand. Wir wissen aber: Adler war der Hausarzt Ranks, er
hat ihn zu Freud gebracht und mit ihm teilte er manche »dissidente«
Meinung. Aber Rank schreibt ja hier an Freud, und dem gegenüber
zeigt er Loyalität, die an Devotion grenzt. Zur Illustration: Als
er sich nicht sicher ist, ob er auf dem anstehenden Weimarer
Kongress referieren soll (er tat es schließlich), ersucht er Freud
im Brief vom 30. August 1911 um Entscheidungshilfe mit den Worten:
»Bitte mich aus psych. Konflikt durch einen Imperativ, den ich mit
nachträglichem Gehorsam befolgen werde, zu befreien.« (S. 35)
3 Über Jung wird gerichtet (1912-1913)
Jung war von 1910 bis 1914 (der erste) Präsident der
Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IVP), aber
spätestens auf dem unter seiner Leitung stattfindenden Kongress
1913 in München wurde offensichtlich, was seit dem Vorjahr im
Verborgenen schwelte: dass Freud und seine Gefolgsleute ihn nicht
länger in der Bewegung haben wollten; wie Adler galt er als
»Abweichler« und wurde aus der IPV gedrängt.
Im vorliegenden Kapitel sind drei Briefe Freuds an Rank aus
Südtirol bzw. dem Trentino sowie ein Brief Ranks an Freud zu
finden. Dieser Rank-Brief vom 11. Februar 1913 – Rank ist seit dem
letzten Herbst promoviert – ist unter dem Briefkopf »Internationale
Zeitschrift für ärztliche Psychoanalyse« geschrieben. Diese
Zeitschrift, die 1920 in »Internationale Zeitschrift für
Psychoanalyse« (Chefredakteur: Rank) umbenannt wurde, war eben erst
von Freud gegründet worden, weil Wilhelm Stekel, die Kontrolle über
das »Zentralblatt für Psychoanalyse«, das er seit dessen Gründung
1910 redigierte, nicht abgeben wollte. Für Freud galt auch Stekel
als »Abweichler«, den er aus der WPV drängte. Im Beirat der neuen
Zeitschrift saßen daher nur »Linientreue«: Ferenczi, Ernest Jones
und Rank; der erste und der letzte fungierten als Redakteure. In
besagtem Brief schlägt Rank einen recht selbstbewussten Ton an.
Freud seinerseits behandelt Rank in seinen Briefen als Vertrauten
und spart auch ihm selbst gegenüber – vor anderen hat er Rank
ebenfalls heraus gestellt – nicht mit Lob.
Die Beziehung zwischen den beiden Männern wird egalitärer. Und das
zeigt sich auch (die Briefe der nächsten zwei Kapitel mit in den
Blick nehmend) in der Anrede: Schrieb Rank noch 1911 »Hochverehrter
Herr Professor« so 1913 »Lieber, verehrter Professor« (11. Februar
1913 und 24. Juli 1913) oder »Lieber und verehrter Herr Professor«
(19.Juli.1913 und 20. September 1913) und 1914 gar »Lieber Herr
Professor« (25. Juni 1914). Freud seinerseits, der bislang stets
mit »Lieber Herr Rank« begann, benutzt am 25. Juli 1913 erstmals
die Anrede »Lieber Herr Doktor«.
4 Das Komitee (1913-1914)
Im Gefolge der zunehmenden Spannungen zwischen Freud und Jung wurde
1913 das (Geheime) Komitee gegründet, eine neben den offiziellen
und (zumindest formal-)demokratisch legitimierten Institutionen der
frühen psychoanalytischen Bewegung bestehende und einflussreiche
Geheimorganisation (mit allen dafür typischen Merkmalen). Im
vorliegenden Kapitel finden sich vier Briefe Ranks an Freud, alle
unter dem Briefkopf der »Zeitschrift« (wie Rank sie nennt; etwa im
Brief vom 24. Juli 1913; S. 50), und ein Brief Freuds an Rank. In
keinem dieser Briefe ist das Komitee Thema, aber auch nicht in den
die Briefe rahmenden Texten der Autoren / Herausgeber (die v. a.
das Liebesleben von Jones und Loe Kann interessiert).
Für Rank-Kenner finden sich in den vorliegenden Briefen
Bemerkenswertes. Nach der (endgültigen) Trennung von Freud siedelt
Rank 1926 von Wien nicht an die Ostküste der USA, wo er sich schon
einen Namen gemacht hat, sondern nach Paris über, wo er in seinem
»Pariser Jahrzehnt« seine bedeutendsten post-Freudschen Werke
schreiben und mit Anais Nin eine der begehrtesten Frauen der
Pariser Zwischenkriegsjahre als Geliebte gewinnen sollte. In der
Literatur werden verschiedene Gründe für seine Entscheidung für
Paris genannt. Einer nicht: dass Paris schon früh Ranks
Sehnsuchtsort war. Das zeigt eine Passage aus dem Brief vom 19.
Juli 1913: »Alle Anzeichen sprechen dafür, dass ich angesichts
dieses Wetters und anderer Umstände doch nach Paris gehen werde, da
die Berichte von Sachs mich von der Erfüllung dieses lang gehegten
Wunsches durchaus nicht abschrecken. Jedenfalls ginge ich nirgends
anders gerne hin und so oft ich daran denke, wohin ich gehen soll,
›fällt mir ein‹: nach Paris. Es würde der psychoanalytischen
Grundregel widersprechen, wolle ich mich diesem Einfall entziehen.«
(S. 49) Freud äußerte sich dazu in seinem Antwortbrief vom 27. d.
M. so: »Zu Paris gratuliere ich Ihnen. Schade, dass sie so einsam
sein sollen, in der Millionenstadt.« (S. 49) (Rank würde in seinem
Pariser Jahrzehnt nicht einsam sein; dafür war er dann schon viel
zu berühmt.)
5 Krieg (1914)
In diesem Kapitel finden sich acht Briefe Ranks und keiner von
Freud. Die beiden ersten dieser Briefe tragen erstmals als
Absenderadresse die Privatadresse Ranks. Die seit 1913 neue und die
erste, mit der sich Staat machen lässt, lautet: Grünangergasse 3.
Hier lediglich von »einer neuen, näher bei Freud gelegenen
Unterkunft« (S. 58) zu reden, ist als Unterschätzung anzusehen.
Ranks neue Wohnung liegt in der Nähe des Stephanplatzes, im 1.
Bezirk (»Innen«) und innerhalb des »Rings«; Wiener Altstadt vom
Besten also. Das ist (bis heute) die weitaus »bessere Adresse«
(auch in diesem Punkt hat sich Wien in hundert Jahren nicht
verändert) als die Freuds in der Berggasse 19: ein nur gut 20 Jahre
alter Neubau im 9. Bezirk außerhalb des »Rings«.
Schon in Ranks Brief vom 26. Juli 1914 sind die Schatten, die der
1. Weltkrieg, eröffnet mit der Kriegserklärung der k. u. k.
Monarchie an Serbien am 28. d. M., voraus wirft, sichtbar. Da ist
von anstehenden »Ausnahmebestimmungen für den Personenverkehr« (S.
64) die Rede, und »kollosale Truppenbewegungen« (ebd.) werden
genannt. Und nach der Kriegserklärung erklärt Rank in einem Brief
vom 12. August 1914, dass er eine Reise nach Ost- und Südtirol
sowie in die italienische Provinz Belluno wegen der beunruhigender
Kriegsnachrichten und sich verschlechternder
(Zug-)Verkehrsverhältnisse abgebrochen habe.
Als Randnotiz ist in diesem Kapitel vermerkt, dass Anna Freud, die
sich zum Zeitpunkt der Kriegserklärung Großbritanniens am 4./5.
August 1914 noch in London befand, »am 26. August mit dem
österreichischen Botschafter über Gibraltar und Italien
zurückreiste« (S. 20); Italien, dies zur Erklärung, trat, nachdem
es zuvor neutral gewesen war, erst am 23. Mai 1915 an der Seite der
Entente gegen die Achsenmächte in den Krieg ein.
6 Schwebe (1915-1916)
In den »Letters« ist dieses Kapitel mit »Limbo« überschrieben. Das
ist das englische Wort für »Limbus«, womit in der katholischen
Theologie gemeinhin die »Vorhölle« bezeichnet wird. Man weiß nicht,
weshalb die Autoren/Herausgeber »Limbo« gewählt haben. Vielleicht
meinten sie wirklich »Vorhölle« – keine schlechte Bezeichnung für
die ersten Kriegsjahre, denn die letzen sowie die Niederlage
sollten für die k. u. k. Monarchie (wie für das Deutsche Reich)
wahrlich zur »Hölle« werden.
Den ersten der hier versammelten elf Briefe, alle von Rank,
schreibt er am 2. August 1915 unter dem Briefkopf der »Imago«, der
1912 gegründeten, von Freud herausgegebenen und von Rank und Hanns
Sachs als Schriftleitern besorgten »Zeitschrift für Anwendung der
Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften«. Dort berichtet er von
Schwierigkeiten mit dem Verlag (Hugo) Heller. Und in der Tat: Der
vierte Band der »Imago« erscheint erst zum Jahresende und weist
als, zur Publikationsjahr 1916 aus
(https://archive.org/details/Imago-ZeitschriftFuumlrAnwendungDerPsychoanalyseAufDie_810).
In ihm befindet sich an erster Stelle der in bibliographischen
Angaben üblicherweise auf das Jahr 1915 datierte Beitrag Freuds
»Zeitgemäßes über Krieg und Tod«. Das im Rank-Brief vom 3. November
1915 genannte »Sachsens Schicksal« (S. 73) meint wohl die
Einberufung von (Hanns) Sachs.
Ab Ende 1915 ist Rank in Krakau, seit Mitte des 19. Jahrhunderts
österreichisches Gebiet und mit Wien über die Nordbahn bestens
verbunden. Er ist dort bis Kriegsende – weshalb sich Rank-Briefe
aus Krakau auch den nächsten beiden Kapiteln finden –
zwangsverpflichtet: als Redakteur der »Krakauer Zeitung«, der
damals einzigen deutschsprachigen Zeitung in Galizien (in dem die
»gebildeten Stände« sehr wohl Deutsch sprachen), untergebracht
(vgl. S. 78) in der Dunjaweskiego Nr. 5 – damals wie heute eine
»gute Adresse« in Krakau. Von dort schreibt er am 22. Januar 1916
erstmals an Freud. Der Briefkopf lautet insgesamt »Krakauer Zeitung
/ Zugleich Amtliches Organ des K. u. K. Festungskommandos Feldpost
186«. (Das ist eine viel sagende Adresse, an der ich nur bezweifle,
ob sie bei »K. u. K.« richtig wieder gegeben ist; Rank wusste, dass
es richtig »k. u. k.« heißt, und er ist für seine Korrektheit nicht
nur zur Militärzeit bekannt. Wo und wie der von mir vermutete
Übertragungsfehler entstand, ist unklar.)
Bei den drei Briefen, die Rank Ende Juli 1916 schreibt, muss beim
zweiten Brief eine missverständliche oder unvollständige
Absenderangabe angegeben sein. Die Briefe vom 26. und 31. Juli 1916
nennen als Absenderadresse das Salzburger (Nobel-)Hotel Bristol, wo
1908 der (heute so genannte) 1. Internationale Psychoanalytische
Kongress stattfand und das heute Teil des UNESCO-Weltkulturerbes
»Historisches Zentrum der Stadt Salzburg« ist. Für den Brief vom
28. Juli aber ist Krakau als Absenderadresse angegeben; dort aber
kann der Absender – bei allem Respekt für das k. u. k.
Bahnverkehrssystem – nicht gewesen sein. Wo der Fehler herrührt ist
(wiederum) unklar.
7 Krakau (1916-1918)
Das Kapitel enthält 19 Briefe (Postkarten sind hier wie anderswo
auch mitgezählt) von Rank an Freud, alle in den Jahren 1916 – 1917
aus Krakau geschrieben, meist unter dem Briefkopf »Krakauer
Zeitung«, einmal aber auch (und ohne dass der Grund erkennbar wäre)
unter dem der »Zeitschrift«, und ein anderes Mal wird eine
Postkarte mit der Absenderadresse »Krakauer Festung« versehen. Ein
Freud-Brief findet sich hier nicht; nach einer (nur) in der
deutschen Ausgabe zu findenden Notiz (S. 86 Anm. 31) gilt der
größte Teil von Freuds Briefen nach Krakau als verschollen. Die
Briefe zeigen Rank in gedrückterer Stimmung als zuvor. Für eine
solche Gemütslage gibt es auch äußere Gründe.
Im Brief von 4. Oktober 1916 schreibt Rank, »dass ich (?) bereits
superarbitriert worden bin und also bleiben soll« (S. 84).
»Superarbitriert« ist eines jener wunderbaren und wundersamen Worte
der k. u. k. Monarchie, das, in übliches Deutsch übersetzt, sagen
will: Rank ist (wehr)dienstuntauglich – weshalb er dem Vaterlande
weiterhin als Redakteur in Krakau zu dienen hatte (die Mediziner
Karl Abraham und Ferenczi dienten als Militärärzte). Im Brief vom
9. November 1916 teilt er Freud mit, dass er seine Wiener Wohnung
im 1. Bezirk nicht halten könne; höchstwahrscheinlich kann er, der
von all seinen Wiener Verdienstmöglichkeiten ausgeschlossen, ohne
Vermögen und betuchte Verwandtschaft ist, die Miete nicht mehr
aufbringen. »Also wieder ohne Basis.« (S. 85) fügt er (bitter)
an.
8 Aktive Therapie und Waffenstillstand (1918)
Das vorliegende Kapitel handelt vom (Kriegsende-)Jahr 1918, und
tatsächlich ist es das Jahr, für das zum ersten Mal dokumentiert
ist, dass und wie Ferenczi – unter Beifall Freuds – Modifikationen
der Freudschen Behandlungstechnik vornimmt, die unter dem Namen
»aktive Therapie« bekannt und Ferenczis wie Ranks Markenzeichen
werden sollten. Hier finden sich elf Rank-Briefe, zehn aus Krakau
und einer, der letzte vom 11. September 1918, aus Budapest. Zwei
Monate später war auch für Ungarn (Belgrader Militärkonvention vom
13. November 1918) der Krieg aus. Nach dem verlorenen 1. Weltkrieg
waren die Kernländer der k. u. k. Monarchie auf den Umfang und die
Bedeutung von kleinen Staaten geschrumpft. Aber dazwischen bereitet
die Stadt Budapest der IVP am 28./29. September 1918 einen Kongress
mit allem Pomp (vgl. Korrepondenzblatt IZP / V / 1919 / 52 – 57;
http://www.luzifer-amor.de/fileadmin/bilder/Downloads/korrespondenzblatt_1910-1941.pdf,
S. 192 – 197), so als stünde keine Katastrophe bevor. Auch Rank,
der maßgebliche Kongresssekretär, im Kongressbericht unter den
IPV-Mitgliedern als »Dr. Rank, Wien, dzt. Krakau« aufgeführt, kommt
ein Kriegsende offensichtlich nicht einmal in den Sinn, redet er
doch ohne ein Wort darüber davon, dass seine Versetzung (als
Kriegsverpflichteter!) von Krakau nach Budapest geplant sei.
Er bleibt in Krakau und heiratet dort am 7. November (da ist der
Krieg faktisch schon aus) die galizische Jüdin Beate (»Tola«)
Mincer (jiddisch für Münzer), wofür er zum jüdischen Glauben zurück
übertreten muss, damit der Rebbe das Paar trauen kann. Wir wissen
nicht, wann und wie Rank dies Freud mitgeteilt hat und wir wissen
auch nicht, was Freud Rank damals dazu sagte. In bekannten Briefen
an Abraham bzw. Ferenczi (S. 113 – 114) äußert sich Freud
zurückhaltend zu bis abfällig über Beate. In einem Brief an Abraham
vom Dezember 1918 nennt er sie »ein kleines polnisch-jüdisches
Weibchen, das keinem sympathisch ist und keine höheren Interessen
verrät« (S. 114). Andere fanden Beate ziemlich attraktiv;
verständlich, wenn man etwa ihr Bild mit der kleinen Tochter Helene
in Liebermans Rank-Biographie (Abb. 13 in der Buchmitte)
betrachtet. Und ihre Interessen waren immerhin so groß, dass sie
später in der Boston Psychoanalytic Society and Institute
Lehranalytikerin und in wichtigen Funktionen tätig wurde. Freud, so
wird man sagen dürfen, ohne allzu tief zu schürfen, hatte wohl
Angst, Beate würde ihm Rank wegnehmen – und Rank war für Freuds
Publikationswesen wahrlich schwer ersetzbar.
9 Eros trifft auf Thanatos (1919-1920)
Die Kapitelüberschrift spielt wohl an auf Freuds »Jenseits des
Lustprinzips« (1920), wo er zwei Triebgruppen unterscheidet, die
Lebenstriebe (ihre Energie ist die Libido) und die Todestriebe.
Hier finden sich keine Briefe, da diese für den genannten Zeitraum
fehlen; ob in den Jahren überhaupt ein Briefwechsel zwischen Freud
und Rank stattfand oder nicht und ob, falls er stattfand, er
einfach nicht auffindbar oder einsehbar war, ist dem (englischen
wie deutschen) Text nicht mit Klarheit zu entnehmen. Möglich ist,
dass in den ersten zwei Jahren nach Kriegsende es sich nicht einmal
Freud finanziell erlauben konnte, in Urlaub zu fahren. Wie hart der
Neu- oder Wiederanfang im Nachkriegswien war, erhellt der
Selbstmord des im vorliegenden Kapitel näher betrachteten Viktor
Tausk (http://en.wikipedia.org/wiki/Victor_Tausk; vgl. den Nachruf
im „Zentralblatt„: IZP / V / 1919 / 225 – 227;
http://www.luzifer-amor.de/fileadmin/bilder/Downloads/korrespondenzblatt_1910-1941.pdf,
S. 212 – 214).
Im Jahre 1919 wurde in Wien der Internationale Psychoanalytische
Verlag gegründet; er existierte bis zum Einmarsch Nazi-Deutschlands
in Österreich 1938 und war in dieser Zeit der wichtigste
psychoanalytische Verlag weltweit. Nach dem Ende des 1. Weltkriegs
war die ökonomische Situation in Österreich katastrophal. Wie viele
andere Verlage befand sich auch das Unternehmen von Heller, der
bislang die »Zeitschrift« (in der auch das IVP-»Korrespondenzblatt«
enthalten war) und die »Imago« verlegt hatte, in einer schweren
Krise; das Erscheinen beider Zeitungen war in Frage gestellt. In
dieser für die psychoanalytische Bewegung Existenz bedrohenden
Situation wurde der Verlag gegründet. Gesellschafter war neben
Ferenczi, Rank und Freud auch der Budapester Brauereibesitzer Anton
von Freund, ohne dessen Geldspende die Sache nicht möglich gewesen
wäre. Verlagsleiter war bis 1925, also bis zu seinem Bruch mit
Freud Rank, Mitarbeiter(innen) waren Beate, Anna und zeitweise auch
Theodor Reik. Damals war die Verlagsadresse dieselbe wie jene von
Ranks Privatadresse: die schon bekannte Grünangergasse. Rank, der
ja auch weiterhin für Freud die Komitee-Rundbriefe besorgte, war
jetzt für Freud noch unentbehrlicher denn je, und er arbeitete für
ihn, in seinem Namen und zum Gelingen »der Sache« noch mehr als
zuvor. Zusätzlich gab er täglich im Mittel vier Analysestunden,
teils weil er es aus finanziellen Gründen musste, teils weil er es
wollte, um ein wirklicher »Kliniker« zu werden.
10 Die Spannungen nehmen zu (1921)
Die Überschrift spielt an auf den hier dargestellten Briefverkehr
zwischen verschiedenen Komitee-Mitgliedern, den die
Autoren/Herausgeber mit dem Satz kommentieren: »Das waren die
ersten merklichen Spannungen im Komitee.« (S. 128) Aber gab es
wirklich eine spannungslose Zeit des Komitees? Als dessen
»Rundbriefe« publiziert wurden, merkte der Psychoanalytiker und
Psychoanalysehistoriker Bernd Nitzschke an: »Das zentrale Thema der
Rundbriefe stellen vielmehr die latenten – und oft auch manifesten
– Eitelkeiten und die dadurch motivierten Streitigkeiten der Männer
dar, die sich zusammengefunden haben der ›Sache‹ zu dienen – und
sich dabei anzudienen versuchten. Jeder ›Sohn‹ hatte die Hoffnung,
eines Tages vom ›Vater‹ auserwählt und als dessen Nachfolger auf
den Thron gesetzt zu werden.«
(http://www.werkblatt.at/nitzschke/rez/271.htm) Folgt man dieser
Anschauung würde man das Kapitel doch eher mit »Die Spannungen
werden sichtbar« überschreiben.
In den hier zu findenden sechs Briefen Ranks und dem einen
Freud-Brief spiegeln sich die oben genannten Spannungen jedoch (und
erstaunlicherweise) nicht wieder. Im Brief vom 13. August 1921, der
im Zusammenhang der Überarbeitung von »Der Mythus von der Geburt
des Helden« (1. Aufl. 1909, 2. veränderte Aufl. 1922; beide Male
»Mythus« und nicht »Mythos«) führt Rank aber (m. W. erstmals) einen
frontalen Angriff gegen Freud, indem er die von jenem behauptete
Sonderstellung des Vaters anzweifelt und auf die Bedeutung der
Mutter hinweist. Ich zitiere die zentrale Passage: »Es scheint sich
dahinter die Frage zu erheben: wie kommt der Mensch überhaupt dazu,
die Eltern (den Vater) durch ein Tier zu ersetzen (oder Pflanze!)?
Vielleicht eben von der Mutter (vom Muttertier) her, und der Pakt
mit dem Vater würde dann heißen: Wenn Du wie die Mutter wärest,
dann würdest Du mich schonen und ich dich verehren. Es ist
vielleicht eine gewisse weibliche Rolle, die dem Vater da zugemutet
wird, wie z. B. die Mythen von Zeus zeigen, der den Dionysos im
Schenkel trägt (schützt), die Athene im Haupt, und von Kronos, der
seine Kinder im Bauch trägt (wie die Mutter).« (S. 136)
11 Der Lieblingssohn (Januar bis Juli 1922)
Das vorliegende Kapitel enthält den Freud-Rank-Briefwechsel des
Monats Juli 1922. Es ist Sommerzeit (und da kann es in Wien sehr
heiß sein); wer es sich leisten kann, ist in der Sommerfrische.
Alle sechs Briefe von Freud sind in Bad Gastein (Tauern)
geschrieben, drei der vier von Rank aus Seefeld (Tirol), der erste
stammt vom Vortag der Abreise dorthin. Es geht, wie in den meisten
Briefen seit 1919, hauptsächlich um Verlagsangelegenheiten. Aber es
finden sich in Briefen auch Passagen, die zeigen, welch gute
Beziehung die beiden damals miteinander hatten. (Ob man von
»Lieblingssohn« sprechen kann, sei dahin gestellt.)
Eine erste Angelegenheit, in die die Briefe jener Monate, einen
Einblick gewähren, ist der besondere Schutz den (Vater) Freud
(Sohn) Rank gegenüber (den rivalisierenden Brüdern) Abraham und
Jones gewährt. Ich zitiere aus dem Brief Freuds vom 8. Juli 1922:
»Gleichzeitig ist mir, als müßte ich für die kleinen
Unliebenswürdigkeiten Abrahams und Jones´ um Entschuldigung bitten,
denn es sind wirklich Reaktionen, die mir gelten und auf Sie
verschoben werden. An sich erscheinen Sie (es muss wohl ›sie‹
heißen; H.-P. H.) mir sehr ungerecht, ich habe ja alles im
Gedächtnis, was Sie geschrieben haben und ich kann Ihnen nach etwa
15-jähriger Gemeinschaft das Zeugnis geben daß sie nicht zu jenen
gehören, die ihre Launen an ihren Freunden austoben müssen.« (S.
146)
Eine zweite Sache ist in den Briefen dieses Monats dokumentiert:
Rank wird Kongress-Redner und zeigt sich als Kliniker. Im Brief vom
14. Juli 1922 erklärt er, er habe einen bestimmten Aufsatz (der
aber Freud ungeeignet schien) geschrieben, »um auf dem Kongress
nicht immer bloß als Funktionär aufzutreten« (S. 149). Gemeint ist
der für September des Jahres in Berlin geplante Kongress, und Freud
greift Ranks Wunsch – mit einem präzisierenden Zusatz – im
Antwortbrief drei Tage später auf: »bin aber dafür, daß Sie
durchaus als Vortragender auftreten sollen und zwar mit einer rein
analytischen Äußerung damit die Leute sich an diese Seite ihrer
Tätigkeit gewöhnen« (S. 151). Und tatsächlich: Am Nachmittag des
25. September 1922 (den Vorsitz hat Freud inne) hält Rank auf dem
Berliner Kongress den Vortrag »Perversion und Neurose« (abgedruckt
im »Jahrbuch« desselben Jahres, S. 397 – 420).
12 Brudermord (August bis Dezember 1922)
Die hier versammelten Briefe von Freud (fünf, alle vom Obersalzberg
aus) und Rank (vier, alle aus Seefeld) – der Wiener ist noch immer
in der Sommerfrische – stammen aus den August- und Septemberwochen
vor o.g. Kongress. Es ist der letzte Kongress, an dem Freud
teilnimmt, anlässlich dessen das Komitee einschließlich Freud zum
letzten Mal zusammen kommt, und jene Gelegenheit, bei der das
(berühmt gewordene) Photo des Komitees entsteht, das auf der
Titelseite des Buches zu sehen ist. Nach jenem Kongress brechen
sich die im Komitee schwelenden Konflikte Bahn: Mit Budapest und
Wien auf der einen sowie Berlin und London auf der anderen Seite.
(Diese Auseinandersetzung mit dem Begriff »Brudermord« zu belegen,
erscheint mir doch eine reichliche theatralische Wortwahl.)
Aus den Briefen Freuds sei hier nur aus jenem vom 4. August 1922
zitiert. Die eine Stelle zeigt Rank als denjenigen, dem Freud
Besonderes anvertraut: »Daß ich mich seit längerer Zeit meiner
Gesundheit nicht ganz sicher fühle, wird Ihnen nicht entgangen
sein. Ich äussere mich darüber zu keinem anderen, denn sonst
bekommt man die gebräuchliche Unaufrichtigkeit zu hören.« (S. 160)
An der zweiten Stelle geht es (noch einmal) darum, dass Freud Rank
ja vom Medizinstudium abgeraten hat, was er jetzt offensichtlich
bedauert; Rank wäre als Mediziner (aber eben auch nur als solcher)
Freuds »Kronprinz«: »Ich dachte in diesem Falle wäre ich nicht im
Zweifel wem ich die leitende Rolle in der PA Bewegung hinterlassen
hätte. Wie es jetzt steht müßte ich wünschen, daß man Abrahams
Klarheit und Korrektheit mit Ferenczis Begabung verschmelzen und
dazu noch Jones’ unermüdliche Füllfeder geben könnte.« (ebd.)
13 Die Geburt der Mutter (Januar bis Juni 1923)
Der Kapiteltitel beschreibt in einer Metapher ein, wenn nicht das
zentrale Anliegen zweier Bücher, die in theoretischer wie
praktischer Hinsicht bedeutsame Innovationen bringen: Ranks »Das
Trauma der Geburt und seine Bedeutung für die Psychoanalyse« und
die von ihm zusammen mit Ferenczi verfassten »Entwicklungsziele der
Psychoanalyse«; beide Bücher tragen 1924 als Erscheinungsdatum,
erschienen sind sie im Dezember 1923 und ihr Inhalt war schon in
der ersten Jahreshälfte 1923 zumindest Freud, der sich im April
1920 erstmals einer Mundhöhlenoperation unterziehen musste,
bekannt. Briefe aus dem Zeitraum gibt es nicht.
14 Unter dem Messer (August bis Dezember 1923)
Hier finden sich zwölf Briefe Ranks, die ersten sechs aus der
Sommerfrische in Klobenstein am Ritten (Südtirol), die anderen
sechs ab Oktober aus Wien. Von Freud sind es sechs von Ende
September bis Jahresende. Freud hat bis dahin weitere Operationen
über sich ergehen lassen müssen (daher wohl der Kapiteltitel); in
allen drei Briefen finden sich Indizien seiner Beschwernisse,
seiner seelischen und körperlich Schwächung – und seines möglichen
Todes. In dem Brief vom 1. Dezember 1923, in dem er dies anspricht,
geschrieben unter dem Absender »SF« (und nicht wie üblich
»Professor Dr. Freud«), heißt es: »Das heißt doch für mich auch:
Non omnis moriar.« Was Freud mit dem Horaz-Zitat (Oden III, 30, 6)
ausdrücken will: Ich werde nicht tot und vergessen sein, auch wenn
ich sterbe, sondern ich lebe in Ihnen und Ihrem Werk weiter,
»lieber Herr Doktor« Rank. Es ist, man möchte es angesichts der
späteren Entwicklung nicht glauben, der Abschlusssatz des Briefes,
mit dem sich Freud für die ihm zugeeignete Widmung des »Traumas«
bedankt.
Am 26. August 1923 trifft sich im trentinischen San Cristoforo am
Caldonazzo-See das Komitee – ohne Freud, der südlich davon im
benachbarten Lavarone nah, aber doch nicht leicht erreichbar in der
Sommerfrische ist. Auf diesem Treffen wird das Komitee von Freuds
Hausarzt über dessen Diagnose, von der bis dahin nur Rank (und
Anna, nicht aber einmal Freud selbst!) wusste, informiert: malignes
Epitheliom. Auf diesem Treffen kommt es zu der schwersten
(dokumentierten) Auseinandersetzung im Komitee, in deren Zentrum
Rank und Jones als Konfliktpartner standen und die Fronten Budapest
/ Wien vs. Berlin / London sich ein weiteres Mal zeigten. Vor- und
Nachgeschichte dieses Treffens und der Offenlegung von Freuds
Krebserkrankung spiegeln sich in zahlreichen Briefen dieses
Kapitels wieder.
15 Krise (Januar bis April 1924)
In den Jahren 1924/25 macht Rank gleich drei USA-Reisen. Diese
Reisen sind verwoben in dem sich zwischen 1924 und 1926
hinziehenden Trennungsdrama zwischen Freud und Rank: langwierig,
mit vielem Hin – und – Her, mit allem Seelendrama, mit Trennung,
Versöhnung und erneuter Trennung. Zur ersten dieser USA-Reisen
bricht Rank vorzeitig von dem am 21.-23. April 1924 in Salzburg
stattfindenden Kongress auf; er muss sich bereits am 27. d. M. in
Cherbourg einschiffen. An der »Geschäftlichen Sitzung« nimmt er
nicht mehr teil, was zeitgenössische Kommentatoren als »Affront«
ansahen und als »Flucht« werten. In der Ankündigung dieses
Kongresses vom 23.12.1923 hatte Abraham (IVP-Zentralsekretär unter
dem IPV-Präsidenten Jones) geschrieben: »Für die Diskussion am
Nachmittag des ersten Tages ist dasjenige Thema vorgesehen, welches
von Professor Freud bei Gelegenheit des Berliner Kongresses als
Preisaufgabe gestellt war, das aber keine Bearbeitung gefunden hat:
›Das Verhältnis der psychoanalytischen Technik zur
psychoanalytischen Theorie.‹ Der Vorstand wird sich bemühen,
geeignete Referenten zu gewinnen.« (IZP / X / 1924 / 106;
http://www.luzifer-amor.de/fileadmin/bilder/Downloads/korrespondenzblatt_1910-1941.pdf,
S. 533). Der Untertitel der »Entwicklungslinien« lautet bekanntlich
»Zur Wechselbeziehung von Theorie und Praxis«. Abraham und Jones
konnten das Buch, das im Dezember 1923 ausgeliefert wurde, noch
nicht kennen. Weder Rank noch Ferenczi hielten an jenem Nachmittag
Vorträge. Das im Korrespondenzblatt veröffentlichte Protokoll nennt
vier andere Referenten, um abschließend anzumerken: »Dr. Otto Rank
und Dr. S. Ferenczi erwiderten kurz auf einige der vorgebrachten
Bemerkungen.« (IZP / X / 1924 / 217;
http://www.luzifer-amor.de/fileadmin/bilder/Downloads/korrespondenzblatt_1910-1941.pdf,
S. 564).
Vor und außerhalb des Kongresses aber wurde, nachdem die anderen
Komitee-Mitglieder die »Entwicklungsziele« und das »Trauma« gelesen
hatten, heftig diskutiert; der Dauerzwist zwischen Berlin / London
und Budapest / Wien hatte einen neuen Anlass gefunden. Die hier
versammelten Briefe, vier Briefe von Freud, fünf von Rank sowie
zusätzlich ein Brief Ottos an Sándor (vom 20. März 1924) und Freuds
Rundbrief zu den beiden Büchern (vom 15. Februar 1924) stammen aus
jenen Anfangsmonaten des Jahres 1924. Sie spiegeln die
Auseinandersetzungen wieder und Freuds Position, der beiden Büchern
(dem »Trauma« mehr) Anerkennung zollt, zugleich aber seine Kritik
nicht verhehlt – bis hin zu »Hier weicht Rank von mir ab«
(Rundbrief vom 15. Februar 1924; S. 213).
16 New York (Mai bis Oktober 1924)
Ranks erster USA-Aufenthalt, wo er als Freuds Gesandter gilt und
mit der Ehrenmitgliedschaft der American Psychoanalytical
Association (die ihm 1930 aberkannt wird) ausgezeichnet wird, ist
sein erfolgreiches Debüt als Vortragsredner und weist ihn als einen
erfahrenen Kliniker aus. Es finden sich hier ein Brief von Sándor
an Otto (vom 25. Mai 1924) sowie einer von Otto an Sándor (vom 10.
August 1924), sechs Rank-Briefe (davon fünf aus New York) und
sieben von Freud.
In vielen dieser Briefe geht es um Ranks (und Ferenczis) »neue
Lehre«. Im Briefwechsel zwischen Freud und Rank wird jetzt eine
neue Form von Beziehungsdefinition sichtbar. Zur Illustration mögen
kurze Auszüge aus dem Brief Freuds an Rank vom 23. Juli 1924 und
dessen Antwortschreiben vom 9. August 1924 genügen. Freud, der in
Auseinandersetzungen schon immer zum Klinifizieren neigte, schreibt
u. a.: »Ich bin wirklich in den Monaten seit unserer Trennung noch
weiter von der Zustimmung zu Ihren Neuerungen abgekommen… Ich mache
mir oft große Sorgen um Sie. Die Ausschaltung des Vaters in Ihrer
Theorie scheint mir doch allzu sehr den Einfluss persönlicher
Momente aus Ihrem Leben, den ich zu kennen glaube, zu verraten, und
mein Argwohn steigt, daß sie dies Buch nicht geschrieben hätten,
wenn Sie selbst durch eine Analyse gegangen wären.« (S. 235 –
236)
Ranks Antwort ist klar und selbstbewusst: »Auch jetzt wieder
sprechen Sie davon, daß ich den Vater ausgeschaltet hatte (hätte?);
das ist natürlich nicht der Fall und kann gar nicht sein, wäre ja
Unsinn. Ich habe nur versucht, ihm den rechten Platz anzuweisen.
Sie bringen da offenbar die persönlichen Beziehungen zwischen Ihnen
und mir hinein, wo sie gar nicht hingehören. In diesem Zusammenhang
hat mich ganz sonderbar berührt, daß gerade Sie mir vorhalten, ich
hätte diese Auffassung nie vertreten, wenn ich analysiert worden
wäre. Dies mag wohl sein. Die Frage ist nur, ob das nicht sehr
bedauerlich gewesen wäre. Ich kann das jedenfalls nach allem, was
ich von Resultaten an analysierten Analytikern gesehen habe, nur
als ein Glück bezeichnen.« (S. 237)
17 Kehrtwende (Oktober bis Dezember 1924)
Das hätte doch von beiden Seiten das letzte Wort sein können, war
es aber nicht. In diesem Kapitel finden sich zwei Briefe Ranks an
Freud sowie jener (berühmt gewordene) Brief Ottos an die »lieben
Freunde« des Komitees. In diesen Briefen zeigt sich ein Rank, der
»einknickt«. Welche Gründe dafür verantwortlich sind, halte ich für
eine weiterhin offene Frage. Lieberman und Kramer sehen hier eine
»bipolare Störung« (S. 259): »Sein großspuriges, bisweilen
arrogantes Benehmen in New York und die unnötig provokanten,
strategisch unklugen Briefe an Freud deuten auf eine hypomanische
Episode hin, auf die eine schwere Depression folgte.« (ebd.)
18 Neuanfang und Ende (1925-1926)
Hier findet sich zunächst der zweite Brief Ottos an die »lieben
Freunde« vom 7. Januar 1925 und zum Schluss der letzte Brief des
Freud-Rank-Briefwechsels: Ranks Brief vom 23. Mai 1926 von Paris
aus an Freud gesandt. Dazwischen liegen Ranks zweite (kurze)
USA-Reise (Januar / Februar 1924), seine dritte (September –
Dezember 1924) und zwei Todesfälle von Nahestehenden: Abrahams
plötzlicher Tod (Dezember 1925) und seines großen Bruders (Paul
Rosenfelds) Krebstod (Februar 1926). Der o. g. Brief ist der
einzige der hier versammelten neun Rank-Briefe aus dem Jahr 1926;
die übrigen sind 1925 geschrieben, drei davon aus New York während
seiner dritten USA-Reise. Der einzige Freud-Brief (vom 2. Mai 1925)
ist eine kurze Reaktion auf Ranks ebenfalls kurzen Brief vom 29.
April 1925.
Während Ranks Briefe aus dem Jahr 1925 ihn gleichsam auf den Knien
vor Freud und in gebückter Haltung vor den anderen
Komitee-Mitgliedern zeigen, ist die Haltung im Paris-Brief eine
ganz andere. Hier schreibt er: »Gleichzeitig mit diesem Brief geht
mein neues Buch an Sie ab, das Sie vielleicht überraschen wird,
obwohl es nichts weiter als die konsequente Weiterentwicklung
meiner Auffassung darstellt.« (S. 282). Bei diesem Buch kann es
sich um kein anderes handeln als um den 1. Band der »Technik der
Psychoanalyse« (Leipzig – Wien: Deuticke, 1926). Freud war von
diesem Buch sowohl überrascht als auch über es aufgebracht.
Im Brief vom 23. April 1926 an Ferenczi gibt er seinem Unmut Raum.
Ich zitiere daraus die zentralen Zeilen: »Unzweideutig sind die
zwei Tatsachen, daß er von der Theorie, in der sich seine Neurose
niedergeschlagen hatte, nichts aufgeben wollte und daß er auch
nicht den kleinsten Schritt getan hat, sich dem Verein hier
anzunähern. Ich gehöre nicht zu denen, die fordern, daß man sich
aus ›Dankbarkeit‹ für ewig fesseln und verkaufen muß. Er hat vieles
geschenkt bekommen und vieles dafür geleistet, also quitt!« (S.
281)
19 Wollen, Fühlen, Leben (1926-1939)
Hier wird Ranks denkerische Weiterentwicklung dargestellt.
Der Epilog skizziert Ranks Bedeutung in der Entwicklung der
Psychoanalyse und der Psychotherapie und bietet eine »schematische
Differenzierung zwischen Freud und Rank« (S. 317).
Nach Danksagung für Personen und Institutionen, folgen im Anhang
Briefe von untergeordneter Bedeutung, eine frühreife Traumanalyse
Ranks, wichtige Personen im Freud-Rank-Briefwechsel, ein Diagramm
der Freud-Familie von 1905 sowie Ranks Familienstammbaum; ein
Verzeichnis der Quellen sowie ein Sach- und Namensregister
schließen das Buch ab.
Die in den »Letters« vor der Bibliographie zu findenden Anmerkungen
(»Notes«), auf die im englischen Text mit hochgestellten Ziffern
hingewiesen wird, entfallen in der deutschen Ausgabe. Sofern die
»Notes« bestimmte Briefe oder Briefstellen als Quelle angeben,
findet sich dieser Quellenhinweis jetzt – in Klammern gesetzt – in
den Text eingearbeitet. Manche Anmerkungen erschienen für
deutsch(sprachig)e Leser(innen) entbehrlich und wurden weggelassen,
andere für die deutsche Ausgabe hinzugefügt. Alle Anmerkungen im
vorliegenden Buch erscheinen als fortlaufend gezählte Fußnoten.
Diskussion
Es ist das große Verdienst von Lieberman und Kramer, uns
wesentliche Teile des Briefverkehrs zwischen Rank und Freud
zugänglich gemacht zu haben und uns damit einen über Liebermans
Rank-Biographie hinaus gehenden Einblick in die Geschichte der
frühen psychoanalytischen Bewegung im Allgemeinen und die Beziehung
zwischen zwei ihrer wichtigsten Männer im Besonderen zu gewähren.
Dem Psychosozial-Verlag gebührt Anerkennung für das
unternehmerische Risiko, das er mit vorliegendem Buch unternommen
hat, Respekt für seine Entscheidung, die Briefe nach ihrem
Originaltext wiederzugeben, und seine Mitarbeiter(innen), die mit
der Herstellung des vorliegenden Buchtextes befasst waren,
verdienen Lob. Das Buch ist, um dies ebenfalls in aller Klarheit zu
sagen, keine »historisch-kritische Edition« des
Rank-Freud-Briefwechsels. An dafür qualifizierten Personen fehlt es
nicht, offensichtlich aber an einem Mäzen, der ein solch
aufwändiges Vorhaben ganz oder zum größten Teil finanzieren würde.
Die nachstehenden kritischen Anfragen an und Bemerkungen zum
vorliegenden Buches nehmen eine solche noch ausstehende
»historisch-kritische Edition« nicht zum Maßstab, sondern befragen
das Buch darauf hin, ob es realisiert hat, was in seinem Rahmen
prinzipiell machbar war.
Werfen wir zunächst einen Blick auf die oben angesprochene
Entstehungsgeschichte des Buches. Da heißt es etwa in Ranks Brief
an Freud vom 20. April 1911: »kommen sie (verbessert aus Sie)
gerade recht« (S. 28). Was wir damit wissen ist, dass in der
Abschrift ein »Sie« steht, nicht aber ob Rank nicht vielleicht doch
»sie« geschrieben hat und das »Sie« somit eine Abschreibefehler
ist. Oder: In Ranks Brief an Freud vom 17. Juli 1911, verfasst nach
seiner Italienreise, ist zu lesen: »Zum Conacolo Vinciano (sic) kam
ich leider um ½ h zu spät« (S. 30). Das sic-Zeichen ist berechtigt,
denn es muss natürlich »Cenacolo Vinciano« heißen; nur wissen wir
nicht, ob sich da Rank verschrieben hat oder der Fehler beim
Abschreiben passierte.
Eines aber ist klar: Wenn man, wie in der »Letters« (S. 14)
geschehen, von »›The Last Supper‹ by Leonardo da Vinci« spricht,
dann kommt man zwar dem Verständnis von (US-amerikanischen)
Leser(inne)n entgegen, vernichtet aber eine wertvolle Information:
dass Rank sich gegenüber Freud als Bildungsbürger ausweisen will.
Der nämlich schaute sich damals und schaut sich noch heute nicht
Leonardos Letztes Abendmahl an, sondern das Cenacolo Vinciano
(http://www.vivaticket.it/?op=cenacoloVinciano). Und als
Bildungsbürger wollte sich der frühere Schlosser ein Jahr vor
Abschluss seiner Promotion, die ohne Freuds moralische und
finanzielle Hilfe nicht möglich gewesen wäre, dem »hochverehrten
Herrn Professor« doch schon zeigen.
Es ist eine auf die Konzeption von Lieberman und Kramer
zurückgehende Schwäche des Buches, dass die Briefe doch sehr selten
mit erklärenden und erläuternden Anmerkungen versehen sind. Man
muss schon sehr viel wissen (oder bereit sein zu vielen
Recherchen), wenn man verstehen will, von welchen Dingen in den
Briefen die Rede ist. Ich zitiere zur Veranschaulichung folgende
Passage aus dem Brief Ranks an Freud vom 7. August 1911:
»Hoffentlich ist auch die ›Psychoanalyse‹ schon fertig. – Deuticke
ist diesmal so langweilig, dass ich fürchte, auch von hier wieder
abzureisen, ohne den Lohengrin fertig zu haben; allerdings wird er
größer als ich dachte. Auch vom Jahrbuch ist noch gar keine Spur.
Jung schrieb mir, dass Anfangs August noch ein Korrespondenzblatt
erscheinen wird und nach 1. Sept. das ausführliche Kursprogramm.«
(S. 33)
Dass Jung seit 1910 (der erste) Präsident der IPV ist, hat man
zuvor erfahren, zwei Seiten später kann man dann auch noch lesen,
dass der angesprochene Kongress jener in Weimar vom September 1911
ist und es sich bei »Lohengrin« um Ranks Dissertationsschrift
handelt. Aber wer ist diese »langweilige« Deuticke? Ein Mann, den
man besser nicht zu einer lustigen Abendgesellschaft einlädt?
Deuticke (zuerst Franz, später Hans) ist ein für die junge
Psychoanalyse wichtiger Verleger und Ranks wichtigster Verleger
überhaupt. Aber was ist das »Korrespondenzblatt«? Das
Korrespondenzblatt der IVP von 1910 – 1941 ist eine der wichtigsten
Quellen für die Geschichte der frühen Psychoanalyse. Mit dem
angesprochenen »Jahrbuch« dürfte wohl das erstmals 1909 (bei
Deuticke) erschienene »Jahrbuch für psychoanalytische und
psychopathologische Forschungen« gemeint sein, herausgegeben von
Freud und Eugen Bleuler, dem Leiter des »Burghölzli« in Zürich
(http://en.wikipedia.org/wiki/Burghölzli); verantwortlicher
Redakteur war der Bleuler-Mitarbeiter Jung; die Zeitschrift ist ein
wichtiges Dokument der Zeit, da Freud und Jung noch an einem Strang
zogen. Und was meint »Psychoanalyse«? Man darf annehmen, dass es
sich entweder um das 1909 – 1914 erschienene »Jahrbuch für
Psychoanalyse« oder um das 1910 gegründete »Zentralblatt für
Psychoanalyse« handelt; aber um welches der beiden denn nun
tatsächlich?
Nur an wenigen Stellen geben die Autoren/Herausgeber – nach einer
dem Rezensenten dunkel bleibenden Logik – eine Erklärung zu
Briefinhalten ab. So etwa, wenn sie das von Rank im Brief vom 25.
Juni 1914 noch zu bearbeitende Thema »Feuer« (S. 58) als eines
zwischen Rank, Ferenczi und Freud damals diskutiertes
(kulturanthropologisches Thema) erläutern (S. 59). Aber auch
angesichts solcher vereinzelter Verbindungen zwischen Briefen und
(Autoren-)Text bleibt es bei dem Gesamturteil: Briefe und Text sind
nur sehr selten wirklich mit einander verbunden. Die Briefe werden
im Text nicht aufgegriffen, nicht erklärt, nicht interpretiert,
nicht zur Rede gebracht (die vorliegende Rezension versucht es
ansatzweise). Der Text könnte weitestgehend auf die Briefe, die in
ihn nur »hinein gesetzt« werden, verzichten, und die Briefe müssen
in der Regel ohne Kommentierung, Erklärung und Einbettung
auskommen. Von einem »gelungenen In- und Miteinander« von Briefen
und (Kon-)Text kann nicht die Rede sein.
Es gibt in dem Buch zudem zahlreiche sachliche Fehler. Beginnen wir
mit jenen, die auch der deutschen Ausgabe anzulasten sind. Über den
Rank des Jahres 1921 heißt es in den »Letters« er sei »father of a
2-year-old« (S. 113); ist er: der Vater von Helene (1919 – 1999),
die rund neun Monate nach Heirat ihrer Eltern geboren wurde und die
Ranks einziges Kind sein sollte. Weshalb die deutsche Version aus
Helene einen Sohn macht (»Vater eines 2-jährigen Sohnes«; S. 138)
ist völlig unerklärlich. Im Vorwort wird Freuds Geburtsjahr (ein
Druckfehler?) – irrtümlich mit 1956 (S. 9; »Letters«, S. vii
korrekt: 1856) angegeben. Ebenfalls dort wird Freuds Handschrift
als »Sütterlinschrift« (S. 9) bezeichnet. Das ist schon ein
Fortschritt gegenüber dem englischen Original, wo es
»Frakturschrift« heißt, eine Bezeichnung, die aber nur für Druck-,
nicht für Handschriften gilt. Von Ludwig Sütterlin (1865-1917)
wurde die nach ihm benannte Schrift erst zu Zeiten entwickelt, da
Freud schon über 50 war. Was Freud benutzte war die »deutsche
Kurrentschrift«, die sich in Österreich auch als Amts- und
Protokollschrift etablierte. Von Rank heißt es übersetzungsgetreu
(»wrote in modern script«) er »verwendete die moderne Schrift«. Was
ist denn im Österreich der hier betrachteten Jahre 1906 – 1925 »die
moderne Schrift« und welche verwendete Rank?
Eine exakte Auskunft können nur ausgewiesene Schriftkundler(innen)
angesichts der handschriftlichen Dokumente geben; das eine bin ich
nicht und das andere steht mir nicht zur Verfügung. Was man aber
anhand zweier Abbildungen von Rank-Handschriften in Liebermans
Rank-Biographie sagen kann: 1903 (vgl. Abb. 6) schreibt der knapp
Siebzehnjährige (noch) in deutscher Kurrentschrift (wie er es wohl
in der Schule, wo diese verbindliche Erstschrift der
österreichischen Volksschule war, gelernt hatte), 1913 aber (schon)
in einer Schreibschrift, die der »lateinischen« recht ähnlich ist.
1912 hatte Rank promoviert und seit jenem Jahr war er auch
Mitherausgeber der internationalen Zeitung »Imago« – und außerhalb
des deutschen Sprachraums konnte fast niemand die deutsche
Kurrentschrift lesen. Vielleicht liegt in einem der angesprochenen
Punkte oder in beiden der Grund für den Rankschen
»Schriftwechsel«.
Wie ähnlich sich 1912 Freuds und Ranks Handschrift aber noch sind
und außerhalb des deutschen Sprachraums mit Risiko verbunden,
erhellt ein Brief Freuds an Rank vom 13. September 1912. Dort
instruiert er: »Sollten Sie mir etwas zuschicken wollen, so ist
Roma ferma in poste meine Adresse. (Für Italien muß man das F immer
in Druckschrift malen, weil sonst die Briefe verloren gehen, sie
erkennen unser F nicht).« (S. 40)
In dem Buch werden Fehler wiederholt, auf die ich in meiner
Rezension von Liebermans Rank-Biographie bereits hingewiesen habe:
Der Salzburger Kongress von 1908 wird falsch datiert, Abraham A.
Brill eine ungarische Abstammung angedichtet und der Nürnberger
Kongress fälschlicherweise als der zweite Kongress der
Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung, die doch erst dort
und damals gegründet wurde, bezeichnet. Wiederholt werden ferner
die Falschangaben, das (Geheime) Komitee sei auf Vorschlag Jones’
gegründet worden (es war Ferenczis Idee) und Ferenczi sei noch zu
k. u. k. Zeiten zum Professor berufen worden. Für zumindest
fragwürdig halte ich die Angabe, Erzherzog Franz Ferdinand sei am
28. Juni 1914 zusammen mit seiner Frau »von einem bosnischen
Kämpfer für ein unabhängiges Großserbien ermordet« (S. 59) worden.
Der Attentäter Gavrilo Princip war 1911 dem eben gegründeten
Geheimbund »Serbisch-Kroatische Fortschrittorganisation«
beigetreten, einer Organisation von »Jungbosnier«; und die
entwickelten keine »großserbische« sondern eine »jugoslawische«
Identität. Und was der Unterschied zwischen dem einen und dem
anderen ausmacht, wird uns seit dem Zerfall Jugoslawiens (seit
1991/92) vor Augen geführt.
Für falsch, zumindest aber für irreführend halte ich es, wenn Reik
als »Psychologe« (S. 63) bezeichnet wird. Reik, der unter
bedrückenden materiellen Verhältnissen in Wien studierte, 1910
Bekanntschaft mit Freud gemacht hatte und 1912 mit »Flaubert und
seine ›Versuchung des heiligen Antonius‹«“ promoviert worden war,
bildete sich mit Freuds moralischer und finanzieller Unterstützung
zum Laien-Analytiker, dem zweiten nicht-ärztlichen Analytiker nach
Rank aus; von einem »Psychologen« zu sprechen erzeugt beim Leser
nur Verwirrung.
Mit der Geographie und Geschichte Europas haben Lieberman und
Kramer so ihre Schwierigkeiten. Zur Stadt Krakau heißt es etwa:
»Österreichische Truppen nahmen sie 1915 von den Russen ein.« (S.
101; »Austrian forces took it from Russia in August 1915.«;
»Letters«, S. 77). Krakau war vor dem 1. Weltkrieg kein Teil des
Zarenreiches, sondern Österreichs, und wurde im ganzen 1.
Weltkrieg, im Unterschied zu östlicher gelegenen Gebieten
Galiziens, auch nie von dessen Armeen erobert bzw. besetzt. Im
Jahre 1850 hatte der damals erst zwanzigjährige Kaiser Franz Josef
(I.) die Entscheidung zum Bau der Festung Krakau gefällt, um gegen
die panslawischen Pläne des Zarenreiches, dessen Grenze nur wenige
Kilometer nördlich von Krakau lagen, gewappnet zu sein. Er durfte
den Erfolg seiner Maßnahmen noch miterleben: Im 1. Weltkrieg
behauptete sich die Festung Krakau – besonders im Dezember 1914 –
gegen das Vordringen der Russischen Armee und vereitelte deren
Plan, eine gute Ausgangsstellung für einen Angriff auf Schlesien zu
erzielen.
Zu Missverständnisse Anlass gibt auch die schon in den »Letters«
(S. 71: »Zakopane (Poland)«) zu findende Angabe »Zakopane (Polen)«
(S. 95). Ja, Zakopane, seit 1899 mit Krakau durch eine
Eisenbahnlinie verbunden, liegt im heutigen Polen (das dort 1962
die Nordischen Skiweltmeisterschaft ausgerichtet hat). Damals aber
(1917) lag es im Königreich Galizien und Lodomerien und war ein
Teil Österreichs; ohne solches Wissen versteht man schwer, weshalb
jene »bekannte Dame« (ebd.), die Rank Freud gegenüber im Brief vom
17. Juni 1917 erwähnt, mitten im Krieg nach Zakopane fährt. Im Jahr
zuvor war jene Dame in einer anderen Sommerfrische, die von Krakau
aus ebenfalls gut zu erreichen und auch im Krieg ein sicherer Ort
war: am »Szorbasee (Ungarn)« (ebd.). Das ist ein in der Hohen Tatra
gelegenen See, der im Deutschen als »Tschirmer« oder »Zirbener«
bekannt ist und der damals tatsächlich auf ungarischem Staatsgebiet
lag; heute liegt er auf slowakischem.
Oder etwas Anderes: Zum Treffen des Komitees am 26. August 1923 in
San Cristoforo heißt es: »San Cristoforo, 600 Meter unterhalb von
Freuds Urlaubsdomizil in Lavarone« (S. 192). Das hört sich so an,
als hätte das Komitee in Sichtweite von Freud und gleichsam unter
dessen »Aufsicht« getagt, was die Frage aufwirft, weshalb das
Komitee nicht »mal eben« bei Freud vorbei gekommen sei (was nicht
geschah). Der Höhenunterschied (1150 vs. 450 Meter Meereshöhe) ist
mit 600 Meter (»2,000 feet below«; »Letters«, S. 168) knapp
unterschätzt, aber der Luftlinienabstand beträgt bald 10 Kilometer
und die kürzeste Straßenverbindung durchs Gebirge zwischen beiden
Ortschaften ist mindestens 20 Kilometer lang – und bis heute nicht
die beste.
Mit Fragen der Geographie and Geschichte eng zusammen hängen
geopolitische Fragen. Und hier komme ich bei einem bestimmten Punkt
zu einer anderen Einschätzung als Lieberman und Kramer. Die
beschreiben, wie dies zuvor schon Lieberman in seiner
Rank-Biographie getan hat, den 1922 offen sichtbar werdenden
Konflikt zwischen Wien / Budapest einer- und Berlin / London
andererseits als einen solchen zwischen den »Süd- und
Nordfraktionen des Komitees« (S. 174). Das ist geographisch
zutreffend. Historisch aufschlussreicher aber wäre es von einem
Ost- Westkonflikt zu sprechen. Ungarn und Österreich, die durch die
Niederlage im 1. Weltkrieg sehr viel mehr ihrer Territorien
verloren haben als Deutschland und (auch deshalb) weitaus stärker
als dieses unter wirtschaftlicher Not und innenpolitischen Wirren
leiden, ist – und das wirkt sich auch auf das Handlungsvermögen der
psychoanalytischen Bewegung in diesen Ländern aus – in vielerlei
Hinsicht handlungsunfähig. In der psychoanalytischen Bewegung
werden Berlin und London – Großbritannien gehört auf die
Siegerseite – wichtiger als Wien und Budapest, treten in mancher
Hinsicht deren Erbe an – und benehmen sich selbstbewusster. Nach
1919 ist kein Ungar und kein Österreicher (mehr) Präsident der IPV,
London und Berlin stellt jetzt die Leute an der Spitze.
Mit dem Ende des 2. Weltkriegs verschiebt sich das politische
Machtzentrum noch weiter nach Westen in die USA. Und dorthin sind,
um wirtschaftlicher Not und/oder sich verschärfendem Antisemitismus
zu entgehen, zunehmend mehr Psychoanalytiker(innen) oder solche,
die es werden wollen, gegangen. Ist in den 1940ern (neben London,
Freuds Exil- und Sterbeort) noch die Ostküste der USA das neue
Zentrum der Psychotherapie, so verschiebt es sich binnen der
nächsten 10 – 20 Jahre noch weiter nach Westen. Erst an der
US-amerikanischen Pazifikküste in Kalifornien, Ranks Wunschland,
kommt die hier skizzierte Westdrift der Psychotherapie zum
Stillstand; dort sind ab den 1960ern bedeutsame
Psychotherapeut(inn)en zu finden, die Ranks Erbe in sich tragen und
fortentwickeln: Fritz Perls (Big Sur), Carl Rogers (La Jolla) und
Virginia Satir (Palo Alto).
Ein Letztes. Zu der Einschätzung von Lieberman und Kramer, in Ranks
Verhalten der Jahre 1924/25 zeige sich seine »bipolare Störung« (S.
259), sei angemerkt: Ich selbst bin kein Freund von Ferndiagnosen,
stelle gleich oder ähnlich lautende Diagnosen von Weggefährten
unter den Verdacht der Klinifizierung aus Parteilichkeit, kann
Ranks eigene in die Richtung gehende Selbstbeschreibungen als
»Notlügen« verstehen – und überlasse es künftiger historischer
Bewertung, ob Ranks Verhalten der Jahre 1924/25 nicht auch ohne die
Unterstellung einer bipolaren Störung sinnvoll zu erklären ist.
Fazit
Das vorliegende Buch empfiehlt sich zur Lektüre allen, die an der
Geschichte der Psychotherapie im Allgemeinen und der Ranks im
Besonderen interessiert sind. Wer nicht schon über ausreichendes
Vorwissen verfügt, sollte zuvor oder parallel Liebermans
Rank-Biographie lesen. Beide Bücher zusammen gewähren einen tiefen
Einblick in die Entstehungsgeschichte der Psychoanalyse und der
Psychotherapie und führen den von der Freudschen Orthodoxie lange
verfemten und nicht zuletzt deshalb noch immer wenig bekannten Rank
als einen bedeutenden Pioniere der Psychotherapie vor Augen.
Anhänger(innen) der psychodynamischen wie der humanistischen (oder
»experienziellen«) Therapieformen können (vielleicht zu ihrer
großen Überraschung) feststellen, wie »modern« Rank gedacht und
gehandelt hat.
Vorwiegend oder rein wissenschaftliche Interessierte werden auf
eine historisch-kritische Edition des Rank-Freud-Briefwechsels noch
warten müssen.
Rezensent
Prof. Dr. Dr. Hans-Peter Heekerens, Hochschullehrer für
Sozialarbeit/Sozialpädagogik und Pädagogik an der Hochschule
München
Zitiervorschlag
Hans-Peter Heekerens. Rezension vom 10.09.2014 zu: E. James
Lieberman, Robert Kramer (Hrsg.): Sigmund Freud und Otto Rank.
Psychosozial-Verlag (Gießen) 2014. 450 Seiten. ISBN
978-3-8379-2293-6. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245,
http://www.socialnet.de/rezensionen/16964.php.
www.socialnet.de