Rezension zu Das neue Der Die Das
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Rezension von Matthias Meitzler
Gunter Schmidt: Das neue Der Die Das
Thema
Als anthropologische Konstante gehört die Sexualität in jeder
Gesellschaft zu den elementaren Formen des sozialen Lebens. Die
vielzitierte »natürlichste Sache der Welt« auf seine biologischen
Determinanten zu reduzieren, würde sicher zu kurz greifen.
Schließlich ist Sexualität nicht einfach »da«, sondern wird im
Interaktionsrahmen stets aufs Neue performativ hergestellt – und je
nach Zeit und Ort unterschiedlich kodiert. Im Schatten der
Individualisierung und gesellschaftlichen Ausdifferenzierung
vollzieht sich ein sexueller Strukturwandel, deren Auswirkungen in
viele Lebenskonzepte (Moral, Geschlechts- und Körperbilder,
Partnerschaft, Familie etc.) eingreifen. Altbewährte Vorstellungen
und Sinnsetzungen wie z.B. die starre Grenzziehung zwischen Hetero-
und Homosexualität verschwimmen, und einstmals feststehende,
unhinterfragte Begriffe erlauben inzwischen unterschiedliche
Lesarten. Diese Entwicklung gibt berechtigten Anlass dazu, weniger
von »Sexualität« als von »Sexualitäten« zu sprechen (siehe:
www.socialnet.de/rezensionen/15631.php). Sexueller Wandel meint
nicht nur die Art und Weise wie Menschen ihre Sexualität leben,
sondern auch, welche Normalitätserwartungen sie dabei hegen, und
welche Erklärungsmodelle und Legitimationsgrundlagen herangezogen
werden. Wie auch das vorliegende Buch von Gunter Schmidt unter
Beweis stellt, ist die moderne Sexualität ein höchst
vielschichtiges Feld, dessen Einzelkomponenten schwer zu
überblicken sind und eine genauere Betrachtung lohnenswert
machen.
Autor
Der Psychotherapeut und Sozialpsychologe Gunter Schmidt war im
Uniklinikum Hamburg Eppendorf (Abteilung für Sexualforschung) in
Forschung und Lehre tätig. Zudem war er Vorsitzender der Deutschen
Gesellschaft für Sexualforschung und Präsident der International
Academy of Sex Research. Derzeit ist Schmidt Mitglied des
Bundesvorstandes der pro familia. Während seiner langen Laufbahn
hat er in diversen Forschungsprojekten mitgewirkt und zahlreiche
Publikationen vorgelegt. So ist er u. a. auch Mitherausgeber der
renommierten Fachbuchreihe »Beiträge zur Sexualforschung«. Große
Bekanntheit erlangten vor allem seine Studien zur Sexualität von
Jugendlichen und Studierenden. Schmidt gilt als einer der führenden
und meist rezipierten deutschen Sexualwissenschaftler.
Entstehungshintergrund
Hervorgegangen ist das Buch aus Manuskripten von Vorlesungen und
Vorträgen, die Schmidt in den letzten Jahren gehalten hat. Der Band
ist erstmals bereits im Jahr 2004 erschienen. Es handelt es sich
nun um eine überarbeitete, aktualisierte und um zwei Kapitel
erweiterte Neuauflage. Ältere Werke des Autors wie »Das große Der
Die Das« (1986) oder »Das Verschwinden der Sexualmoral« (1996)
können als Vorläufer betrachtet werden.
Aufbau
Die etwa 150 Seiten fassende Monografie besteht aus insgesamt elf
etwa gleich langen Kapiteln, die ihrerseits in kleiner Abschnitte
gegliedert sind.
Inhalt
Der sexuelle Wandel hat neue Ausdrucksformern und Deutungen
hervorgebracht, die Schmidt in seinem Buch bilanziert. Ein Blick in
die letzten Jahrzehnte zeigt, wie sehr sich die gesellschaftlichen
Rahmenbedingungen von Sexualität und damit verbundene soziale
Normen verändert haben. Traditionelle Verbindlichkeiten wurden
gelockert und klassische, lange Zeit als unumstößlich geltende
Ideale, etwa bezüglich der Geschlechtsrollenerwartungen,
hinterfragt. Damit hängen u.a. auch die gesellschaftliche
Neubewertung sowie der quantitative Anstieg von vorehelichem bzw.
außerehelichem Koitus zusammen. Sexuelle Beziehungen wurden aus der
Institution Ehe entlassen, und letztere ist in Zeiten der
Pluralisierung der Lebensstile nur noch eine von mehreren Optionen.
Ehescheidungen erfahren eine Uminterpretation, indem sie immer
weniger als ein legitimierungsbedürftiges Versagen, sondern als
zunehmend anerkannte Problemlösungsstrategie verhandelt werden.
Zwar konnten sich Partnerschaften von der Ehe emanzipieren, doch
sind auch sie durch eine wachsende Instabilität gekennzeichnet,
weil sie weniger denn je auf pragmatischen Beweggründen aufbauen
und dadurch leichter in Frage gestellt werden können. Die
»Kontinuitätsbiografie« (20) wird tendenziell abgelöst von einer
Aneinanderreihung serieller Monogamien. Sex scheint (in Zeiten, in
denen er von der Reproduktion abgekoppelt ist) zwar einerseits
unverbindlicher geworden zu sein, dennoch hat ihn »die feste
Partnerschaft […] nach wie vor fest im Griff« (24). So findet
Schmidt zufolge etwa 95% der Geschlechtsverkehre in festen
Beziehungen statt.
Ausgemachte Polaritäten zwischen richtig und falsch, gut und
schlecht, normal und pervers haben sich verflüssigt und bieten
heute Raum für heterogene Zwischenformen. Praktiken wie die des
Oralverkehrs, welcher vor hundert Jahren noch als perverse Abart
gebrandmarkt war, lassen sich heute problemlos in den
»Standardkanon« sexueller Spielarten integrieren. Ganz ähnliches
gilt für die damals tabuisierte und pathologisierte Masturbation.
Längst wird sie als eigenständige Sexualpraktik nicht nur
anerkannt, sondern auch nicht weiter in einem kompensatorischen
Sinne verstanden; vielmehr kann sie in friedlicher Koexistenz mit
dem Partnersex stehen – was sich durch empirische Untersuchungen
bestätigen lässt. Auch haben sich bestimmte Varianten des
Sadomasochismus vom Stigma der Perversion lösen können und werden
heute sogar verstärkt als Mittel einer (Wieder-)Belebung der
partnerschaftlichen Sexualität positiv quittiert.
An die Stelle einer von ehemaligen sexuellen
Normsetzungsinstitutionen wie Staat und Kirche diktierten
Sexualmoral ist eine von gleichberechtigten Sexualpartnern
ausgetragene Verhandlungsmoral getreten, so die Generalthese des
Autors. Diese Form der beidseitigen sexuellen Selbstbestimmung
bewertet nicht die sexuellen Handlungen an sich, sondern vielmehr
die Umstände ihres Zustandekommens. Im Zentrum steht die Idee der
Reziprozität, die den Geschlechtsverkehr als »gemeinsame Aktion des
Paares« (56) betrachtet. Von der Verhandlungsmoral profitiert in
heterosexuellen Beziehungen vor allem die weibliche Sexualität,
welche hierdurch überhaupt erst als solche anerkannt wird, und
nicht mehr länger der männlichen Lust unterworfen ist (gender
equalisation).
Das Prinzip der Verhandlungsmoral ragt auch in das Rechtssystem
hinein: In der Strafgesetzgebung spielt die Frage, ob gewisse
Sexualhandlungen unter gegenseitigem Einvernehmen zustande gekommen
sind oder nicht (was keineswegs immer eindeutig zu bestimmen ist),
eine nicht unbedeutende Rolle. Im Zuge der Liberalisierung
erscheint Sexualität also nur noch dann problematisch, wenn sie das
Terrain des reziproken Konsenses verlässt. Umso mehr werden Formen
des sexuellen Missbrauchs, nicht zuletzt im Kontext der Pädophilie,
streng sanktioniert.
Mit dem Wandel gehen auch veränderte wissenschaftliche Konzepte zur
Erklärung der Sexualität einher, in die Schmidt Einblicke gewährt.
So wurde etwa das Trieb- bzw. »Dampfkesselmodell« vom
Ressourcenmodell abgelöst. Ein eigener Abschnitt stellt die
Unterschiede beider Ansätze gegenüber. »Uns spätmoderne Menschen
treibt nicht so sehr die Frage um, wie man sexuelle Spannungen und
Druck loswerden kann, um Ruhe zu finden, sondern was man alles mit
der Sexualität anstellen kann« (37). Ein anderes Kapitel
beschäftigt sich mit dem wissenschaftlichen Diskurs zur
Kindersexualität (Gegenüberstellung von homologer und heterologer
Position), welcher in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert seinen
Anfang nahm, und nicht möglich gewesen wäre ohne die »frühe
bürgerliche sexuelle Revolution, die den Sex als einen Teil des
Charakters und der Identität konzipierte« (72).
Das Buch liefert ebenso quantitatives Material aus der eigenen
Forschung des Autors über Häufigkeit und Qualität von
Paarsexualität. Dabei wird u. a. mit einigen Trugschlüssen
aufgeräumt, wie dem, dass die heute geringeren Koitusfrequenzen ein
»Ausdruck kollektiver sexueller Langeweile« (52) seien. Auch das
Lebensalter der Partner ist für die Häufigkeit des Geschlechtsaktes
nicht so sehr entscheidend, sondern vielmehr die Dauer der
Paarbeziehung. Auf den Punkt gebracht: »Eine 60-jährige Frau, die
seit zwei Jahren mit ihrem Partner zusammen ist, ist – gemessen an
der Häufigkeit des Geschlechtsverkehrs – sexuell aktiver als ein
30-jähriger, der zehn Jahre lang liiert ist« (53). Das hat nicht
zuletzt auch damit zu tun, dass der gemeinsame Koitus in
unterschiedlichen Phasen der Paarbeziehung mit unterschiedlicher
Bedeutung aufgeladen wird. Thematisiert wird auch der Wandel der
Jugendsexualität. Deren Liberalisierung und Medialisierung werden
genauso beleuchtet wie Geschlechtsspezifika, der biografische
Zeitpunkt des ersten Geschlechtsverkehres sowie die Rolle der
Masturbation im sexuellen Erleben und Verhalten Jugendlicher.
Des Weiteren befasst sich der Autor mit der Infragestellung einer
lange Zeit selbstverständlichen, quasinatürlichen
Geschlechtsdichotomie, einer lebenslangen Geschlechtskonstanz und
der Monosexualität – was von einem historischen Abriss der Homo-
und der Intersexualitätsforschung ergänzt wird. Es erfolgt dabei u.
a. ein Verweis auf die über das wissenschaftliche Fachpublikum
hinaus bekannt gewordenen Arbeiten von Alfred C. Kinsey, der schon
Mitte des letzten Jahrhunderts auf ein hetero-homosexuelles
Kontinuum aufmerksam machte. Insofern sind »homo« oder »hetero«
keine festen und lebenslangen Setzungen, sondern intraindividuell
variabel. Schmidt weiß dies durch eigene Interviewstudien zu
bestätigen. »Man kann davon ausgehen, dass Homosexuelle gemeinhin
das Ausmaß ihrer Homosexualität und Heterosexuelle das Ausmaß ihrer
Heterosexualität überschätzen« (132 f.).
In seinem Resümee fasst Schmidt nochmals die letzten 50 Jahre des
sexuellen Wandels zusammen, welcher letztlich in der
Entmystifizierung des Sexuellen mündet.
Diskussion
Das neue Der Die Das ist streng genommen ein altes Der Die Das. Als
aktualisierte Neuausgabe kann die Arbeit mit dem gegenwärtigen
Forschungsstand mithalten, darüber hinaus liefert sie indes keine
radikalen Neuigkeiten. Wer sich aktuellste bahnbrechende
Erkenntnisse aus der Sexualwissenschaft erhofft, wird aller
Voraussicht nach enttäuscht. Weil das Buch – obschon auf
unterhaltsame Weise – Altbekanntes wieder aufwärmt, dürfte sich der
Erkenntniszuwachs all jener Leser, die mit dem status quo der
deutschen Sexualwissenschaft bereits vertraut sind, in Grenzen
halten. Redundanzen tauchen selbst innerhalb des Buches auf, was
aber zugegebenermaßen auch durch die Interpenetration der einzelnen
Kontexte bedingt ist, die sich nun mal analytisch schwer trennen
lassen. Gewinnbringend ist die Lektüre deshalb insbesondere für
jene Leser, die mit den sexualwissenschaftlichen Standarddiskursen
noch wenig vertraut sind – beispielsweise Studierende einer
Einführungsveranstaltung. Wer nach einer kompakten Zusammenfassung
des sexuellen Wandels der letzten Jahrzehnte in leicht
verständlicher Form sucht, ist mit diesem Buch in jedem Fall sehr
gut bedient. Insofern ist es auch für eine nichtwissenschaftliche
Leserschaft durchaus empfehlenswert. Möchte man hingegen mehr über
einzelne Hintergründe erfahren, ist man mit vertiefender Literatur
besser beraten.
An Anschaulichkeit gewinnt der Band dadurch, dass neben
theoretischen Überlegungen auch empirische Erkenntnisse (etwa
anhand von Fallbeispielen) dargelegt werden. Eine erweiterte
Übersicht erhält der Leser durch verschiedene Exkurse wie etwa zur
Homosexualität im Nationalsozialismus.
Leider verrät das Buch, seiner beabsichtigten Kompaktheit
geschuldet, wenig über methodologische Herangehensweisen – umso
spannender wären Reflexionen hinsichtlich der Generierung von Daten
in intimen Kontexten gewesen.
Fazit
Eine kompakte, anschauliche und gut lesbare Darstellung des
sexuellen Wandels der vergangenen Jahrzehnte, der als Überblick
über die Thematik empfehlenswert ist.
Rezensent
Matthias Meitzler
Zitiervorschlag
Matthias Meitzler. Rezension vom 13.08.2014 zu: Gunter Schmidt: Das
neue Der Die Das. Psychosozial-Verlag (Gießen) 2014. 153 Seiten.
ISBN 978-3-8379-2325-4. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245,
http://www.socialnet.de/rezensionen/17099.php, Datum des Zugriffs
13.08.2014.
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