Rezension zu Karl Abraham (PDF-E-Book)

Eppendorfer Zeitung für Psychiatrie 3/2014

Rezension von Verena Liebers

Auf den Spuren von Karl Abraham
»Lass uns noch um die nächste Ecke schauen« – Biografie zeichnet differenziertes Bild des Psychoanalytikers

Karin Zienert-Eilts setzt mit diesem Buch dem Neurologen und Psychiater Karl Abraham ein Denkmal. 1877 in Bremen geboren, wurde er nach Stationen in Zürich und Wien zum ersten Psychoanalytiker Deutschlands. Zunächst begeisterter Schüler Freuds, entwickelte er später eigenständige Konzepte, vor allem im Hinblick auf die Sexualtheorie. In Berlin war er Gründer und 1924, nur ein Jahr vor seinem Tod, auch Präsident der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung. In seiner kurzen Lebenszeit hat Karl Abraham viele Aufzeichnungen, Veröffentlichungen und Briefe hinterlassen, die sein Lebenswerk dokumentieren.

Die Berliner Psychoanalytikerin Karin Zienert-Eilts folgt den Spuren Karl Abrahams und zeichnet dabei ein differenziertes Bild dieser Persönlichkeit. Die Autorin hat Abrahams eigene Aufzeichnungen sowie die Äußerungen seiner Kollegen und der Familie gründlich analysiert. Die unvollendete Biografie seiner Tochter, Rundbriefe der psychoanalytischen Vereinigung sowie die Korrespondenz zwischen Abraham, Freud, Jung und anderen Größen dieser Zeit hat Zienert-Eilts systematisch zusammengestellt, informative Zitate herausgearbeitet und kommentiert. Besonderes Augenmerk legt sie auf die Konflikte, die sich mehr oder weniger deutlich zwischen den jungen Ärzten abzeichneten. Abraham war Oberarzt bei C.G. Jung, der ihm teilweise sehr kritisch gegenüberstand. Freud schätzte Abrahams wissenschaftliche Arbeiten zunächst sehr, übernahm aber teilweise auch C.G. Jungs Kritik an Abrahams Persönlichkeit.

Zienert-Eilts entwirft das Bild eines facettenreichen Charakters, der offensichtlich ebenso impulsive wie distanzierte und zurückhaltende Züge trug. Seine Tochter äußerte später, ihr Vater habe immer gesagt: »Lass uns noch um die nächste Ecke schauen.« Ein Ausspruch, der seine Neugier, Forschungsfreude und Beharrlichkeit auf den Punkt bringt. Angesichts der vielen, unterschiedlichen Äußerungen aus Abrahams Umfeld wird deutlich, dass eine Person kaum objektiv dargestellt werden kann. Was die einen als sympathische Zurückhaltung schätzen, gilt für die anderen als unangenehme Gehemmtheit. Die Kinder erinnern sich an eine harsche Erziehung, der Kollege an fachlichen Disput. Aber durch die vielfältigen Zitate und die Schilderung des wissenschaftlichen Umfelds gewinnt die Person Abraham im Laufe der 360 Seiten allmählich Kontur.

Untrennbar mit seiner Biografie verbunden sind die Arbeit, die Entwicklung der Psychoanalyse und die Weggefährten dieser Aufbruchszeit. Eindrücklich schildert Karin Zienert-Eilts die Zeit Abrahams im Burghölzli, der unter Eugen Bleuler als sehr fortschrittlich geführten Schweizer Klinik. Dort waren Freuds Ideen ständig präsent, die assoziative Traumdeutung wurde von allen Mitarbeitern erprobt und dabei weiterentwickelt, die Ärzte lebten mit den Patienten auf dem Krankenhausgelände. Die Schilderungen der Briefe und Begegnungen lassen etwas von der Begeisterung der Gründerzeit spüren.

In akribischer Detailarbeit hat die Autorin historisches Material zusammengetragen, sortiert und bewertet. Zienert-Eilts ist dabei vor allem Konflikten bis zu ihren Wurzeln gefolgt und hat herausgearbeitet, wie Gefühle, Intrigen und persönliche Beweggründe in die Entwicklung theoretischer Konzepte einflossen. Wissenschaftlicher Fortschritt zeigt sich dabei deutlich auch als Folge menschlicher Begegnung und ihrer Impulse.

Insgesamt ist eine beeindruckende wissenschaftliche Arbeit entstanden, die nicht leicht zu lesen ist. Wer sich auf die trockene Sprache, die zahlreichen Zitate und bis ins Detail verfolgten Korrespondenzen jener Zeit einlässt, gewinnt allerdings fast den Eindruck, Karl Abraham persönlich gekannt zu haben. Darüber hinaus zeigt das Buch, dass Persönlichkeit, Begegnung und Diskussion unverzichtbare Bestandteile der Psychoanalyse sind, was damals wie heute gleichermaßen gilt. Karl Abrahams Wunsch, stets »um die nächste Ecke zu schauen«, ist also auch allen zukünftigen Psychoanalytikern zu wünschen.

Verena Liebers


www.eppendorfer.de

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