Rezension zu Affekt und Form
Bildpunkt Herbst 2013 – Zeitschrift der IG Bildende Kunst
Rezension von Jens Kastner
What a feeling! im Buch
Jens Kastner
Der Begriff des Affekts, meint die Kulturtheoretikerin Mieke Bal,
bringe die Analyse der Handlungsfähigkeit (agency) von Kunst voran.
Denn er verknüpfe die ästhetische Qualität einzelner Kunstwerke mit
einer »Politik des Betrachtens«. Solche nicht immer sehr politisch
scheinenden Politiken werden dann in den einzelnen Beiträgen des
Bandes von Krause-Wahl/Oehlschlägel/Wiemer, für den Bal die
Einleitung geschrieben hat, durchgesprochen. Der Affekt jedenfalls
entsteht zwischen Wahrnehmung und Handlung, ist eine
»vorrübergehend geronnene Beziehung« zwischen beiden (Bal).
Kunstwerke seien ohne Affekte nicht erfahrbar, der Affekt sei,
schreibt Manfred Clemenz, »konstitutiver Bestandteil der Form«.
Seine Studie widmet sich diesem konstitutiven Zusammenhang für
Produktion wie Rezeption bildender Kunst. Das funktioniert als
Grundlagentext sehr gut. Allerdings bleibt Clemenz ganz den
Ansätzen von Kant und Freud und deren Erweiterung verpflichtet,
Bourdieus antikantianische Ästhetik etwa oder die Ablösung der
Libido durch das Begehren bei Lacan und Deleuze interessieren ihn
nicht weiter. Da aber setzen die meisten Diskussionen um Affekt und
Affizierung in den letzten Jahren an.
Michaela Ott etwa nennt ihre fulminante Studie zur Affizierung den
»kunstnahen Versuch, das vermeintlich individuelle Dasein ebenso
wie das einzelne Kunstwerk als Teilmomente umfassender Teilungs-,
Teilhabe- und Mitteilungsprozesse […] zu skizzieren«. Sie reißt
eine/n mit durch die Geschichte der Philosophie, nicht ohne
soziologische und kultur- und sogar naturwissenschaftliche
Diskursstränge und Filmbeispiele wahnsinnig informiert zu
durchforsten, und zwar nach der Möglichkeit einer politischen
Relektüre der Affizierung. Diese versteht sie als mehrschichtige
Dynamik, die »auf Bedingungen der Möglichkeit von Werden und
Veränderung, die Annäherung zweier Terme und das Dritte, das aus
ihrem Zusammenwirken entsteht« verweise.
Auch Marie-Luise Angerer argumentiert mit Deleuze/Guattari für eine
Neufassung des Humanen jenseits psychoanalytischer und
sprachtheoretischer Grundannahmen (bzw. über diese hinaus). Affekt
ist hier allerdings ein Dispositiv (im Sinne Foucaults), »in dem
sich die unterschiedlichsten Kräfte bündeln.« Angerers Buch ist
mehr zeitdiagnostisch ausgerichtet und versucht, die Effekte jenes
Dispositivs auszuleuchten. Auch sie streift dabei durch das
Dickicht von kunst- und medientheoretischen,
naturwissenschaftlichen und feministischen Debatten, um schließlich
in politischer Hinsicht zu resümieren: »Das Begehren nach dem
Affekt ist definitiv keine Befreiung.« Brian Massumi beschreibt den
Affekt als Ȇberschreiten einer Schwelle, gesehen aus der
Perspektive der Vermögensänderung.« Was hier ein bisschen nach
Kontostand klingt, meint ein allgemeines Potenzial und
Handlungsmacht.
Der Merve-Band versammelt verschiede Gespräche mit dem Philosophen,
in denen es um die Bedingungen, Aufgaben – »das Unvorstellbare
aufzuführen« – und Formen von Mikropolitik geht. Immer mit Deleuze
und Guattari im Rücken, ist Massumi plötzlich mal, wenn er den
Affekt als »körperliches Denken« beschreibt, von Bourdieus
Habitus-Begriff nicht weit entfernt.
Jens Kastner ist Kunsthistoriker und Soziologe. Zuletzt erschien
von ihm Der Streit um den ästhetischen Blick. Kunst und Politik
zwischen Pierre Bourdieu und Jacques Rancière, Wien 2012 (Turia +
Kant).
Marie-Luise Angerer: Vom Begehren nach dem Affekt. Berlin 2007
(diaphanes).
Manfred Clemenz: Affekt und Form: Ästhetische Erfahrung und
künstlerische Kreativität. Gießen 2010 (Psychosozial-Verlag).
Antje Krause-Wahl, Heike Oehlschlägel und Serjoscha Wiemer (Hg.):
Affekte: Analyse ästhetisch-medialer Prozesse. Bielefeld 2006
(transcript Verlag).
Brian Massumi: Ontomacht: Kunst, Affekt und das Ereignis des
Politischen. Berlin 2010 (Merve Verlag)
Michaela Ott: Affizierung: Zu einer ästhetisch-epistemischen Figur.
München 2010 (Edition Text und Kritik).
www.igbildendekunst.at