Rezension zu Kindzentrierte psychodynamische Familientherapie (PDF-E-Book)
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Rezension von Prof. Dr. phil. habil. Barbara Bräutigam
Anna Ornstein, Eva Rass: Kindzentrierte psychodynamische
Familientherapie
Thema
In diesem Buch versammeln sich verschiedene von Anna Ornstein
verfasste und von Eva Rass kommentierte Aufsätze zu Aspekten der
psychoanalytischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, einer
kindzentrierten Familientherapie und den Anforderungen an die
Elternschaft. Dabei wird die emotionale Stützung der Eltern und die
Notwendigkeit, sich mit deren Biographien therapeutisch
auseinanderzusetzen als zwingende Voraussetzung, um mit Kindern und
Jugendlichen psychodynamisch wirksam arbeiten zu können, in fast
allen ihren Aufsätzen hervorgehoben.
Autoren und Entstehungshintergrund
Anna Ornstein gilt als prominente Vertreterin der analytischen
Selbstpsychologie und der analytischen Kinderpsychotherapie. Sie
lehrt in den USA an der Harvard University. Sie wuchs in Ungarn auf
und wurde mit ihrer Familie nach Auschwitz deportiert. Sie
studierte in Heidelberg Medizin und emigrierte dann in die USA.
Prof. Dr. Eva Rass ist analytische Kinder- und
Jugendlichen-Psychotherapeutin und Supervisorin sowie Dozentin am
Institut für Bindungswissenschaften und an verschiedenen deutschen
Hochschulen. Eva Rass hat die Aufsätze von Anna Ornstein, die aus
der Zeit zwischen 1996 bis 2012 stammen zusammengestellt und durch
biographische Hintergrundinformationen von Anna Ornstein und eigene
theoretische Erläuterungen ergänzt.
Aufbau
Das Buch ist in zehn Kapitel gegliedert, die von einer Einleitung
und einer abschließenden Betrachtung gerahmt werden. Das zweite
Kapitel widmet sich der Biographie und dem ärztlich-therapeutischen
sowie dem forscherischen Werdegang von Anna Ornstein. Das dritte
Kapitel gibt einen Einblick in das Konzept der analytischen
Selbstpsychologie als zentrales theoretisches Rahmenkonzept für das
Denken und Handeln von Anna Ornstein. Das vierte Kapitel
beschäftigt sich mit der Herstellung des Kontaktes zu der inneren
Welt des Kindes und mit der Notwendigkeit für den Behandler, ein
therapeutisches Milieu zu schaffen, damit die Eltern sich in das
symptombelastete Kind einfühlen können. Das fünfte Kapitel nimmt
die Elternschaft als Funktion des Erwachsenenselbst in den Blick
und beschreibt insbesondere die elterlichen Selbstobjektfunktionen
und die Anforderungen an die Selbst- und Empathieentwicklung der
Eltern. Das sechste und siebte Kapitel beschäftigen sich anhand von
exemplarischen Falldarstellungen und der klassischen Kasuistik vom
»kleinen Hans« mit der Beziehung zwischen den Entwicklungsaufgaben
in der Kleinkindzeit und in der frühen Adoleszenz sowie mit der
selbstpsychologischen Perspektive zu den Hintergründen einer
kindlichen Phobie. Das achte Kapitel beleuchtet die veränderten
Anforderungen an die Elternschaft aus historischer Perspektive und
unter den gegebenen soziokulturellen Bedingungen; das neunte
Kapitel expliziert die von Anna Ornstein konzeptualisierte
kindzentrierte Familienbehandlung mit ihren klinischen und
handlungspraktischen Implikationen. Das zehnte Kapitel widmet sich
den »Kindern von Theresienstadt« und deren Überlebensstrategien
sowie der generationsübergreifenden Transmission von Traumata.
Inhalt
Bereits in der Einleitung macht Eva Rass deutlich, dass Anna
Ornstein wesentlich an dem Paradigmenwechsel, der sich in der
psychoanalytischen Kinderpsychotherapie in der zweiten Hälfte des
20 Jahrhunderts vollzog, mitgewirkt hat. Dabei ging es in erster
Linie um die verstärkte Bedeutung der Entfaltung des kindlichen
Selbst – wobei Eva Rass darauf hinweist, dass sich auch die
Erkenntnisse aus der Säuglings- und Bindungsforschung damit
kompatibel erwiesen. Eva Rass beschreibt im zweiten Kapitel, dass
Anna Ornstein siebzehnjährig mit ihren Eltern nach Auschwitz
deportiert wurde, der Vater starb in Auschwitz, ihre beiden Brüder
kamen in Arbeitslagern um. Nach dem Krieg wurde die Mutter von Anna
Ornstein Leiterin eines Waisenhauses für Kinder, deren Eltern nicht
mehr zurückgekehrt waren; bereits aus diesem Detail werden die
biographischen Bezüge zu dem späteren therapeutischen und
forscherischen Schaffen von Anna Ornstein sehr deutlich. Es wird
beschrieben, wie stark Anna Ornstein, nachdem sie mit ihrem Mann in
die USA emigrierte, von den theoretischen Konzepten von Heinz Kohut
und Donald Winnicott beeinflusst und geprägt wurde. Auf dieser
Grundlage veröffentlichte sie bereits 1976 einen ersten Aufsatz zu
der Bedeutung eines Selbstobjektkonzeptes für die kindliche
Entwicklung sowie über die Prinzipien einer kindzentrierten
Familientherapie. Dabei war der Gedanke grundlegend, dass es im
Falle einer Therapie nicht nur darum gehen könne, das innere
Erleben des Kindes zu erfassen, sondern die Bedürfnislage der für
das Kind bedeutsamen Erwachsenen wahrzunehmen und sich mit dieser
auseinanderzusetzen. Denn das »offenkundigste Hindernis, das der
elterlichen Empathie im Weg steht, ist die Furcht der Eltern vor
dem Wiedererleben ihrer eigenen Kindheitsängste« (39).
Eine weitere notwendige Voraussetzung, um elterliche Empathie zu
entwickeln ist nach Anna Ornstein ganz im Sinne der
Selbstpsychologie die Fähigkeit der Eltern, sich als getrennte
Person von ihren Kindern zu erleben. Anhand zahlreicher klinischer
Beispiele illustriert Anna Ornstein die Schwierigkeit und z. T.
auch das Unvermögen von Eltern, dem Leid ihrer Kinder empathisch zu
begegnen, weil sie selbst biographisch zu verstrickt sind.
Eindrucksvoll zeigt Anna Ornstein, auf welche Weise Therapeuten
diesem Phänomen begegnen können: »Das empathische Eingehen des
Therapeuten auf den seelischen Zustand der Mutter und die immer
wiederkehrende Deutung ihres eigenen Gefühls der Vernachlässigung
und ihres Bedürfnisses, dass das Kind auf sie eingehen möge,
machten es der Mutter möglich, mehr und mehr das Innenleben des
Kindes anstelle ihrer eigenen Bedürfnisse, in den Mittelpunkt zu
stellen.« (90f.) Anna Ornstein hebt in ihren Aufsätzen insgesamt
immer wieder hervor, dass die inneren Erfahrungen des Kindes, zu
denen die Phantasien, Affekte und Abwehrmechanismen gehören, ebenso
aufmerksam im therapeutischen Prozess wahrgenommen werden müssen
wie das Umfeld des Kindes; beides müsse quasi gleichschwebend
therapeutisch in den Blick genommen und dabei ein die Familie
miteinbeziehendes therapeutisches Milieu geschaffen werden. Dies
sei besonders unter den veränderten Formen und Anforderungen an die
Elternschaft notwendig, in der Eltern durch Überforderung,
Orientierungslosigkeit und daraus resultierender
Entscheidungsschwäche vom kleinen Kind nicht ausreichend
idealisiert werden könnten.
Diskussion
Das Buch gibt einen dichten und gehaltvollen Blick in die Denk- und
therapeutische Handlungsweise von Anna Ornstein und liefert in
seinem Anfangs- und Schlussteil wesentliche und hilfreiche
theoretische und biographische Zusatzinformationen, die die
Aufsätze von Anna Ornstein in den Kontext der psychoanalytischen
Selbstpsychologie einbetten. Das Buch stellt einen interessanten
und sehr lesenswerten Kontrapunkt zu anderen zumeist systemisch
orientierten Ansätzen der Familientherapie- und Familienbehandlung
dar und erläutert sehr schlüssig und theoretisch fundiert die
fachliche Notwendigkeit, ein therapeutisches Milieu zu schaffen,
dass die innere und biographische Not der Eltern zentral in den
Blick nimmt und dabei auch Empathie für die elterlichen Bedürfnisse
entwickelt. Auf diese Weise werden die Eltern dabei unterstützt,
ihrerseits Empathie für ihre Kinder zu entwickeln. Gleichzeitig
macht das Buch sehr deutlich, dass eine therapeutische
psychodynamische Behandlung von Kindern und Jugendlichen ohne die
ausreichende und tiefgehende Einbeziehung von deren Eltern fachlich
eigentlich nicht zu verantworten ist. Kritisch erscheint, dass Eva
Rass als Autorin nur implizit erscheint und es im Grunde allein dem
Leser überlassen bleibt, welche Gedanken Anna Ornstein zuzuordnen
sind und an welchen Stellen Eva Rass eigene Überlegungen einfließen
lässt – da hätte man sich eine klarer zuordenbare Autorenschaft
gewünscht.
Fazit
Ein sehr lesenswertes, theoretisch dichtes und mit vielen
Fallbeispielen angereichertes Buch für Fachkräfte, die im
therapeutischen Rahmen mit Familien arbeiten und die sich
psychodynamischen Konzepten und Überlegungen, die im Übrigen
überwiegend sehr gut und verständlich dargestellt sind, nicht
verschließen. Das Buch ist sowohl für Praktiker als auch im
wissenschaftlichen Kontext sehr zu empfehlen!
Rezensentin
Prof. Dr. phil. habil. Barbara Bräutigam
Zitiervorschlag
Barbara Bräutigam. Rezension vom 24.07.2014 zu: Anna Ornstein, Eva
Rass: Kindzentrierte psychodynamische Familientherapie.
Psychosozial-Verlag (Gießen) 2014. 220 Seiten. ISBN
978-3-8379-2339-1. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245,
http://www.socialnet.de/rezensionen/16575.php, Datum des Zugriffs
24.07.2014.
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