Rezension zu Die Gründung der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung durch Freud und Jung
Psychotherapie Forum Volume 19 – 1 Issue
Rezension von Robert Strubel
Elke Metzner, Martin Schimkus (Hrsg.)
Die Gründung der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung
durch Freud und Jung
Es ist ein großes Verdienst des Psychosozial-Verlags, mit seiner
Reihe »Bibliothek der Psychoanalyse« eine Plattform zur
Auseinandersetzung der Psychoanalyse mit ihrer Geschichte
geschaffen zu haben, die auch allen von Freuds Psychoanalyse
»abgespaltenen« Schulen zugänglich ist. Neuere (oder neu
aufgelegte) Titel in dieser Reihe wie »Spaltungen in der Geschichte
der Psychoanalyse« (hg. von Ludger M. Hermanns) oder »C.G. Jung –
Zerrissen zwischen Mythos und Wirklichkeit« (Brigitte Spillmann und
Robert Strubel) reflektieren auch heikle, schmerzhafte und
destruktive Spaltungsprozesse in dieser Geschichte. Als neuste
Publikation erschien 2011 der Sammelband »Die Gründung der
Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung durch Freud und
Jung«, die 1910 erfolgt und Auftakt zu mehreren Abspaltungen war.
100 Jahre danach hielt die »Deutsche Gesellschaft für Analytische
Psychologie« (DGAP), der Berufsverband der deutschen Jungianer, in
Nürnberg ihre Frühjahrstagung ab; das genannte Buch enthält die
Vorträge der Tagung, von denen die meisten auf die 100 Jahre zuvor
dort gehaltenen Vorträge Bezug nahmen. Es sollte aus der
Erinnerung an den Kongress von 1910 »die Gegenwart der
psychotherapeutischen Praxis reflektiert«, also ein Bogen vom
damaligen zum heutigen Wissensstand geschlagen werden. Beteiligt
daran sind mehrheitlich Jung’sche AnalytikerInnen, daneben drei
Sozialwissenschaftler und ein Historiker. Im Folgenden werde ich
vor allem auf die Artikel eingehen, die sich wesentlich mit der
Problematik der IPV-Gründung und deren Analogien in der Gegenwart
befassen.
In einem soziologisch-historischen Vergleich mit anderen
Vereinsgründungen der damaligen Zeit wird von dem Soziologen
Friedhelm Kröll der schwierige Übergang von bekennender, affektiv
motivierter Anhängerschaft gegenüber der Grundidee und ihrem
Begründer zur Mitgliedschaft in einem Verein mit formal
versachlichten Strukturen verdeutlicht. In der Frühphase sind
informelle Beziehungen oft mit den Verbandsstrukturen vermischt
oder überlagern sie. Ein scheinbarer Konsens erweist sich leicht
als Illusion, sodass »Sezessionen« stattfinden, bevor der Verein
wirklich eine gemeinsame Basis gefunden hat. Die Ausführungen
regen zu Reflexionen darüber an (die hier nicht ausgeführt sind),
dass nicht nur die Rekrutierung neuer Mitglieder, sondern generell
die Vergesellschaftung psychoanalytischer Verbände bleibend und
nicht nur in deren Anfangsphase belastet ist durch informelle
Beziehungen aufgrund ungelöster Übertragungen, weshalb die
Tendenz zu Abspaltungen und Ausgrenzungen anhält. Kernbergs
Analysen zu diesem Thema, die von Freuds Verhalten ausgehend die
bleibenden Übertragungskomplikationen in psychoanalytischen
Gesellschaften reflektiert, hätten es verdient, in diesem Buch
ebenfalls erörtert zu werden.
Dies besonders, weil immer wieder auf Freuds Anspruch verwiesen
wird, väterliche Führungsfigur zu sein und zu bleiben, der
demokratische Strukturen ausdrücklich verhindern wollte. Michael
Ermann (Mai Wegener u. a.) verweisen darauf, dass Jung z. B. auf
Lebenszeit von Freud als Präsident eingesetzt werden sollte, um u.
a. »richtige Psychoanalyse« vom »Unsinn« scheiden, die
Psychoanalyse »rein« erhalten zu können; Freuds »autoritärer
Anspruch [stand] dem emanzipatorischen Programm der Psychoanalyse«
entgegen. Demgegenüber gebe es heute einen breiten Strom von
Auffassungen und Meinungen in der IPV, »die offen miteinander
rivalisieren«. Die Emanzipation sei aber »noch nicht
abgeschlossen«, es gebe immer noch »Ausgrenzungen und
Entwertungen«. Wir seien noch »weit davon entfernt anzuerkennen,
dass die Psychoanalyse in ihrer Ganzheit niemandem gehört«, wie
Cremerius bereits vor Jahren betonte. Die Grundproblematik der
IPV-Gründung, die autoritär und ohne vorherige Bekanntgabe über
die Köpfe der TeilnehmerInnen des damaligen Kongresses hinweg von
Freud, Jung und Ferenczi vorbereitet und durchgezogen wurde, ist
sehr gut erfasst.
Der Hinweis von Almuth Bruder-Bezzel, dass Freuds Vorgehen dabei
spaltend war und die Entwertung »der Wiener« beabsichtigte, fügt
sich in diese Sicht ein und verdeutlicht die
manipulativ-autoritäre Grundeinstellung, zugleich aber auch Freuds
paranoide Angst, die Psychoanalyse könnte verfälscht oder ihm
entrissen werden. Von dieser Angst war vieles in der folgenden
Geschichte geprägt.
Der einzige Vortrag, der – wohltuend selbstkritisch – die heutige
Situation der deutschen Jungianer mit der Situation bei der
IPV-Gründung vor 100 Jahren vergleicht, stammt von Anne
Springer.
Während sich in der Freud’schen Welt die IPV als Erfolgsmodell
erwies, bildeten sich unter den Jungianern in den verschiedensten
Ländern Clubs, entsprechend Jungs eigenem Club in Zürich. Der
Versuch eines Zusammenschlusses der Clubs verschiedener Länder im
Jahre 1940 scheiterte in den Wirren des 2. Weltkriegs. Erst 1948
wurde das C.G. Jung-Institut in Zürich und 1955 die »International
Association for Analytical Psychology« (IAAP) gegründet. In
Deutschland bildete sich nach dem Krieg in Berlin eine Gruppe (und
später ein Institut), das von der Voraussetzung ausging: »Kein
Jung ohne Freud, kein Freud ohne Jung“« Die Stuttgarter
Gruppenphantasie hingegen hieß: »Jung brauchte Freud nicht
wirklich, er war als ein Eigener groß/und wir sind es mit ihm.«
1960 wurde die DGAP gegründet; auch dort fand kein Diskurs statt,
weder über die inneren Divergenzen noch über das
Freud-Jung-Verhältnis. In Identifikation mit Jungs persönlicher
Ablehnung von Organisationen wurden Jung’sche Gesellschaften
überwiegend personenbezogen geführt, die Gruppe zu wenig als
positiver Bezugspunkt für die einzelnen gesehen. Die unbearbeitete
innere Gespaltenheit zwischen den beiden deutschen Gruppen
hinterließ »schwer heilbare[n] Verletzungen«. Innerhalb der DGAP
gibt es daher »eine Bedrohung durch destruktive Prozesse, die den
Diskurs, die Kreativität und die Weiterentwicklung behindern«. »So
stehen wir vor einer modernen Variante von Jungs Problem von 1910.
[...] Meine Hoffnung ist, dass wir uns für den Diskurs entscheiden
mit der Chance, dass 1910 für die DGAP nicht mehr Vergangenheit in
der Gegenwart ist«.
Dieser Artikel begreift das Problem der Jung’schen Psychologen wohl
am besten von innen heraus. Die Autorin stellt darin nicht zuletzt
den Anspruch an die Analytischen Psychologen, den jede
tiefenpsychologische Therapierichtung an ihre Patienten stellt:
Sich mit der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen. Sie weist
darauf hin, dass dies ungenügend geschah und dass deshalb 1910
»für die DGAP« noch immer »Gegenwart ist«.
Wiewohl in den verschiedenen Aufsätzen dieses lesenswerten Buches
viel Erhellendes zur Geschichte der verschiedenen Richtungen gesagt
wird, die aus »der Psychoanalyse« hervorgingen, so zeigt gerade der
Artikel von Anne Springer in aller denkbaren Deutlichkeit auf, dass
auch dieser Kongress dem Anspruch nicht gerecht wurde, die seit 100
Jahren bestehenden Konflikte in ein gemeinsames Konfliktfeld zu
setzen und auf den Diskurs darüber wirklich einzutreten. Dies wird
u. a. deutlich an einer Bemerkung im Vorwort dieses Buches, wo
festgestellt wird: »Eine gemeinsame Tagung aller in Deutschland
vertretenen psychoanalytischen Fachgesellschaften innerhalb der
DGPT war auch 2010 noch nicht möglich. Diese nicht wahrgenommene
Chance wurde am Ende der Tagung in Nürnberg bedauert ...« Diese
Aussage ist in sich widersprüchlich: Wenn eine gemeinsame Tagung
wirklich »nicht möglich« gewesen wäre, so hätte es auch eine
Chance dazu nicht gegeben. Wenn die »Chance« dazu aber eine »nicht
wahrgenommene« war, so wäre eine gemeinsame Tagung grundsätzlich
möglich gewesen, diese Möglichkeit wurde aber nicht ergriffen
oder nicht geschaffen. Eine Auseinandersetzung mit der
Gegenwärtigkeit von 1910 fand an dieser Tagung also nicht statt;
die ungelösten Widersprüche blieben schon im Konzept der Tagung
bestehen. Wieso traten die Nachfolger der Vertreter der
Konfliktparteien von einst nach 100 Jahren nicht zusammen, um einen
Diskurs über damalige und heutige Konflikte zu beginnen? Einigen
oder allen heutigen Konfliktpartnern scheint die Spannung zu groß
zu sein, die über den heute (immer noch) existierenden Konflikten
liegt. Anne Springer hat dies für die Gruppe der Jungianer in
Deutschland klar diagnostiziert. Sie hegt die Hoffnung auf einen
Diskurs, auch zwischen Freudianern und Jungianern samt allem, was
sie trennt und verbindet. Trotz viel aufschlussreichen
geschichtlichen Rückblicks weckt der Band diese Hoffnung nicht.
Gerade in diesem Sinne ist das Buch sehr erhellend.
Robert Strubel
Zollikon, Schweiz