Rezension zu Ich - Eine Illusion?

Christ in der Gegenwart Nr. 28/2014

Rezension von Gotthard Fuchs

Funke, Dieter: Ich – Eine Illusion?

Psychotherapie und auch Psychoanalyse sind »uneheliche Kinder« der Religion, der jüdischen und christlichen vor allem. Was in der christlichen Kultur der Gewissenserforschung lange geübt wurde und zur Gründungsgeschichte moderner Subjektivität gehört, brachte Sigmund Freud methodisch auf den Punkt: Das Ich sei nicht Herr »im eigenen Hause«. Entsprechend ist das Gespräch zwischen Religion und Psychoanalyse im Gange. Die »Vorstellung eines festen, stabilen und unveränderlich Ich« wird infrage gestellt. Seitens der Religion unterstrich etwa Meister Eckhart, im eigentlichen Sinn könne einzig Gott »Ich« sagen. Seitens der Psychoanalyse gilt Freuds Grundsatz: »Wo Es war, soll Ich werden.«

Damit ist jedoch nicht nur das Unbewusste ins Spiel gebracht, sondern auch das Überbewusste und damit die Selbst-Transzendenz des Menschen. Der britische Psychoanalytiker Wilfred Ruprecht Bion (1897-1979), der als »Mystiker« unter den Therapeuten gilt, formulierte den Reifungsprozess zum Wirklichwerden der Person als Dreischritt: Ich-Werdung, Selbst-Werdung, O-Werdung – wobei »O« für das All-eins der Transzendenz steht.

Der Düsseldorfer Therapeut Dieter Funke plädiert in seinem Buch für ein gleichermaßen kritisches wie kreatives Zwiegespräch zwischen Psychoanalyse und Mystik. Ausführlich entfaltet er zunächst »die Entdeckung der latenten Mystik in Freuds Werk«. Nicht nur, dass der Psychoanalyse-Begründer zutiefst von der jüdischen Vater-Religion gerade in Widerspruch und Widerstand geprägt bleibt, sei zu bedenken. Sowohl sein Konzept des »Es« als unbewusster Lebens- und Triebstruktur des Menschen wie auch seine Analyse des »Todestriebes« zielen auf schöpferische Selbstwerdung durch Selbstüberschreitung. Funke schreibt gut lesbar, zitiert kundig und argumentiert klar. Dank der vielen Wiederholungen entsteht ein eindringliches, zugleich analytisches und fast meditatives Leseereignis. So sehr das Gespräch mit Freud den analytischen Gesamtrahmen bildet, so sehr werden wichtige andere Therapiekonzepte dargestellt, etwa das des Franzosen Jacques Lacan und jenes von Bion.

Während das psychoanalytische Denken durch Aufklärung, Kritik und Differenz bestimmt ist, versteht Funke Mystik als ein transreligiöses und transkulturelles Konzept von Überschreitung in eine letzte nichtduale Wirklichkeit hinein, die nicht mehr von Gegensätzen und Mehrdeutigkeiten geprägt ist. Manche sprechen vom absoluten Selbst, das »jenseits des Ich« gerade dann bei sich sei, wenn es ganz außer sich ist – sozusagen hingerissen und aufgehoben in die göttliche Wirklichkeit. Hier ist also nicht Differenz, sondern Einheit als Identität das Ziel.

Funke spricht sich für »ein dreidimensionales Modell des Unbewussten als Bezugsrahmen für Mystik und Psychoanalyse« aus: einmal die inwendige Seite des Menschen, geprägt durch Biologie und Triebstruktur; dann was der Autor als die inter-subjektive, kommunikative Seite bezeichnet, das Interesse (Zwischen-Sein) als Beziehungsstruktur; schließlich der transzendente, überpersonale Raum der letzten Wirklichkeit, in dem alle Gegensätze aufgehoben sind. Ein lebendiges Ich bedarf aller Dimensionen. Das begrenzte und begrenzende Ich sowie das sich selbst übersteigende und sich mit dem Sein vereinigende Selbst bestehen jeweils ineinander. Sie »markieren förmlich unterschiedliche Zugangsweisen«: Die Psychoanalyse konzentriert sich auf die Dynamik des Unbewussten, die Mystik auf die des Transbewussten. Zusammenfassend heißt es: »Das Ich ist eine Illusion, und es ist keine Illusion. Im Einheitsparadigma (der Mystik; d. Red.) erscheint es als eine Illusion, im Differenzparadigma als eigene Realität.«

Dass der Verfasser einseitig nur einen überzeitlichen Begriff von Mystik zur Grundlage nimmt, also ohne inhaltliche Bestimmung und kulturellen Bezug, ist begründbar, aber problematisch. Ein eher konstruktivistisches Verständnis von Mystik würde viel deutlicher zwischen buddhistischer, christlicher und anderer Mystik unterscheiden (nicht trennen!). Hier steht auch das Verständnis Gottes und seiner Personalität zur Debatte. Meinen alle Religionen mit ihrer Mystik denselben Gott? Ist die Unio mystica im Sinne des Christusglaubens »letztlich« doch »nur« dieselbe wie die in der Erleuchtung des Buddha? Hängt an solchen Fragen dann nicht auch die Leitfrage des Buches, was denn der Mensch sei, als Subjekt (womöglich) und Person? Insofern ist Funkes Synthese eine Herausforderung an Religionswissenschaft sowie an christliche Theologie und Spiritualität.

Gotthard Fuchs

Aus der Wochenzeitschrift Christ in der Gegenwart (Nr. 28/2014, Freiburg i. Br.)

www.christ-in-der-gegenwart.de

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