Rezension zu Rechtsextremismus der Mitte

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Rezension von Sina Laubenstein

Rechtsextreme Einstellungen in der Mitte der Gesellschaft
Verfasst am 2. September 2013
Von Sina Laubenstein

Wo findet man vermehrt Rechtsextremismus in Deutschland? Im Osten oder im Westen? Und in welchen Altersklassen sind rechtsextreme Einstellungen häufiger vertreten? Die Studie einer Arbeitsgruppe um Prof. Elmar Brähler, Dr. Oliver Decker und Johannes Kiess von der Universität Leipzig zeigt den Rechtsextremismus in Deutschland – wissenschaftlich fundiert und in Zahlen.

Seit zehn Jahren untersucht die Arbeitsgruppe um Prof. Elmar Brähler und Dr. Oliver Decker rechtsextreme Einstellungen in Deutschland und stellt die Ergebnisse ihrer Studie nun in dem Buch »Rechtsextremismus der Mitte« vor. Die »Mitte«-Studien stellen eine sozialpsychologische Gegenwartsdiagnose dar: Alle zwei Jahr werden Erhebungen durchgeführt, um die »rechten« Einstellungen der wortwörtlichen gesellschaftlichen Mitte zu messen. Der gesellschaftliche Wandel und Umbruch sei für das Aufkommen rechtsextremer Einstellungen verantwortlich. Die Autoren kommen zu den folgenden, teilweise erschreckenden, Ergebnissen.

Wie die gesellschaftliche Mitte die Demokratie gefährden kann
Die Arbeitsgruppe sieht die Stabilität der Demokratie in Abhängigkeit zur Wirtschaft: Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es zu einem wirtschaftlichen Aufschwung, der die Demokratie als politisches System in Deutschland legitimierte. Das neue politische System wurde nach Hitlers faschistischer Diktatur erfreut angenommen – vor allem, nachdem man den Wirtschaftsaufschwung sah. Die Forschungsergebnisse der Arbeitsgruppe zeigen jedoch: Scheitert die Wirtschaf hat das Konsequenzen für die Stabilität einer Demokratie. Die wirtschaftliche Krise führt zu einer Legitimationskrise des demokratischen Systems. Die Bevölkerung zweifelt an der Demokratie als politischem System und lehnt dieses ab. Letztendlich verbirgt sich hinter der extrem wissenschaftlichen Ausdrucksweise und den Zahlen folgendes: Wirtschaftliche Krisen, die einen starken Einfluss auf das Wohl und den Wohlstand der Bevölkerung haben, fördern rechtsextreme Einstellungen – und machen die gesellschaftliche Mitte zu einer Bedrohung der Demokratie. Das sei jedoch nicht nur ein deutsches Phänomen – länderübergreifend haben wirtschaftliche Krisen einen negativen Effekt auf die Stabilität der Demokratie. Die Bevölkerung muss jemandem die Schuld an der Wirtschaftskrise geben – Antisemitismus und Islamfeindlichkeit steigen und bestätigen die Hypothese.

Wo und wer? Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland
Die »Mitte«-Studien zeigen außerdem die Verteilung rechtsextremer Einstellungen in Ost- und Westdeutschland. Die Autoren messen diese anhand verschiedener Faktoren: Beispielsweise fragen sie nach der Befürwortung rechtsautoritärer Diktaturen und die Verharmlosung des Nationalsozialismus, unterscheiden Ausländerfeindlichkeit und Antisemitismus. In einem Gesamtquerschnitt Deutschlands von 2002 bis 2012 zeigt sich, dass der Osten verstärkt ausländerfeindliche Einstellungen vertritt, während der Westen bei den anderen Faktoren vorne liegt: Jeder zehnte Westdeutsche vertritt antisemitische Einstellungen, während es in Ostdeutschland »nur« jeder 16. ist. Antisemitismus ist in Westdeutschland über alle Altersgruppen hinweg ein verbreitetes Phänomen. Insgesamt zeigt sich jedoch, dass Rassismus insgesamt die meist verbreitetste rechtsextreme Einstellung ist – bundesweit. »Unsere These, dass Ausländerfeindlichkeit die Einstiegsdroge ist, bestätigt sich deutlich«, sagt Elmar Brähler.

Betrachtet man jedoch, wer vermehrt rechtsextreme Einstellungen vertritt, zeigt sich ein Trend: Während in Westdeutschland vor allem Männer (Frauen werden in der Studie scheinbar nur als Nebensache betrachtet, dabei weiß man doch spätestens seit Beate Zschäpe, dass auch Frauen eine wichtige Rolle in der Nazi-Szene spielen), die vor 1950 geboren wurden, rechtsextremen Aussagen offener gegenüber sind, ist Rechtsextremismus in Ostdeutschland hauptsächlich ein Jugendproblem. Vor allem der Faktor »Ausländerfeindlichkeit« bestätigt diese Annahme. Insgesamt wollen die Autoren mit ihren Zahlen und Fachbegriffen nur eines aussagen: In Westdeutschland sind vor allem ältere Generationen rechtsextremen Einstellungen gegenüber offen, während vermehrt jüngere Ostdeutsche rechtsextreme Aussagen unterstützen.

Im Zeitverlauf zeigt sich, dass rechtsextreme Einstellungen grundsätzlich abgenommen haben. Die Autoren sind sich einig: Rechtsextremismus ist das Ergebnis sozialer Prozesse. Die individuelle Persönlichkeitsstruktur und der erfahrene Erziehungsstil beeinflussen, ob man rechtsextreme Einstellungen vertritt.

Rechtsextreme Einstellungen: Wieso?
Die Autoren untersuchen nicht nur die Verbreitung rechtsextremer Einstellungen in Deutschland über Generationen hinweg, sondern wollen auch aufzeigen, weshalb Rechtsextremismus entsteht beziehungsweise wann vermehrt rechtsextreme Einstellungen vertreten werden. Hier setzen sie den Fokus hauptsächlich auf wirtschaftliche Faktoren. Kurz gesagt: Je schlechter die Wirtschaft läuft und je stärker das den eigenen Wohlstand negativ beeinflusst, desto offener sei man gegenüber Rechtsextremismus. Die Bevölkerung sucht einen Sündenbock: Das hat sich kurz vor dem Zweiten Weltkrieg gezeigt – die Nationalsozialisten nutzen die Unzufriedenheit der Bevölkerung und boten einen Schuldigen: die Juden. Und heute? Die »Mitte«-Studien zeigen, dass zu Zeiten der wirtschaftlichen, aber auch gesellschaftlichen Krisen Antisemitismus und Islamfeindlichkeit deutschlandweit zunehmen. Die Bevölkerung hat ein Gefühl des Kontrollverlustes, fühlt sich bedroht – dadurch werden Ausländerfeindlichkeit und ein »positiver Nationalstolz« gefördert. Man fühlt seinen sozialen Status, seinen Wohlstand und die eigene soziale Gruppe gefährdet und reagiert darauf mit Feindseligkeit gegenüber Ausländern, die den »Bio-Deutschen« die Arbeit wegschnappen. »Die Wahrnehmung einer Bedrohung der eigenen Gruppe aktiviert eine Fremdengruppenabwertung«, fassen die Autoren zusammen.

Und, kaum zu glauben, auch die Kirche spielt heute noch eine Rolle: Die deutsche Gesellschaft ist christlich geprägt. Die Forschungsgruppe nimmt nach wie vor religiöse Motive wahr – die Ablehnung anderer Religionen, heutzutage neben des Judentums hauptsächlich des Islams. Begründet wird das mit der grundsätzlichen Ablehnung von neuen, andersdenkenden Perspektiven und Personen. Alles, was von traditionellen Konventionen abweicht, wird feindselig betrachtet. Veränderung? Nein, danke! Insgesamt zeigen die Autoren: Die Aufwertung der eigenen Gruppe und die Wahrnehmung einer Bedrohung des bekannten, kulturellen Wertesystems fördern extreme Einstellungen. Außerdem fügen sie noch hinzu, dass sexistische Einstellungen häufig mit Rechtsextremismus einhergehen.

Und was tun gegen Rechtsextremismus? Die Autoren zeigen, dass der Kontakt zu Ausländern einen positiven Einfluss auf die Einstellung gegenüber ihnen hat: Direkte Beziehungen zu Flüchtlingen und Migrantinnen und Migranten reduzieren die Ablehnung gegenüber diesen noch stärker als indirekte Verbindungen.

Letztendlich ...

… ist das vorgestellte Buch die Zusammenfassung von Forschungsergebnissen der letzten zehn Jahre. Aus diesem Grund enthält es ziemlich viel Fachsprache, viele Daten, Tabellen und Zahlen, die es zu entschlüsseln gilt. Doch schafft man es, tatsächlich hinter dem wissenschaftlichen Bericht die Ergebnisse zu entdecken, zeigt sich: Rechtsextreme Einstellungen sind in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Wirtschaftskrisen und sozialer Umbruch öffnen die Gesellschaft für Rechtsextremismus – die Mitte kann zu einer Bedrohung der Demokratie werden. Rechtsextreme Einstellungen sind im Osten wie im Westen verbreitet. Während in Westdeutschland hauptsächlich Personen älterer Generation rassistische und antisemitische Aussagen unterstützen, ist Rechtsextremismus im Osten vor allem ein Jugendproblem. Mein persönliches Fazit: Interessante Ergebnisse – aber extrem wissenschaftlich!

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