Rezension zu Scham
GMS – Zeitschrift für Medizinische Ausbildung 4/2013
Rezension von Reinhard Putz
Jens L. Tiedemann: Scham
Diese Rezension ist nicht von einem spezialisierten Fachmann
geschrieben, sondern lediglich von einem in der täglichen Arbeit
mit jungen Studierenden der Medizin erfahrenen Hochschullehrer, der
allerdings in vielen Gesprächen mit jungen Menschen auf tief
liegende, wenn auch meist maskierte Nöte und Sorgen gestoßen ist.
In der Ausbildung aktive Personen tun allgemein gut daran, neben
der notwendigen fachlichen Kompetenz auch ein grundlegendes
Verständnis für – den Vermittlungsprozess mitunter störende –
Wesenszüge und das Verhalten der anvertrauten Studierenden zu
erwerben. Dieses kleine Buch ist in der Lage, über übliche
klassische psychologische Hilfen und Anleitungen hinaus eine neue,
ergänzende Sicht auf manches Verhalten und mancherlei Probleme in
der Interaktion mit Studierenden zu gewinnen.
Schon in der Einleitung wird dem Leser verdeutlicht, welch zentrale
Rolle »Scham« in Psychotherapie und Psychoanalyse spielt. Scham-
und Angstgefühle werden als die am leichtesten generalisierenden
und sich ausbreitenden Affekte dargestellt. Scham als Affekt an der
Grenze von Selbst und Anderem stellt die Frage, ob ich mich
schämen kann, ohne beschämt zu werden?
An den Anfang des Textes stellt der Autor eine Übersicht über die
Entstehung psychoanalytischer Schamkonzepte. Dabei muss sich der
allgemein an derartigen Fragen durchaus interessierte Leser erst an
die Vorstellung gewöhnen, dass sich moderne Schamkonzepte deutlich
über Sigmund Freuds Auffassungen hinaus entwickelt haben. Als
Grundlage neuerer Entwicklungen der Psychoanalyse wird
herausgestellt, dass in jedem Fall beide Partner mit ihrem ganzen
Wesen am Dialog beteiligt sind und dass Scham als intersubjektives
Geschehen angesehen werden muss.
Im zweiten Abschnitt werden in sehr bildhafter Sprache Äußerungen
und Erscheinungsformen von Scham beschrieben und in ihrem Wesen
erläutert. Dabei erkennt der Leser viele tägliche
Verhaltensweisen wieder, die erst in diesem Zusammenhang als Muster
Bedeutung erhalten. Dass Scham in eine psychosoziale Katastrophe
münden kann, wird schließlich eindrucksvoll verständlich. Der
größte Teil des Buches widmet sich dem Umgang mit Schamkonflikten
in der klinischen Praxis. In der Außensicht wirken die vielen
Hinweise für den praktisch tätigen Psychotherapeuten überaus
hilfreich, können aber auch vom Laien nachvollzogen und ggf. – in
aller Vorsicht – nutzbringend in das persönliche
Gesprächsverhalten mit eingebaut werden. Sehr kommt es dem Autor
darauf an, beim Therapeuten eine für jegliches Gelingen der
Therapie notwendige Sensibilisierung zu erreichen. Es ist sofort
einleuchtend, dass im Umgang mit Scham im Gespräch ein klassisches
Dilemma auftritt: Einerseits muss Scham erkannt, benannt und
interpretiert werden, andererseits darf in dieser Interaktion die
Scham nicht vergrößert werden. Auch dazu gibt der Autor in
spürbar einfühlsamer Art Hinweise und Empfehlungen.
Im Schlusskapitel benennt der Autor als wichtigstes Anliegen seines
Buches die Sensibilisierung des klinisch arbeitenden
Psychotherapeuten für die grundsätzliche Rolle von Scham und
Schamkonflikten bei verschiedensten Beziehungsstörungen.
Das kleine Buch »Scham« ist ein trotz seiner Fülle an Information
und vieler persönlich berührender Analysen und Erörterungen ein
lesbarer Text, der es mit vielen Literaturhinweisen erlaubt, ihn
als Einstieg in wissenschaftlich weiterführende Arbeiten zu
nutzen. Eine gewisse kurzperiodische Redundanz, wie sie den Text
kennzeichnet, entpuppt sich gerade für den Nichtfachmann als
hilfreiches Stilmittel, um den Blick auf die zentralen Themen nicht
aus dem Auge zu verlieren.
Nicht zuletzt soll freimütig bekannt werden, dass dieser Text
durchaus auch geeignet erscheint, sich mancher persönlicher
Wesenszüge bewusst zu werden und besser damit umgehen zu lernen.
So stolpert man z.B. ermunternd auf Seite 109 über den Satz:
»Keine Selbsterkenntnis findet ohne begleitende Schamkonflikte
statt.« Jedem, eben auch dem nicht psychotherapeutisch Versierten,
der, wie dies häufig in Ausbildungsfunktionen zutrifft, beruflich
darauf angewiesen ist, auffällige Verhaltensweisen einzuschätzen
und sie ggf. einer fachlichen Behandlung zuzuführen, wird dieses
Büchlein wertvolle Hilfe und nachdenklich machende Anregung
sein.
Reinhard Putz, LMU München, Anatomische Anstalt, München,
Deutschland
Bitte zitieren als
Putz R. Jens L. Tiedemann: Scham. GMS Z Med Ausbild.
2013;30(4):Doc43. DOI: 10.3205/zma000886, URN:
urn:nbn:de:0183-zma0008864
Artikel online frei zugänglich unter
http://www.egms.de/en/journals/zma/2013-30/zma000886.shtml
Eingereicht: 19.06.2013
Überarbeitet: 07.07.2013
Angenommen: 08.07.2013
Veröffentlicht: 15.11.2013
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