Rezension zu »Das ist einfach unsere Geschichte«

Einsicht 11 Bulletin des Fritz-Bauer-Instituts (Frühjahr 2014)

Rezension von Alexandra Senfft

Konstruktive Wege aus der Vergangenheit

Marie-Luise Kindler, Luise Krebs, Iris Wachsmuth, Silke Birgitta Gahleitner (Hrsg.) »Das ist einfach unsere Geschichte«. Lebenswege der »zweiten Generation« nach dem Nationalsozialismus Gießen: Psychosozial-Verlag, 2013, 202 S., € 24,90

Die Generation, die den Zweiten Weltkrieg erlebt hat, stirbt allmählich, und mit dem Verschwinden der Zeitzeugen stellt sich immer dringlicher die Frage, wie die Erinnerung an die Opfer der Nationalsozialisten und deren Verbrechen weitergegeben und bewahrt werden kann (1). Die zweite Generation, die nach 1945 Geborenen, werden jetzt zu Rentnern und haben deshalb zeit- und lebensgeschichtlich die Chance, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Doch nutzen sie diese Chance auch, fragen sich die Sozialarbeiterinnen Marie-Luise Kindler und Luise Krebs, die Sozialwissenschaftlerin Iris Wachsmuth und die Klinische Psychologin Silke Birgitta Gahleitner in ihrem Buch, das auf einer Studie der Alice Salomon Hochschule (Berlin) beruht. Darin untersuchen sie den Umgang der zweiten Generation mit der NS-Vergangenheit – es geht um die Kinder von Opfern und Tätern und insbesondere von Mitläufern, die vom NS-System profitierten. Ihr Interesse gilt der vielschichtigen Tradierung von Familiengeschichten vis-à-vis dem kollektiven, öffentlichen Umgang mit Erinnerung, und welche (nachweisliche!) Wechselwirkung zwischen beiden besteht. Sie stellen richtig fest, dass die Forschung zur transgenerationalen Weitergabe des Nationalsozialismus und Holocaust in Deutschland bislang viel zu wenig wahrgenommen und gefördert wird. »Auch in den gegenwärtigen Debatten über Rechtsextremismus in Deutschland wird die Bedeutung der emotionalen Tradierung von Geschichte kaum benannt« (S. 40, Anm. 6), so die Autorinnen in ihrer kontextualisierenden Einführung, in die sie eine Fülle historischer und psychologischer Ergebnisse einfließen lassen. Sie bemerken, dass die Auswirkungen und Folgeerscheinungen von Traumata auf die familiäre oder auch gesellschaftliche Ebene viel zu wenig Aufmerksamkeit erfahren, »haben sie doch einen hohen Erklärungswert, um gesellschaftliche Prozesse zu verstehen« (S. 61).

Die Autorinnen bringen zehn Fallbeispiele anonymisierter Interviewpartner, die aus ihren Erfahrungen verschiedene Schlüsse für ihre Lebenswege zogen. Ihre Erfahrungen sind überwiegend leidvoll, gezeichnet zum Beispiel von Tabus, Gefühlskälte, Bedürftigkeit, familiären Kontaktabbrüchen, Depression, Angst und sogar Sucht. Eine Gesprächspartnerin hat die belastete Familiengeschichte bearbeitet, in ihre Identität integriert und sich politisch konstruktiv positioniert. Doch wenn sie sagt: »Das ist einfach unsere Geschichte« (S. 159), verrät das Wort »einfach«, wie schwer es ist, über die Vergangenheit zu sprechen. Die Autorinnen kommen zu dem völlig richtigen Schluss, dass es in Deutschland bis heute an biographischer Arbeit und transparenter Kommunikation zwischen den Generationen mangelt. Auch deshalb, so folgern sie weiter, sei die NS-Ideologie noch immer präsent.

Sie betonen, dass es zwischen Opfer- und Täternachkommen zwar viele Gemeinsamkeiten gibt, ihre Erfahrungen jedoch keinesfalls vergleichbar sind – sie zu parallelisieren käme einer Nivellierung gleich. Zu den wichtigsten Gemeinsamkeiten gehört das Schweigen, das jedoch unterschiedlichen Motiven zugrunde liegt: Seitens der Opfer dient es angesichts des Erlittenen dem eigenen Überleben und dem Schutz der Kinder. Das »manifeste« Verschweigen und Verdrängen auf Täterseite bezweckt indes, sich vor Anklage und Zuneigungsverlust zu schützen. Nach Jürgen Müller-Hohagen geschieht dieses Verschweigen »in vollem Bewusstsein«. Die Geschichte werde als »statischer historischer Fakt gesehen – kaum im Zusammenhang mit dem eigenen Leben oder eigenen Gefühlen« (S. 119), so der Dachauer Psychologe.

Den Autorinnen ist beizupflichten, wenn sie es als einen »Luxus« vieler Deutscher bezeichnen, sich mit dem Holocaust nicht auseinanderzusetzen. Das perpetuiere im Übrigen die Dichotomie zwischen »Wir« und den »Anderen«: »Ohne die Aneignung der ›negativen‹ Familiengeschichte bleiben auch die Erfahrungen der Opferfamilien abstrakt bzw. unverbunden mit der eigenen Geschichte, die meist teilhatte an der Verfügungsgewalt über die definierten Opfergruppen.« (S. 40)

Das Schweigen der Kriegsgeneration sei häufig ein »beredtes Schweigen« gewesen, quasi ein inhaltsloses Hinwegreden über die eigentlichen Fakten, gekennzeichnet unter anderem durch Ausdrucksweisen wie »man« anstelle von »wir« oder »ich«. Die Sprech- und Denktabus, transportiert über das »leere Sprechen«, hätten bei den Nachkommen diffus wirkende Gefühlsräume und Leerstellen hinterlassen, die es mit Phantasien zu füllen galt – das machte den (Groß-)Vater dann rasch zum Widerstandskämpfer, selbst wenn er in Wirklichkeit das Gegenteil gewesen war.

Es bedürfe großer Entscheidungskraft, sagen die Autorinnen, sich der Vergangenheit zu stellen, deshalb sei dies unter den Nachkommen leider die Ausnahme. Die biographische Auseinandersetzung verspreche jedoch einen Selbstverstehungs- und Heilungsprozess, mit dem man sich der gegenwärtigen »Macht der Vergangenheit« entledigen könne. Sie fordern deshalb eine Stärkung »der psychosozialen Versorgungslandschaft«, plädieren für Erinnerungswerkstätten und gezielte Altenarbeit, um sich kritisch und konstruktiv der Vergangenheit zu stellen und den bis heute andauernden Zyklus von Gewalt zu durchbrechen.

Alexandra Senfft
Hofstetten (Hagenheim)

1. Siehe dazu Aleida Assmanns vorzügliches Buch Das neue Unbehagen an der Er- innerungskultur. Eine Intervention, München 2013

www.fritz-bauer-institut.de

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