Rezension zu Der anatomische Akt
IMAGO. Interdisziplinäres Jahrbuch für Psychoanalyse und Ästhetik, Band 2 (2013)
Rezension von Johanna Scheel
Hartmut Böhme (2012): Der anatomische Akt. Zur Bildgeschichte und
Psychohistorie der frühneuzeitlichen Anatomie. Hans-Kilian-Preis
2011. Mit einer Laudatio von Jürgen Straub
Der anatomische Akt und der tote Körper unterliegen bis ins 19.
Jahrhundert verschiedensten Deutungsmustern und Einflüssen, etwa
von Philologie, Religion und Naturphilosophie; er changiert
zwischen experimenteller Untersuchung, theatralem Spektakel und
bildgebendem Verfahren. Hartmut Böhme beschäftigt sich mit der
Rekonstruktion der Ursachen und Voraussetzungen, durch die es zu
seiner letztendlichen Verwissenschaftlichung kommen konnte. Der
Autor wagt eine »psychohistorische Rekonstruktion« – des
anatomischen Aktes, nicht seiner Akteure! – zu der er eine Vielzahl
an Quellen von Aristoteles bis Sigmund Freud und umfangreiches
Bildmaterial hinzuzieht (41 zum Teil farbige Abbildungen).
Prämisse ist, dass die Leiche und ihre Zerlegung in vielerlei
Hinsicht tabuisiert war, letztere sowohl moralisch wie ästhetisch
zu verurteilen war und beide stark mit Scham- und Ekelgefühlen
behaftet gewesen seien. Die bewussten und unbewussten
Legitimationsstrategien, mit denen es gelingt, jene
Abwehrmechanismen aus dem Weg zu räumen und Negatives positiv
umzudeuten, stehen im Mittelpunkt. Mit dem Nietzsche-Zitat »Wir
lernen den Ekel um!« ist das maßgebliche psychologische Moment
benannt: Die »Entekelung« des anatomischen Aktes. Dabei stützt sich
Böhme auf interdisziplinäre Forschungsergebnisse zum Ekel und
bleibt selbst methodisch stets dezidiert psychoanalytisch:
Charakter und Ursache von Ekelgefühlen werden dem Leser als
konstant vermittelt, ohne sie entwicklungsgeschichtlich
nachzuzeichnen, sodass das eigentlich diffuse Spektrum des
Ekelgefühls nicht ausdifferenziert wird – beispielsweise das
Changieren in Mitleidsgefühle bei der Rezeption von
Märtyrerdarstellungen, dem augustinischen Konzept der formosa
deformitas folgend. Dies ist auch nicht die selbst gestellte
Aufgabe der Untersuchung. Doch ist ihr daher vielleicht – auch im
Sinne des Jahrbuches Imago – ein Aufsatz von Rüdiger Schnell zur
Seite zu stellen, der durch seinen literarisch-emotionshistorischen
Fokus auf Ekel und Ästhetik dem interessierten Leser als
Komplement dienen mag, zumal dort Böhmes Aussagen historisch
bestätigt bzw. unterfüttert werden (1): So war vor allem das
Körperinnere bereits im Mittelalter Objekt des Ekelgefühls – eine
»Hölle«, die an psychoanalytische Konzepte wie die Freudsche
Kloaken-Theorie und die paranoide Auffassung des corps maternel
erinnert – was durch Schindung und Öffnung des toten Körpers und
also das Sichtbarmachen des Hässlichen und Ekelhaften potenziert
wird.
Die verbildlichte Schindung spielt mit der idealisierten Schönheit
der Haut als Gegensatz des ekelhaften Körperinneren. Diese
Bedingtheit als Gegensatzpaar, Oberfläche/Inneres und
Schönheit/Ekelhaftes, wird nun zu einer »Rochade« genutzt, welche
die Anatomie letztendlich als Kunstform und den anatomisierten
Körper als ästhetisch empfinden lässt – was im besonderen Maße auch
für den Gehäuteten, den Écorché, gilt. In Schrift und Bild
bedient man sich für seine Darstellung eines starken Antikenbezugs,
der mit christlicher Heilslehre unterlegt wird: Bei der Schindung
des Marsyas wird dieser als Écorché, als »anatomisches Exponat«
dargestellt, der bald in die Rolle des Apolls als Anatom selbst
schlüpft und als belebte Gestalt mit eigener Haut und Messer in
wiedererkennbaren Posen antiker Skulpturen präsentiert wird: Der
Écorché ist »Subjekt und Objekt zugleich des anatomischen
Prozesses«, was diesen einerseits moralisch entlastet und zudem
Marsyas mit der Figur des heiligen Märtyrers Bartholomäus
verschmilzt. Die Anatomie wird als heilsschaffender Opferungsakt
konnotiert und zugleich das Körperinnere ästhetisiert.
Neben dieser ästhetischen Umdeutung seit der Renaissance wird die
Leiche als ein Schauplatz von Wissen gezeichnet: Anhand einer
ceroplastischen, anatomisierten Venus von Clemente Susini (spätes
18. Jahrhundert) erlebt der Leser und Betrachter eine suggestive
Sektion, in der er visuell anhand einer filmhaften Bilderreihe
sowie gedanklich der empathischen Werkbeschreibung des Autors
folgend in den anatomisch wie mimetisch perfekten Frauenkörper der
liegenden Venus eindringt. Hier erlangt der Anatom neben
medizinischem Wissen – was den toten Körper subtextuell wiederum zu
einem heilbringenden Opfer umdeutet – in der Reise durch den
fremden Körper Erkenntnis über sich selbst. Die These von der
Anatomie als Akt der Selbsterkenntnis, ermöglicht durch deren
Entekelung, deckt sich – so mag man hinzufügen – mit Definitionen
des Ekelgefühls als einer Form der Angst vor Identitätsverlust (2)
oder einer Bedrohung des Selbst (3): Mit der Entekelung wird der zu
fürchtende Prozess genau umgekehrt und Identität und
Selbsterkenntnis gewonnen. Darstellungen der Anatome selbst bei der
Anatomie der Hand, welche Zeichen des operativen, technischen und
geistigen Genies des Menschen ist, überführen nach Böhme in ihrer
Enträtselung anatomisches Wissen in einen philosophischen Diskurs:
Die Anatomie ist selbstreflexiver und gleichzeitig die Schöpfung
ergründender Prozess.
An christliche Vorstellungen kann die Anatomie auch auf einer
grundlegenderen Ebene anschließen: Die Schilderung toter Körper in
der Anatomie wird durch die des toten Christus vorbereitet. Durch
ikonografische Anleihe wird der Seziertisch zum Altar und die
Leiche zum »Christus ähnlichen Opfer für unser Heil«. Im Opfer- und
Gemeinschaftsgedanken besteht ein weiteres, kulturell vertrautes
Assoziationsfeld, in welches der sonst pejorativ belegte,
anatomisierte Körper gesetzt wird.
Die Anatome arbeiteten systematisch an der Nobilitierung des
anatomischen Aktes durch Bild und Sprache, sie gestalteten das
entekelte Körperinnere symbolisch um und führten damit zu seiner
Ordnung, Kultivierung und Kartierung. Ihre Arbeit am Ekel ist somit
ein »Kulturbeitrag«. Doch die Anatomie macht sich den Ekel nicht
nur in seiner Überwindung zunutze, sie bedient sich ebenso seiner
Negativ-Faszination, die sie als Spektakel um den nunmehr
verwissenschaftlichten Kern entfaltet und damit die Schaulust des
Betrachters reizt, indem sie das »primitiv Seelische« anspricht,
wie man es vielleicht in der komplexen Darbietung des Theatricum
Anatomicum des Vesalius illustriert findet.
Der anatomische Akt in der Frühen Neuzeit erscheint nun als ein
komplexes Konstrukt: Er nimmt Anleihen bei antiken und christlichen
Konzepten von Ästhetik und Ikonografie, nutzt kulturelle und
philosophische Assoziationsketten und bedient sich verschiedener
bekannter Wahrnehmungsmuster, um nicht nur Legitimation zu
erlangen, sondern als integraler Bestandteil von Kunst,
Wissenschaft, Philosophie, Religion und Kultur zu erscheinen.
Böhme hat damit tatsächlich weit mehr als eine Bildgeschichte und
Psychohistorie der frühneuzeitlichen Anatomie geschrieben – er
spannt in evokativer Sprache beeindruckende Bögen zwischen den
verschiedenen Bildwerken und verknüpft sie auf breiter Quellenbasis
zu einer vielschichtigen Evolutionsgeschichte des anatomischen
Aktes und seiner Rezeption.
Einige Gedankenstränge wie der Bezug von Anatomie und Sexualität
werden leider nur kurz angeschnitten und, wenn auch sicherlich
mitgedacht, nicht weiterverfolgt. Gerade bei der ceroplastischen
Venus böten sich beispielsweise Bezüge dazu sowie zur Ikonografie
von Aktdarstellungen an. Und auch der »lebende« Écorché in seiner
ja gesteigerten Nacktheit mag sexuelle bzw. erotische Assoziationen
auslösen. Ein modernes Beispiel lässt daran denken: In dem
Musikvideo Rock DJ (2000) entkleidet der Interpret Robbie Williams
sich zunächst in einem »normalen« Striptease vor der DJane, zieht
sich dann jedoch die eigene Haut vom Körper und tanzt erst als
Écorché und zuletzt als Skelett weiter. Die Selbstanatomisierung
wird hier in einem Entertainmentkontext als ultimativer Striptease
offensichtlich erotisiert.
Dass man sich als Leser beispielsweise zu einer solchen Thematik
mehr wünscht, ist weniger echtes Mangelempfinden als eher Desiderat
im buchstäblichen Sinne, das der Autor zu erwecken verstand – trotz
der »ekelhaften« Thematik hat der Leser Appetit auf mehr
bekommen.
Johanna Scheel
Anmerkungen
1 Schnell, Rüdiger (2005): Ekel und Emotionsforschung.
Mediävistische Überlegungen zur ›Aisthetik‹ des Häßlichen.
Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und
Geistesgeschichte 79, 359–432.
2 Penning, Lothar M. (1984): Kulturgeschichte und
sozialwissenschaftliche Aspekte des Ekels. Mainz.
3 Nussbaum, Martha C. (2001): Upheavals of Thought. Cambridge.
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