Rezension zu »Goldmine und Minenfeld«
Zeitschrift für Sexualforschung Heft 1 27. Jahrgang März 2014
Rezension von Vivian Jückstock
Mathias Hirsch. ›Goldmine und Minenfeld‹. Liebe und sexueller
Machtmissbrauch in der analytischen Psychotherapie und anderen
Abhängigkeitsbeziehungen
Die Thematik des sexuellen Missbrauchs zählt unter anderem zu den
Forschungsschwerpunkten des Autors Mathias Hirsch. Als einer von
wenigen im deutschsprachigen Raum befasst er sich seit mehr als
drei Jahrzehnten mit der Psychodynamik von
Missbrauchsverhältnissen.
Der Titel des vorliegenden Buches, welcher sich auf ein Zitat der
Psychoanalytikerin Ethel Person (1934–2012) bezieht, deutet die
Komplexität der therapeutischen Beziehung zwischen
Psychotherapeut/in und Patient/in sowie den schmalen, aber
entscheidenden Grat der Wahrung ihrer Grenzen bereits an. Person
sagte, die Liebe sei für die Psychoanalyse »zugleich eine Goldmine
und ein Minenfeld: eine Goldmine, die sich zum Minenfeld wandelt,
sobald die Grenze zur realen Handlung überschritten werde« (S.
39).
Im ersten Teil des vorliegenden Buchs geht es um die Dynamik der
verschiedenen Formen der Liebe, die in Psychotherapien und
Psychoanalysen auftreten können: zum einen soll ein
Literaturüberblick über unterschiedliche Definitionen von Liebe und
Begehren zur Begriffsklärung beitragen, zum anderen sollen die
für/in Psychotherapien charakteristischen Ausprägungen von
Liebeszuständen differenziert und analysiert werden. Im weiteren
Teil beschäftigt sich der Autor mit der Überschreitung der Grenzen
der therapeutischen Beziehung, wobei ihm zufolge narzisstische
Größenphantasien und sexualisierte Machtausübung kennzeichnend für
sexuelle Missbrauchsbeziehungen im Allgemeinen sind aber eben auch
bei sexuellem Missbrauch, der im therapeutischen Kontext
stattfindet. Eindrucksvoll erarbeitet er die in solchen Fällen in
Psychotherapien und Psychoanalysen auftretenden
Täter-Opfer-Dynamiken unter besonderer Berücksichtigung der
jeweiligen psychodynamischen »Täter«- und »Opfer«-Eigenschaften und
deren intersubjektivem Zusammenwirken.
Im letzten Teil widmet sich der Autor vergleichend den
Missbrauchsdynamiken in inzestuösen Familien, katholischen und
reformpädagogischen Institutionen und in der Psychotherapie. Das
Augenmerk wird hierbei auf strukturelle Gemeinsamkeiten in der
Missbrauchsdynamik und der für sie typischen Abwehr durch Täter und
Institutionen gelegt.
Schließlich wird in einem Extrakapitel ein Diskussionsbeitrag des
Autors dargestellt, welchen er als Erwiderung auf ein Plädoyer
Günther Bittners, der sich für die Möglichkeit der Realisierung
sexueller Beziehungen in der Psychoanalyse aussprach, vorgetragen
hatte. Hierbei übt Hirsch eine fundierte und umfangreiche Kritik an
Bittners provozierenden Thesen und deckt Widersprüche in dessen
Äußerungen auf, die sich von der Verfechtung absoluter körperlicher
Abstinenz bis hin zur Legitimation real gelebter Sexualität in
Psychotherapien gewandelt hatten.
Darüber hinaus beinhaltet das vorliegende Buch ein Gutachten des
Autors zu der Frage, ob eine Psychoanalytikerin, die nach
Beendigung der analytischen Psychotherapie eine sexuelle Beziehung
zu ihrem (ehemaligen) Patienten eingegangen ist, gegen das
Abstinenzgebot verstoßen hat und sich demnach für die beim Kläger
in der Folge aufgetretenen psychischen und psychosomatischen
Symptome zu verantworten habe. Hirsch zieht das Fazit: »Die
Verantwortung liegt immer bei dem, der seine Professionalität
verrät, sie liegt aber auch bei den Institutionen, die oft die
Täter schützen und die Opfer vernachlässigen« (5. 14).
Das vorliegende Buch bietet einen fundierten Überblick über die
psychodynamischen Hintergründe, Zusammenhänge und Gemeinsamkeiten
sexueller Grenzverletzungen in familiären und therapeutischen
Beziehungen sowie in reformpädagogischen und konfessionellen
Institutionen. Viele Fallbeispiele aus der Praxis und beklemmende
Berichte von Menschen, die in den genannten Kontexten sexuellem
Missbrauch ausgesetzt waren, veranschaulichen den theoretischen
Hintergrund. Die Komplexität und Vielschichtigkeit des Themas wird
u. a. sehr anschaulich dargestellt durch die Schilderung einer
gutachterlichen Stellungnahme zur Frage der Abstinenzverletzung.
»Goldmine und Minenfeld« ist sowohl Herausforderung als auch
Chance: eine Herausforderung, sich reflektierend den von dieser
Thematik berührten eigenen inneren Anteilen als Therapeutin oder
Therapeut zu stellen und gleichzeitig die Chance, sie dadurch ihrer
möglicherweise zerstörerischen Macht zu entheben.
Vivian Jückstock (Hamburg)
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