Rezension zu Schönheit und Konflikt
IMAGO. Interdisziplinäres Jahrbuch für Psychoanalyse und Ästhetik, Band 2 (2013)
Rezension von Ulrich Pfarr
Sebastian Leikert (2012): Schönheit und Konflikt. Umrisse einer
allgemeinen psychoanalytischen Ästhetik
In einer Reihe rezenter Publikationen wurde ein Paradigmenwechsel
psychoanalytischer Kunstbetrachtung von der Inhaltsdeutung zur
Analyse der Form eingefordert. In dieser Strömung bewegt sich auch
der hier vorzustellende Entwurf einer »allgemeinen
psychoanalytischen Ästhetik«. Sebastian Leikert bezieht
»Ästhetik« gleichermaßen auf sinnliche Wahrnehmungsprozesse in
Kunst, Politik, Religion und Alltag. Damit bringt er den Begriff
kritisch gegen die Psychoanalyse in Stellung, deren Sprachfixierung
und Wahrnehmungsabstinenz er beklagt. Der Anspruch ist kein
geringer: Es werden nicht nur wichtige Erkenntnisse Freuds infrage
gestellt, auch postulierte Defizite der philosophischen Ästhetik
sollen revidiert werden. Über neun Kapitel und 307 Textseiten
bietet das Werk reichen Diskussionsstoff, der hier nur punktuell
aufgenommen werden kann.
Die Hauptthesen entfalten sich in Kapitel 1 anhand der
synästhetische und berauschende Erfahrungen bereitenden
»steinzeitlichen Kulthöhle«. Die hier eingeführte Ritualtheorie
dient als methodische Klammer, um Erkenntnisse der Musikanalyse auf
andere Medien und Phänomene zu übertragen. Auf diese Weise
verknüpfen die Strukturmerkmale Formwiederholung, Rhythmisierung,
Proportion zunächst die Wirkungsweise des schamanistischen Rituals
(S. 31–33) mit der Phänomenologie der Schönheit am Beispiel der
Tierdarstellungen von Lascaux (S. 36f.). Unklar bleibt noch, ob das
fusionale Erleben als dyadisches, massenpsychologisches oder
psychotisches Geschehen zu verstehen ist. Aus der potenziell
traumatischen Dimension der entgrenzenden und kathartischen Rituale
folgt eine weitere Hypothese, die angstbindende Wirkung der
Prozessschönheit. Im Vorgriff auf moderne Kreativitätstheorien
erkennt Leikert in Lascaux eine Reduktion und »Offenheit« der
Formen, die den Betrachter in die »experimentierende Formarbeit«
involviert.
Kapitel 2 unternimmt eine auffallend flapsig wirkende Kritik der
philosophischen Ästhetik, die Schopenhauer und Nietzsche wichtige
Aspekte abgewinnen kann, andere Positionen freilich deutlich
verkürzt. Den beklagten Verlust der Sinnlichkeit seit Plato sieht
Leikert durch den »Zustand vollkommener Präsenz des Angeschauten«
bei Schopenhauer noch nicht geheilt, denn in der ästhetischen
Fusion von Subjekt und Objekt gelte es, Außen- und Innenwahrnehmung
zu verbinden. Die zentrale Rolle hierbei weist er dem Rhythmus zu.
Da er zugleich den ästhetischen Prozess – im Widerspruch zu
Schopenhauer – in absoluten Gegensatz zur Idee und zur Sprache
stellt, erstaunt wenig, worin die geforderte »Wahrheit der Welt im
Sinne einer Präsenz des Seins jenseits des Entzugs« (S. 52) ihre
Erfüllung findet: Während Psychoanalyse und Kunst die sexuelle
Begegnung verschleierten (S. 62), erkennt Leikert in letzterer eine
der Kunst nicht nur analoge, sondern in der Begegnung zweier
Subjekte sogar überlegene Form, »sich zum Schönen in Beziehung zu
setzen« (S. 65).
Indem Leikert sein zentrales, höchst anregendes Modell der
kinästhetischen Semantik in Kapitel 3 vertieft und aus
psychoanalytischen Vorarbeiten herleitet, erhält dieses zunächst
eine triebtheoretische Fundierung. Neben Freuds »konsequenter
Sprachorientierung« in der Traumdeutung zeigt sich eine zweite
Tradition, welche die Dauerspuren der Befriedigungserlebnisse
betrifft. Denn »die Gedächtnisspur, also ein kinetisches Engramm,
wird zum Kern des Wunsches, also zu derjenigen Instanz, die
psychische Tätigkeit in Gang setzt und formt« (S. 84). Die hier
implantierte »kinetische Bedeutungsmatrix« definiert Leikert als
System bedeutungsschaffender Wahrnehmungen und als »Palimpsest
präverbaler Einschreibungen in das Körperselbst«. Dessen
Aktualisierung und Transformation im Rahmen ritueller und äs-
thetischer Erfahrungen qualifiziert er als »ozeanisch«, aber auch
verbunden mit Traumatisierungen und Konflikten (S. 79). In Freuds
ästhetischen Schriften sieht er die Außen- und Innenperspektive
der kinästhetischen Semantik durch die Konzepte der Vorlust und
der Sublimation bestätigt; Schönheit jedoch soll von der
Triebdynamik entkoppelt werden. Daher wird die Sexualität auf ihre
»umgangssprachliche Bedeutung« reduziert, der sexuelle Charakter
der »musikalischen Ekstase« bestritten. Dort sei keine erogene Zone
oder »verborgene Schleimhaut« beteiligt (S. 96) – eine Begründung,
die unvereinbar ist mit dem Einwand gegen Anzieus Haut-Ich,
psychische und räumliche Nähe seien nicht gleichbedeutend (S.
120). Im Gegenzug deutet Leikert auch die Sexualität selbst nicht
als Triebabfuhr, sondern als »sinnliche Erkenntnis« und
»Reinszenierung von Beziehungserfahrungen« (S. 94). Offenbar soll
die kinästhetische Semantik das Konzept der Übertragung
substituieren.
Die vor allem auf Merleau-Ponty rekurrierende Kritik der
›abstrakten‹ Wahrnehmungsbeziehung scheint in ein solipsistisches
Erlebnismodell zu münden. Denn die »berauschende
Präsenzerfahrung« eröffnet keinen Weg zum Anderen, sondern
allenfalls zum vom Körperselbst ungetrennten autistischen Objekt
Tustins (S. 76f., S. 119), das in Kapitel 9 um die Kategorie des
lacanianischen Dings erweitert wird (S. 285–289). Jedoch tritt in
den Überlegungen zu den bildenden Künsten (Kapitel 6) und zur
Literatur (Kapitel 7) eine u.a. durch Joachim F. Danckwardts
Konzept der Prozessidentifizierung (S. 191f.) vermittelte Ebene des
Verstehens hinzu. Gleichwohl richtet sich Leikerts schroffe
Dichotomie von sinnlicher Erfahrung und begrifflicher Reflexion
gegen die kontemplativen Rezeptionsmodelle, die mit der Ästhetik
der Aufklärung etabliert wurden, und korreliert nur bedingt der
Tendenz zur Aufwertung der Dinge in der aktuellen Philosophie.
Bezeichnenderweise beruft sich der Autor auf Worringers Abstraktion
und Einfühlung und übergeht weitgehend Beiträge heutiger,
psychoanalytisch informierter Kunst- und Literaturwissenschaftler.
So wäre etwa mit Peter von Matts Opus-Phantasie ein überzeugender
Transfer von der Jazzimprovisation zur Arbeit im Atelier (S.
160–162) gelungen, und Gerlinde Gehrigs Aufschlüsse zu Freuds
Bildbegriff hätten einige Differenzierungen erlaubt. Umso mehr ist
zu wünschen, dass die kinästhetische Semantik auch
fachübergreifende Debatten anregen wird.
Ulrich Pfarr
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