Rezension zu Körperkontakt
Zeitschrift für Sexualforschung Heft 1 27. Jahrgang März 2014
Rezension von Thorsten Benkel
Renate-Berenike Schmidt und Michael Schetsche, Hrsg. Körperkontakt.
Interdisziplinäre Erkundungen
Die Alltagsrelevanz von Körperkontakten kommt inmitten der
Renaissance, die der Körper in den Sozialwissenschaften erfährt, zu
kurz – so lautet die Prämisse, die hinter dem vorliegenden
Sammelband von Renate-Berenike Schmidt und Michael Schetsche steht.
Die damit angeprangerte Forschungslücke ist kein aktuelles Problem,
sondern kann als klammheimliche Fortsetzung einer akademischen
»lgnoranztradition« verstanden werden. Sie steht charakteristisch
für jenen »Trivialitätsmakel«, der dem Körper über lange Zeit
hinweg anhaftete und ihn in theoretischer wie empirischer Hinsicht
aus dem Kreis der adäquaten Untersuchungsgegenstände ausgeschlossen
hat. Diese Zeiten scheinen mittlerweile überwunden zu sein, nachdem
sich Körper bzw. Leib als Schnittstellenphänomene heraus
kristallisiert haben, die nicht nur über physiologische Vorgänge
Auskunft geben, sondern dies im Lichte ihrer Verschränkung mit
kulturellen, sozialen, psychologischen, ökonomischen und anderen
Aspekten tun. Doch davon, dass das Körperfundament folglich als
Ausgangspunkt, Medium und Transformationsinstanz von
Wissensbeständen und Beobachtungsperspektiven vollständig anerkannt
wäre, kann noch keine Rede sein. Die diesbezügliche Neugier in den
Sozialwissenschaften ist groß, aber an Umsetzungen, die auch und
gerade die lebensweltlichen und interaktionistischen Elemente der
Körperlichkeit unter die Lupe nehmen müssen, herrscht nach wie vor
Mangel. Diese Forschungslücke will der vorliegende Band schließen
helfen.
Zugegeben, aus sexualwissenschaftlicher Sicht ist das Feld
mittlerweile recht gut bestellt, denn hier ist der Körper in
physiologischer und auch in epistemologischer Hinsicht eine
unumgängliche Größe. Allerdings sind diesbezüglich
Forschungsunternehmungen, aller plakativen Enttabuisierung der
Wissenschaften zum Trotz, ebenfalls noch nicht gleichberechtigt
gegenüber »traditionellen« Diskursen (vgl. S.290). Und
Körperbegegnungen, die nicht sexueller Natur sind, sind im sozialen
Alltag ohnehin in der Überzahl. So kommt es beispielsweise täglich
zu mehreren hundert unbewussten Selbstberührungen (S.46ff.). Die
verschiedenen Varianten von »Körperkontakt«, um die es in den
einzelnen Artikeln des Sammelbandes geht, fallen folglich überaus
heterogen aus, viele von ihnen streifen jedoch die Bereiche Erotik
und Intimität. Die pikante Cover-Darstellung, die aus der Schule
von Fontainebleau stammende Allegorie über »Gabrielle d/'Estrées
und eine ihrer Schwestern« vom Ende des 16. Jahrhunderts, legt
solche Berührungspunkte nahe. Ein Beitrag, der speziell den
sexuellen Körperkontakt thematisiert, findet sich in den
»interdisziplinären Erkundungen« aber erst gegen Ende. Bis dahin
sind erotische Körperkontakte als wiederkehrende Motive in
verschiedenen Kontexten aufgetaucht: im Zusammenhang mit den
Sinnesorganen und der Bewegungskraft des Körpers, im Rahmen der
psychologischen Dimensionen der Berührung, im Lichte der heilsamen
Wirkung von Körperkontakten und schließlich vor dem Hintergrund des
Verhältnisses von Sinn und Sinnlichkeit.
Die Herausgeber differenzieren in ihrer Einleitung zwischen dem
geradezu »physikalischen« Vorgang des Körperkontaktes und der eher
intentionalen Berührung (S.8 f.), um zu verdeutlichen, dass es
ihnen nicht lediglich um solche Begegnungen von Körpern geht, die
auf sozialer Absicht beruhen. Wo, wie in der Sexualität, die
kommunikative Facette von Körperlichkeit nun aber doch im
Vordergrund steht, wäre es folglich angebrachter, anstelle von
»face-to-face«-Gegenüberstellungen eher von einem
Aufeinandertreffen »skin-to-skin« zu sprechen (5.22). Die
Körperabstinenz der Sozialwissenschaften hat diesen Blick, und
überhaupt die nähere Einordnung der tatsächlichen Relevanz von
Berührungen in der sozialen Welt, lange Zeit zum randständigen
Thema gemacht; dadurch wurde die in mikrosoziologischer Betrachtung
zutreffende Devise »Man kann nicht nicht berühren« (5.30)
weitgehend ignoriert. Mittlerweile haben sich die Sichtweisen
erheblich erweitert; darüber geben die einzelnen Beiträge Auskunft.
Eine mögliche Ursache für das Desinteresse der Sozialwissenschaften
an Alltagsberührungen mag darin begründet liegen – und dies ist
fraglos von sexualwissenschaftlicher Relevanz –, dass sich seit
Aristoteles eine »erotisch-sexuelle[ ] Konnotation
zwischenmenschlicher Berührungen« geradezu aufzudrängen scheint,
wenn Körper einander berühren (S.78). Bekanntlich dringt dieser
Generalverdacht auch in Körperkontaktsituationen mit Kindern ein,
bei denen Unverfänglichkeit mitunter in einen »Iustkritischen
Kontext« abrutscht, wenn bestimmte Körperpartien in den
Berührungszusammenhang aufgenommen werden (vgl. S. 113). Selbst
Mensch-Tier-Beziehungen sind von solchen Verdächtigungen nicht ganz
frei, wie en passant betont wird (S.246). In der Alltagssemantik
ist die offene Auseinandersetzung mit asexuellen Berührungsformen
ohnehin nur schwach ausgeprägt. Es scheint bisweilen also in der
Tat »aus dem Blick [zu] geraten, dass nicht alle Körperkontakte
sexuell konnotiert sind« (S. 141). Dieses Übersehen mag mitunter
dem Umstand geschuldet sein, dass Körperverhältnisse nicht erst
seit Freud (auch) als Indikatoren psychischer Zustände gelten. Eine
unvoreingenommene Differenzierung zwischen Körperkontakt und
Körperkontaktabsicht hat es angesichts der Verbreitung solcher
Überzeugungen schwer. Tatsächlich hat »die klassische Psychoanalyse
[...] Körperkontakt [zwischen Therapeuten und Patienten; T.B.]
schlichtweg untersagt: Berührung bedeute Sexualisierung und damit
auch Missbrauch des Patienten für die eigenen Bedürfnisse des
Analytikers« (S.219).
Körper, sowohl der eigene wie auch fremde, werden andererseits von
Jugendlichen dafür eingesetzt, das physische Selbst, und
schließlich auch allgemeingültiges Sexualwissen in der Praxis zu
erlernen und zu erproben (vgl. S. 116 ff.). Erst aus Erfahrungen
der Nähe entspringen überhaupt Erfahrungen der Scham, und erst auf
der Grundlage solcher Erfahrungen lassen sich soziale Rituale
etablieren, die sowohl hinreichend »zwischenmenschlich« und intim,
wie auch zugleich ausreichend distanziert ausfallen (etwa der
Begrüßungskuss; S. 143). Sie sind elementar für
Konsenskommunikationen über die Trennung beispielsweise der
beruflichen von der privaten Lebenssphäre (vgl. S. 157 f.), weil
sie zwischen legitimen und illegitimen erotischen Aufladungen von
sozialen Situationen zu unterscheiden helfen. Wenn Körper einander
berühren, ja berühren müssen, ist die Gefahr eines »Zuviel an
Körperkontakt« (S. 188) letztlich aber auch schlichtweg deshalb
gegeben, weil leibliche Empfindungen sich offenkundig vorreflexiv
ereignen können. Wie dieses oder jenes Anfassen gemeint war oder
ist, lässt sich folglich nicht immer eindeutig bestimmen,
»sichere[] Handlungsprogramme« fehlen (S. 293). In den
unterschiedlichen Wahrnehmungen darüber, was einen Körperkontakt
erotisch macht oder nicht, und in den divergierenden Ansichten über
die Zumutbarkeitsgrenzen und Wunschanforderungen bezüglich
körperlicher Nähe steckt viel Konfliktpotenzial, welches sich
partiell auch auf dem Rechtsweg entlädt (S. 302 ff.).
Im Ergebnis zeigen die vielschichtigen Beiträge des Sammelbandes,
dass nicht nur die erotische Berührung zwischen Intentionalität,
Absichtslosigkeit, Sinnzuweisungen und Deutungsmustern oszilliert.
Der sexuelle Körperkontakt mag in der Tat die »am nächsten
liegende« Assoziation im Alltag sein, wenn es um Körperbewegungen
geht, die sich zu Berührungen verdichten, der Gesamtkomplex ist
jedoch tiefgründiger und viel verknoteter. Darauf macht das
Autorlnnenteam um Schmidt und Schetsche auf spannende und
lesenswerte Weise aufmerksam.
Thorsten Benkel (Passau)
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