Rezension zu Geschwisterdynamik

Jahrbuch für Psychoanalytische Pädagogik 21

Rezension von Tillmann F. Kreuzer

Hans Sohni: Geschwisterdynamik

Geschwisterbeziehungen wurden bis in die 1980er Jahre weitgehend aus dem psychoanalytischen Diskurs ausgeblendet oder auf einen negativen Kontext reduziert. In der Reihe »Analyse der Psyche und Psychotherapie« wird dieser so lange vernachlässigte Themenschwerpunkt zu Recht im Band 4 aufgegriffen. Hans Sohni, Facharzt für Psychotherapeutische Medizin, Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychoanalyse sowie Psychoanalytiker und Familientherapeut, wendet sich unter dem Titel »Geschwisterdynamik« dieser lebensbedeutsamen und komplexen Art von primärer Beziehung zu. Es gelingt ihm, die grundlegenden Probleme der Geschwisterforschung, aber auch deren Chancen im aktuellen Forschungsdiskurs lebendig darzustellen. Der Autor gliedert den Inhalt in zwei Teile. Im ersten Teil widmet er sich der theoretischen Konzeptualisierung der Geschwisterbeziehungen, im zweiten, wesentlich kürzeren Teil richtet er sein Augenmerk auf die Geschwisterdynamik in der Psychotherapie.

Eingangs spricht Sohni die Geschwistererfahrungen Sigmund Freuds an. Zuerst erwähnt er den nicht vorhandenen Vater Freud für seine Kinder, »der nicht einmal mit den Kindern gespielt« (S. 10) hatte und weitet dann den Blick auf seine frühe Kindheit. Sohni schließt aus dem biographischen Aspekt, dass Freuds Mutter Traumatisierungen erlebt habe – erst die Schwangerschaft mit Sigmund, das gemeinsame Leben mit ihrem Mann und dessen beiden Brüdern in der »Provinzstadt, in eine(r) Einzimmerwohnung« (S.11) und den doppelten Verlust von Julius, Bruder und Sohn der Mutter –, dass sie für Freud eine »tote Mutter« gewesen sein muss. »Die Legende vom ›goldenen Sigi‹« liest er als »autosuggestive Abwehr« (S.12) und führt dazu aus, dass die »bedrohliche Dynamik« (S. 13) der Geschwistererfahrung in Freuds Theorie keine Rolle spielen konnte.

Zu Recht erachtet Sohni die Rolle der Geschwister als so bedeutsam, dass er eindringlich eine Sensibilisierung für diese Beziehungen und ihre Dynamik fordert. Bei den Modellen der Persönlichkeitsentwicklung geht er u.a. auf den interpersonellen Ansatz der Psychoanalyse bei Jessica Benjamin und Magarete Mitscherlich (beide 1990) ein, die das »vertikale ödipale Modell durch das horizontale Modell der Geschwisterlichkeit« (S. 19) ersetzen. Zudem weckt er das Interesse, indem er Horst-Eberhard Richters These aufgreift, dass »das Kind als Substitut für eine Geschwisterfigur« (ebd.) der Eltern dient. Er sieht das ungeborene Kind potenziell als Phantasieobjekt der Eltern in Bezug auf deren Geschwistererfahrungen. Sohni endet hier mit der Vorstellung der Arbeiten von Henri Parens, der in über 20-jähriger Forschung beobachtet hat, wie ältere Geschwister Affektverschiebungen meist gegenüber Jüngeren vornahmen und dass diese ihnen als Pioniere bzw. Brückenobjekte gedient haben.

Mit dem geschwisterlichen Spiel greift Sohni die »fantasierten Rollenwechsel« auf, die bereits Winnicott (1966) im Vater-Mutter-Kind-Spiel beobachtet hat. Eindrücklich zieht er eine Verbindung dahin, dass Geschwister sich eine Familie bauen und 20-30 Prozent der Kinder sich imaginäre Gefährten schaffen, die sie bis in die frühe Adoleszenz begleiten. Bevor Sohni den Kontext Familie in seinen Forschungsschwerpunkt mit einbezieht, findet der aufmerksame Leser den richtungsweisenden Hinweis, dass der Autor dem Krankheitsaspekt die Fragen nach Ressourcen und protektiven Bedingungen der Persönlichkeitsentwicklung gegenüberstellt und dass er den Aspekten des horizontalen Beziehungsfelds eine zentrale Bedeutung beimisst (S. 34). Sohni weist darauf hin, dass in Deutschland fast jede dritte Ehe scheitert und Patchwork- oder Fortsetzungsfamilien inzwischen Alltag für viele Kinder und Jugendliche geworden seien. Die »Trennung von Geschwistern« (S. 40) wird vom Autor unter dem Aspekt der Fremdunterbringung in Adoptiv-, Pflege- oder Heimfamilien bei mangelhafter Versorgung betrachtet. Je besser das Beziehungspotenzial der Geschwister erkannt wird, desto deutlicher wird, dass die Schaffung eines für sie geeigneten Umfelds von Nöten ist, um danach Überlegungen zu einer getrennten oder gemeinsamen Unterbringung zu diskutieren.

Sohni wirft einen Blick auf die Stellung der Geschwister in der Familie aus system-, familientheoretischer und psychodynamischer Sicht und verknüpft diese Perspektiven miteinander. In Bezug auf die psychoanalytische Entwicklungstheorie erinnert Sohni an die Repräsentanten generalisierter Episoden (RIGs) von Daniel Stern (1992), der ausführt, dass in Familien mit einem Kind »ständig integrative Muster des Familienganzen« gebildet werden, die bei Entstehung des zweiten Kindes zur »imaginäre(n) Tetrade« erweitert werden (S. 44). Dabei entscheidet sich, ob die Ankunft des Geschwisters im Sinne Adlers (1927) als »Entthronungstrauma« erfahren wird oder ob sich die Ambivalenz gegenüber dem neuen Geschwister in einem positiven Spannungsverhältnis auflöst. Die in der Geschwisterforschung untersuchten Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Geschwistern greift Sohni auf und weitet den Blick auf die durchgeführten Forschungsprojekte, welche aber über eine »klischeehafte Ausformung von Geschwisterkonstellationen« (S. 54) kaum hinauskommen.

Die Differenz unter den Geschwistern beschreibt Sohni so, dass zwei Drittel der Unterschiede umweltbedingten Charakter haben, dass aber die Unterschiede zwischen den Geschwistern nicht geringer oder größer sind als zwischen zwei fremden Kindern, was überrascht. Das erscheint mir empirisch so kaum haltbar, denn Geschwister haben nun einmal viel mehr gemeinsames genetisches Erbe und viel mehr geteilte Umwelt. Unter dem Begriff der »wechselseitigen Bezogenheit« erläutert er den dialektischen Prozess von Identifikation und De-Identifikation. Unter dem Gebot des »Unterscheide dich!« komme es zum Schutz der eigenen Identität zu einem wechselseitigen Aneignen und Ablegen der »attraktiven Züge« (S. 69) des Geschwisters. Diese Wechselseitigkeit von Bezogenheit und Abgrenzung sei besonders deutlich bei Zwillingen zu beobachten.

Um Kinder und Jugendliche als Therapeut verstehen zu können, ist für den Autor die Perspektive der geschwisterlichen Komplementärdynamik unverzichtbar. Um die Dynamik der »lebenslangen Beziehungsentwicklung« von Geschwistern zu verstehen, beginnt Sohni seine Analyse bereits mit der Zeit vor der Geburt eines Geschwisterkindes und listet die vielen unterschiedlichen Voraussetzungen für eine gelingende Geschwisterlichkeit auf. Weiterhin geht er auf die Unterschiede zwischen der Geschwisterbeziehung und den Peergroup-Beziehungen ein. Hier können Geschwistererfahrungen positiv wie negativ fortgesetzt werden, müssen es aber nicht. Sohni stellt fest, dass einfache Vorstellungen von Geschwisterbeziehungen der Vergangenheit angehören (S.75) und dass am ehesten »die Familientheorie« – möglicherweise bezeichnet Sohni damit die strukturellen Ansätzen der psychoanalytisch geprägten Theorie Parsons – einen Ansatz zur Orientierung für die psychische Entwicklung bietet: Sie würde den Teilidentitäten der einzelnen Persönlichkeiten am ehesten gerecht, denn die psychische Entwicklung vollziehe sich im Rahmen der Familie und verändere sich ständig durch das Überarbeiten der inner- und außerfamiliären Beziehungen. Sohni wirft hier wichtige Fragen zum Entwicklungsprozess der Geschwisterbeziehung auf: Wird die (Teil-)Identität zur Über-Identität, oder findet eine Ablösung vom Geschwister statt? Können wichtige Schritte in der eigenen Entwicklung geleistet werden, wie z.B. die psychosexuelle Reifung und die Verarbeitung von Trauer nach Ablösungen? Gelingt eine Re-Integration des Geschwisters, gelingt es, eine Beziehung zum Geschwister aufrecht zu erhalten, trotz Ablösung? Für die »späteren Lebensphasen« (vgl. S. 82ff.) fehlen sowohl in der Psychoanalyse wie auch in der Entwicklungspsychologie konzeptuelle Hinweise. Neueren Forschungen (Scharf et al. 2005; Tanner 2010) ergaben, dass sich Geschwister heute in einem dichteren emotionalen Austausch mit weniger Konflikten erleben. Neue familiäre Lebensrealitäten bringen neue Familienstrukturen mit sich und somit neue Dynamiken in der Geschwisterbeziehung. Oftmals können hier stagnierende Geschwisterbeziehungen neu belebt werden, wenn alte vertikale Strukturen horizontalisiert werden (S. 87). Bedauerlich ist, dass Themen wie Verlust oder elterliche Ungleichbehandlung einen sehr kleinen Raum einnehmen.

Im zweiten und wesentlich kürzer gehaltenen Teil geht Sohni auf die Geschwisterdynamik in der Psychotherapie ein. Sein Hauptaugenmerk richtet er dabei auf die »›unbewussten Geschwister‹ in Übertragungs- und Gegenübertragungsprozessen« (S. 89). Er hebt hervor, dass in der Ausbildung von Therapeuten gerade auf die »blinden Flecken« (S. 101) der Geschwisterdynamik in Gruppenselbsterfahrungsprozessen geachtet werden müsste, um einem Sog vertikaler Übertragungen zu widerstehen und mögliche vertikale Abwehrmechanismen erkennen zu können. Der Autor skizziert die verschiedenen Formen des therapeutischen Settings und macht auf mögliche Übertragungsprozesse aufmerksam.

Hans Sohni gelingt es vor allem anhand vieler, gut lesbarer Fallbeispiele, das Interesse an der Vielschichtigkeit der Thematik zu wecken, auf die Problematik der »Übergänge« im Biographieverlauf aufmerksam zu machen und für die Bedeutung der »Geschwisterdynamik« zu sensibilisieren. Er geht davon aus, dass für die Psychogenese sowohl die Elternachse als auch die Geschwisterachse von Bedeutung sind. Der Leser kann zu der Überzeugung gelangen, dass Geschwister wichtiger sind als er dachte, da sie in vielfacher Weise beeinflussend miteinander verbunden sind. Der Intensität und dem genaueren »Wie« dieses »Verbundenseins« auf die Spur zu kommen, ist noch ein langer wissenschaftlicher Weg.

Tillmann F. Kreuzer

Zum Jahrbuch f�r Psychoanalytische P�dagogik 21.

zurück zum Titel