Rezension zu Freud lesen

Psychotherapie-Wissenschaft Jg. 3, Heft 1 (2013)

Rezension von Helen Schmid Blumer

Jean-Michel Quinodoz: Freud lesen

Dieses klar strukturierte Werk ist die Frucht einer chronologischen Lektüre sämtlicher Freud-Texte im Rahmen eines Ausbildungsseminars in Genf. Wozu aber diese Herkules-Arbeit? Üblicherweise wählt der Leser einen einzelnen Freud-Text aus, um sich in ihn zu vertiefen. Die Erfahrung zeigt aber, dass dabei leicht der Überblick verloren geht. Der große Vorteil einer chronologischen Lektüre besteht darin, dass der Leser die Entwicklung des freudschen Denkens über Jahrzehnte hinweg mitverfolgen kann. Er schaut Freud praktisch über die Schulter und beobachtet, wie er Begriffe und Theorien entwickelt, verändert, erweitert oder auch mal verworfen hat.

Im ersten Teil der Kapitel führt Quinodoz den Text kurz ein und stellt ihn in den historischen Kontext. Der freudsche Text wird eingebettet in den historischen, medizingeschichtlichen und biographischen Zusammenhang, so dass der Leser eine Verbindung herstellen kann zwischen dem Text, der Person Freud und der Zeitgeschichte. Im zweiten Teil der Kapitel erfolgt eine Darstellung und Erklärung des Freud-Textes, gefolgt von einer Chronologie der freudschen Begriffe. Der Autor nimmt den Leser an die Hand und zeigt ihm anhand von Vor- und Rückblenden den Stand und Stellenwert der zur Diskussion stehenden freudschen Theorie auf. Wo es notwendig erscheint, wird das Kapitel durch die Darstellung der postfreudianischen psychoanalytischen Theorien ergänzt.

Die Lektüre dieses Buches eignet sich bestens als Einstieg für Neulinge, die einen Zugang zu Freuds Theorie suchen. Aber es bietet auch dem Freud-Kenner viele Anregungen und hilft ihm, den roten Faden nicht zu verlieren. Selbstverständlich kann die Lektüre dieses Buches nicht das Studium der freudschen Originaltexte ersetzen. Aber, wie Quinodoz sagt: »Es handelt sich um den Bericht von einer Expedition, der uns bei unseren eigenen inneren Forschungen als Führer dienen kann, bis wir unseren eigenen Weg gefunden haben« (S. 445).

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