Rezension zu Der halbe Stern
Ökumenische Rundschau 2/2014 (April bis Juni, 63. Jahrgang)
Rezension von Jutta Koslowski
Judenverfolgung im Dritten Reich
Brigitte Gensch, Sonja Grabowski (Hg.), Der halbe Stern
Dieses Buch dokumentiert Ergebnisse der Tagung »Sag bloß nicht, daß
du jüdisch bist«, die der Verein »Der halbe Stern« im Jahr 2009 in
Berlin veranstaltet hat. »Der halbe Stern« – dieses sprechende Bild
verweist auf das Schicksal von Menschen, die im Dritten Reich als
»Halbjuden« bezeichnet worden sind. Der Begriff »Halbjuden« wird in
dem vorliegenden Buch kritisch beleuchtet, denn er entstammt der
Nazi-Rassenideologie und ist eine Zuschreibung, die den Betroffenen
von außen aufgezwungen worden ist. Auch die sogenannten »Halbjuden«
wurden (wie ihre Schicksalsgenossen, die »Volljuden«) massenhaft
ermordet. Nur wer als sogenannter »Vierteljude« eingestuft worden
ist (von dessen vier Großeltern also nur eine Person jüdisch war)
hatte höhere Überlebenschancen, ohne vor Verfolgung geschützt zu
sein.
Für Menschen mit teiljüdischer Herkunft bedeutete dies, dass sie
ihre jüdische Identität verstecken mussten. »Sag bloß nicht, daß du
jüdisch bist«. War diese Überlebensstrategie erfolgreich, so hat
sie sich den Betroffenen als Grundhaltung zutiefst eingeprägt.
Unbewusst wurde sie als generationenübergreifendes Muster
weitergegeben: Weder die Überlebenden noch ihre Nachkommen konnten
sich selbst als Juden verstehen – auch dann nicht, wenn die
jüdische Abstammung mütterlicherseits gegeben war, die Nachkommen
also nach jüdischem Selbstverständnis im vollen Sinn als Juden
anzusehen sind.
Alle Überlebenden der Shoah teilen ein Trauma, nämlich das
Schuldgefühl, dass sie die Katastrophe überlebt haben, während
Millionen andere daran zugrunde gegangen sind. Bei den Menschen,
von deren Lebensschicksalen dieses Buch erzählt, kommt zu diesem
Trauma noch eine tiefgreifende Identitätskrise hinzu. Die seelische
Belastung durch diese Herausforderung ist so groß, dass sie zumeist
erst im zeitlichen Abstand von Jahrzehnten bearbeitet werden kann –
von den Betroffenen selbst oder von ihren Kindern und Enkelkindern.
Sie machen sich heute auf die Suche nach ihren jüdischen Wurzeln
und finden dabei zu individuell sehr unterschiedlichen Lösungen.
Eine der Mitautorinnen hat dies so ausgedrückt: »Mein
Erkenntnisprozess geht weiter. Ich komme mir langsam auf die Spur«
(259).
Um diesen Menschen die Möglichkeit zum Austausch zu bieten, hat
sich der Verein »Der halbe Stern« gegründet und die Tagung in
Berlin veranstaltet, auf der erstmals im deutschsprachigen Raum
Betroffene einander begegnen konnten. Es gibt noch fast keine
Untersuchungen und Veröffentlichungen zu der hier behandelten
Problematik; deshalb ist dieses Buch eine wichtige Publikation.
Nach einer Einleitung der beiden Herausgeberinnen und zwei
programmatischen Beiträgen von Johannes Heil und Beate Meyer folgen
mehrere Artikel, die sich mit bestimmten Aspekten beschäftigen (u.
a. über die Verfolgung von »Mischehepartnern« in der
Rhein-Main-Region, über die wirtschaftliche Beeinträchtigung durch
die Rassenverfolgung, über die Verfolgung von Christen jüdischer
Herkunft im Raum Berlin, über Geschichte und Aufgabe der
Evangelischen Hilfsstelle für ehemals Rasseverfolgte, über die
Identitätsproblematik bei (teil-)jüdischer Herkunft und über die
Fortdauer von Nazi-Konstrukten wie »Halbjude«).
Von zentraler Bedeutung für dieses Buch ist der Text von Gerd
Sebald, der unter dem Titel »Die familiale Tradierung von
nationalsozialistischen Identitätszuschreibungen« die verschiedenen
Erkenntnisse zusammenträgt und anhand eines aufschlussreichen
Fallbeispiels erläutert. Die generationsübergreifenden Auswirkungen
der Verfolgungsgeschichte und Identitätsproblematik werden dabei
deutlich. Hieran schließen sich mehrere biographisch geprägte
Beiträge an, worin Betroffene Einblick in ihre Lebensgeschichte
geben und von der mühsamen Suche nach ihrer Identität erzählen (von
Dani Kranz, Wolfgang Kotek, David Landgrebe und Ilona Zeuch-Wiese).
Barbara Innecken berichtet von ihrer Ausstellungsarbeit mit
Menschen aus teiljüdischen Familien, die sie im Rahmen eines
Workshops auf der Tagung angeboten hat. Abgerundet wird der Band
durch die beiden Andachten, die in Berlin gehalten worden sind (zu
den Themen »Sachor – Erinnere Dich!« und »Von göttlichem und
menschlichem Gedenken«). Außerdem enthält das Buch noch eine DVD,
auf der fünf Betroffene im Rahmen eines Zeitzeuglnnen-Plenums zu
hören sind, das zum Auftakt der Tagung durchgeführt worden war.
Insgesamt ist dies ein bewegendes Buch, das die Vielfalt der
Aspekte aus biographischer, historischer, kirchengeschichtlicher,
theologischer und psychotherapeutischer Perspektive beleuchtet und
das unbedingt lesenswert ist.
Jutta Koslowski