Rezension zu Psychoanalyse in der Slowakei

Curare. Zeitschrift für Medizinethnologie 37(2014)1

Rezension von Ronny Krüger

Adam Bžoch: Psychoanalyse in der Slowakei – Eine Geschichte von Enthusiasmus und Widerstand

Wer sich für die Varianten der Rezeption, die Formen der Verwendung und Wege der Verbreitung der psychoanalytischen Idee in einem geografisch eng umrissenen Gebiet interessiert, wird auf den 208 Seiten des vorliegenden Buches mehr als fündig werden. Der slowakische Literaturwissenschaftler, Übersetzer und Leiter des Instituts für Weltliteratur der Slowakischen Akademie der Wissenschaften Adam Bžoch legt hier ein Werk vor, das sowohl den ersten Versuch überhaupt, die Rezeptionsgeschichte der Psychoanalyse in der Slowakei zu schreiben, unternimmt, als auch durch klare Sprache und konzise Darstellung überzeugt. Bžoch macht schon mit seinen ersten Sätzen klar, dass es sich bei seinem Text nicht um die Geschichte einer autonomen psychoanalytischen Bewegung, charismatische Führer oder theoretische Entwürfe handelt, da es all dies in der Slowakei nie gegeben hat. Der Leser könnte nun zu recht fragen, wovon denn dann die Rede sein wird in einem Buch mit dem Titel »Psychoanalyse in der Slowakei«. Was Bžoch liefert, ist eine faszinierende Studie des Einflusses der Psychoanalyse auf die kritischen Denker des Landes. In sieben Kapiteln entwickelt Bžoch ein vielschichtiges Bild des Umgangs mit der Psychoanalyse von Beginn bis Ende des 20. Jahrhunderts, indem er so unterschiedlicher Protagonisten, wie katholische Priester, Angehörige der künstlerischen Avantgarde, akademische Psychologen, marxistische Philosophen und Literaturwissenschaftler vorstellt. Entlang von Lebens- und Werkgeschichten dieser intellektueller Persönlichkeiten stellt er überzeugend dar, dass auch wenn, oder gerade weil in der Slowakei die Rezeption der Psychoanalyse nur an der Peripherie stattfand (die Übersetzung des Originaltitels ist »Psychoanalyse an der Peripherie«), es durchaus lohnend ist, diese nachzuzeichnen.

So lernt der Leser zu Beginn die – wenig überraschend – verheerende katholische Kritik und die Versuche komplementärer Stellungnahmen zu Freuds »Drei Abhandlungen über Sexualtheorie«, die 1926 auf Tschechisch in Prag erschienen waren, kennen. Durch die Vorstellung der Rezipienten in ihrer persönlichen und beruflichen Entwicklung und insbesondere über die Analyse der »Sprache und Terminologie« (S. 42)(1) der von ihnen initiierten Diskurse, wird hierbei die intellektuelle Atmosphäre der jeweiligen Epoche lebendig. Wir erfahren, wie sehr die Debatten von den jeweiligen persönlichen Interessen der Protagonisten geleitet wurden und durch die oft nur partielle Kenntnis der Werke Freuds und des analytischen Diskurses bestimmt waren. Zudem begegnen wir auf diesem Wege Vertretern des slowakischen Surrealismus, der künstlerischen Avantgarde oder der entstehenden psychologischen Wissenschaft und deren jeweils sehr spezifischen Motiven für eine Beschäftigung mit der Psychoanalyse.

Mich haben hier besonders die Schicksale des Denkens der Protagonisten vor dem Hintergrund der sich wandelnden politischen Bedingungen beeindruckt. Wir begegnen Karol Terebessy, der 1940 in einem Artikel zu einem Gedichtband eine leidenschaftliche »Utopie der Befreiung von den repressiven Mechanismen der ödipalen Gesellschaft« (S. 80) entwarf und dafür scharf von der katholischen Intelligenz angegriffen wurde. Aber schon bald sprach er anstelle von der Psychoanalyse lieber nur noch von der aktuell – also zur Zeit des faschistischen slowakischen Staates – erwünschten »deutschen Wissenschaft«: ein Akt der Selbstzensur. Nach dem Krieg konnte er auf wissenschaftlichem Gebiet nicht wieder Fuß fassen, schlug sich mit verschiedenen Tätigkeiten durch und wurde 1957 wegen der Verbreitung der Geheimrede Chruschtschows auf dem XX. Parteitag der KPdSU zu neun Jahren Haft verurteilt, von denen er drei Jahre verbüßen musste. Nach seiner Entlassung bis zu seinem Tode 1985 versuchte er dann erfolglos, seinen Artikel aus den 1940er Jahren in ausländischen Fachzeitschriften zu veröffentlichen.

Der Psychologe T. Pardel wiederum beschäftigte sich nach dem II. Weltkrieg systematisch mit der Psychoanalyse, veröffentlichte Artikel zum Thema und plante schon 1946 »eine größere Arbeit mit dem Titel ›Probleme der Tiefenpsychologie‹ zu verfassen« (S. 102). In seinen Arbeiten dieser Epoche beschäftigte er sich intensiv und oft kritisch mit Freuds Sexual-, Gesellschafts- und Religionstheorie und bemühte sich, »die psychoanalytische Terminologie innerhalb der slowakischen Psychologie zu stabilisieren« (S. 104). Bereits 1953 verabschiedete er sich jedoch von der Psychoanalyse mit der Veröffentlichung eines Artikels mit dem Titel »Einige kritische Bemerkungen zur bürgerlichen Psychologie« und im Jahr 1976 erschien in der kommunistischen Tageszeitung »Pravda« ein von ihm und zwei weiteren Kollegen verfasster Artikel, in dem er Kritik an seinen früheren Sympathien für die Psychoanalyse übte. Der Ton dieser Kritik lässt allerdings weniger an eine reflektierende Neubewertung früherer Gedanken, als vielmehr an eine politisch motivierte Unterwerfungsgeste, der »Kritik und Selbstkritik«, denken. »Die pansexualisierte Bourgeoisie überträgt bereitwillig ihre unmoralischen Produktionsverhältnisse in die zwischenmenschlichen Beziehungen und schafft nicht nur Käuflichkeit der menschlichen Arbeit, sondern auch Käuflichkeit der Liebe ...« (S.109). Nicht der haarsträubende Unsinn an sich ist es, der hier beeindruckt und bedrückt, sondern die aus diesen Zeilen aufscheinende intellektuelle Gewalt, die sich der Autor selbst antut, oder die ihm angetan worden ist.

Überraschend wenige, nämlich gerade einmal vier Seiten des Buches sind dem klinischen Interesse an der Psychoanalyse gewidmet. Im so genannten »F-Kreis« (S. 115ff) trafen sich Psychiater und Psychologen seit den 70er Jahren in Privatwohnungen, um analytische Literatur zu diskutieren. Daraus entstanden halblegale Trainings in psychodynamischer Therapie und Gruppen-Selbsterfahrungsseminare und später Balint-Gruppenarbeit. Dies bildet eine interessante Parallele zum »sozialistischen Bruderstaat DDR« ab, in dem sich eben in derselben Zeit ähnliche halblegale Strukturen ausbildeten, aus denen Konzepte psychodynamischer Gruppenarbeit zur Selbsterfahrung und klinisch-therapeutischen Arbeit hervorgingen. In der Slowakei entstand nach 1990 aus diesen Aktivitäten der »F-Verlag«, in dem slowakische Übersetzungen von Fachliteratur herausgegeben wurden.

Einen besonderen Platz räumt der Autor der Begegnung zwischen Psychoanalyse und slowakischer Literaturwissenschaft ein. So lernen wir hier unter anderem den Versuch einer »Erneuerung der Literaturwissenschaft [...] durch die Aufdeckung der verborgenen psychologischen Dimensionen der Literatur« (S. 132f) durch Anton Popovič kennen. Popovič postulierte eine »Pflicht der Literatur, das Subjekt in der Grenzsituation zu analysieren« (S.133) und ging der Frage nach, wie die »Gefühle der Bedrohung des Einzelnen in der modernen Gesellschaft« (S. 132) literarisch artikuliert werden können. In der Diskussion um diesen Ansatz, den er anhand einer Gedichtinterpretation vorstellte, wurde aber bald klar, dass nicht nur die psychoanalytische Interpretation sondern bereits »der elementare Versuch, eine Verbindung zwischen Literaturwissenschaft und aktuellen soziopolitischen Fragestellungen herzustellen, in der literaturwissenschaftlichen Gemeinde auf Unverständnis stieß.« (S. 135). Für Bžoch zeigt sich in dieser Debatte ein spezifisches Merkmal des literaturwissenschaftlichen Denkens dieser Zeit in der Slowakei, ein »Doublebind, [...] das sich sowohl durch das Streben nach dem Integrieren von neuen ›riskanten‹ Ansätzen, die die Horizonte der Interpretierbarkeit der Literatur erweiterten, als auch durch den Widerstand gegen sie auszeichnete« (S. 136).

Es warten noch viele weitere Entdeckungen auf die Leser dieses Buches, die ich hier als Schlagworte benennen möchte. Der Literaturhistoriker Oskár Čepan wird vorgestellt, der zur Analyse des Werkes eines zeitgenössischen bildenden Künstlers auf Freuds »Jenseits des Lustprinzips« rekurriert und in Analogie zu Freuds Libido-Begriff den der »Pinxido«, als »die Wut des Malens« (S.140) kreiert. Nicht unerwähnt soll auch der ambitionierte und am Ende doch zum Scheitern verurteilte Versuch des Philosophen Stanislav Felber bleiben, »die These vom Unbewussten und seiner Mechanik in die Argumentationszusammenhänge des Behaviorismus zu überführen« (S. 158).

Nach dem Tode Stalins wurde es auch in der damaligen Tschechoslowakei weniger gefährlich öffentlich zu denken, so dass – wenn auch erst ganze 13 Jahre später – 1966 das als erstes auf Slowakisch veröffentlichte Buch von Sigmund Freud »Totem und Tabu« erscheinen konnte, was so einige Resonanzen, darunter skurril widersprüchliche Reaktionen zur Folge hatte. In ihrer vielstimmigen Kritik übersahen die Rezipienten anscheinend die gegenwärtige Bedeutung des Werkes. Denn sonst hätten sie »mit Erschrecken die Aktualität des Motivs des Aufstellens des väterlichen Gesetzes durch die büßenden Söhne« (S. 168) in der »Wiederherstellung des kommunistischen Ancien Régime« (ebd.) nach der Zerschlagung des Prager Frühlings 1968 erkennen müssen, wie Bžoch feststellt. Die Titel der folgenden Kapitel »Schattenbilder« und »Ende des Experimentierens«, die die Freud-Rezeption weiter ausführen und diskutieren, künden von den zu erwartenden düsteren Entwicklungen.

In seinem Schlusskapitel konstatiert Bžoch für die 1980er Jahre eine »Absenz der Psychoanalyse« (S.194), welche »in der Gestalt des allgemeinen Antipsychologismus der Reflexion« (ebd.) erscheint und »die slowakische Kultur bis heute wie ein Schatten begleitet« (ebd.).

Bžoch mutet uns also einen Text ohne Happy-end zu. Das kann er sich durchaus leisten, denn das Potential dieses Buches liegt in der Anregung des deutschsprachigen Lesers über die Rezeptionsgeschichte in seinem Land nachzudenken. Bei den vielen Parallelen zur Geschichte der Psychoanalyse in der DDR fällt besonders auf, wie anders sich das Verhältnis zwischen Klinik und Wissenschaft darstellt. Für die DDR, also den Teil der heutigen Bundesrepublik Deutschland mit einer ähnlichen politischen Geschichte wie die damalige Tschechoslowakei, findet sich eine umfangreiche Forschung zur Rezeption der Psychoanalyse im psychotherapeutisch/psychiatrischen Bereich (s. Bernhardt & Lockot 2000 (2), Geyer 2011 (3), Nitzschke 1989 (4), Seidler & Froese 2002, 2006 (5), Sommer 1997 (6) etc.). Bei Bžoch wiederum ist dies marginal (s.o.), stehen doch die Diskussionen und Anwendungen in Religions-, Gesellschafts- und Kulturkritik, Philosophie, Poesie und Literatur und akademischer Psychologie im Zentrum des Interesses. Das mag am beruflichen Hintergrund des Autors liegen. Sollte es jedoch, wie ich vermute, einen ganz realen Unterschied im Umgang mit der Psychoanalyse in zwei diktatorischen Gesellschaften abbilden, ergäbe sich die spannende Frage, welche Formen des Rückzugs, des Widerstands und des Überlebens sich wann und wo ausbilden und was dies für die Psychoanalyse nach deren Untergang bedeutet.

Ronny Krüger, Berlin

Anmerkungen
1. Wenn nicht anders angegeben, beziehen sich Seitenangaben immer auf das besprochene Werk.
2. Bernhardt H. & Lockot R. (Hg) 2000. Mit ohne Freud – Zur Geschichte der Psychoanalyse in Ostdeutschland. Gießen: Psychosozial-Verlag.
3. Geyer M. (Hg) 2011. Psychotherapie in Ostdeutschland: Geschichte und Geschichten 1945-1995. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht.
4. Nitzschke B. 1989. Marxismus und Psychoanalyse. Historische und aktuelle Aspekte der Freud-Marx-Debatte. Luzifer-Amor Heft 3, Jg. 2: 108–138.
5. Seidler C. & Froese M. (Hg) 2002. DDR-Psychotherapie zwischen Subversion und Anpassung. Berlin: edition bodoni // Seidler C. & Froese M. (Hg) 2006. Traumatisierungen in Ostdeutschland. Gießen: Psychosozial-Verlag.
6. Sommer P. 1997. Kurt Höck und die psychotherapeutische Abteilung am »Haus der Gesundheit« in Berlin – institutionelle und zeitgeschichtliche Aspekte der Entwicklung der intendierten dynamischen Gruppenpsychotherapie. Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik 33: 130–147.

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