Rezension zu Psychoanalyse in der Türkei
Curare. Zeitschrift für Medizinethnologie 37(2014)1
Rezension von Assia Maria Harwazinski
Psychoanalyse an der »Peripherie«
Hale Usak-Sahin 2013. Psychoanalyse in der Türkei. Eine
historische und aktuelle Spurensuche
Mit dieser Studie über die Geschichte der Psychoanalyse in der
Türkei liegt eine erste umfassende historische Studie zur bisher
weitgehend ignorierten Thematik der Psychoanalyse und -therapie im
islamischen Kulturkontext vor. In fünf übergeordneten Kapiteln
werden folgende Bereiche behandelt: 1. Interessen und Widerstände
– Zur Frühgeschichte der Psychoanalyse in der Türkei, 2.
Türkische Übersetzungen psychoanalytischer Werke, 3. Methodik, 4.
Biografien und Besonderheiten, 5. Die Klientel der Psychoanalyse in
der Türkei.
Die Autorin ist selbst klinische und Gesundheitspsychologin und
Psychoanalytikerin in Ausbildung in einem Zentrum für
psychosoziale Gesundheit tätig, mit einem Arbeitsschwerpunkt auf
der Ethnopsychoanalyse und der Migrationsgeschichte von Frauen. In
der Einleitung betont Usak-Sahin, dass sich die Psychoanalyse lange
weder als Beschreibungs- und Erklärungsmodell der menschlichen
Seele noch als eine Behandlungsform bei psychischen Konflikten
behaupten konnte. Der islamische Kontext der Türkei lag im
Konflikt mit dem modern-bürgerlichen Menschenbild der
Psychoanalyse, die sich im christlich-jüdischen Kulturraum
entwickelt hat; insbesondere der »Pansexualismus« der Psychoanalyse
stand den offiziellen »Grundwerten« des Islam feindlich gegenüber.
In der Tanzimat-Periode des Osmanischen Reiches (1839–1876) wurden
Hochschulen nach westlicher Struktur eingerichtet (die erste
Darülfünun) und die islamischen Entsprechungen (Medresen) bis
1924 offiziell abgeschafft. Im Jahr 1915 wurde der einem
experimentellen Ansatz verpflichtete Psychologe Georg Anschütz im
Rahmen der »deutschen Bildungshilfe« in das Osmanische Reich
gesandt, womit der Beginn der Übersetzung
experimentell-psychologischer Werke ins Türkische begann, die in
das Programm der Lehrerbildungsanstalten Einzug hielten. Die
Veröffentlichung und Übersetzung psychiatrischer Lehrbücher
unterlag weiterhin der Zensur.
Die Behandlungsansätze psychischer Erkrankungen stellen in der
türkischen medizinischen und psychiatrischen Fachliteratur ein
großes Gebiet dar: Es handelt sich um schamanische und suggestive
Behandlungsmethoden, die ab dem 8. Jh. zunehmend vom Verständnis
antiker griechischer Säftelehre abgelöst wurde, die mit der
Islamisierung der Türkei Einzug hielt. Ein großer Bereich stellen
traditionell-volksreligiöse Heilpraktiken der Hocas und
Heiligenkulte dar. Mit Bezug auf den Koran wurden (werden)
psychisch Erkrankte überwiegend »als liebenswürdige Geschöpfe
Gottes mit außergewöhnlichen Begabungen betrachtet« (S. 27), die
infolgedessen auch bei schweren Vergehen nicht zur Rechenschaft
gezogen werden, da sie sich außerhalb des religionsrechtlichen
Sünden- und Strafregisters befinden; aus entsprechenden Gründen
wurden diese Ansätze später von Mazhar Osman Uzman scharf
kritisiert. Den Status eines Heiligen erlang(t)en aber nur
Menschen, die ohne eigenes Verschulden erkrankten; an Alkohol- und
Drogenkonsum Leidende können einen solchen nicht erlangen, da dies
gegen die Vorgaben des islamischen und damit göttlichen Rechts
verstößt. Bereits im 17. Jh. wurden in den Pflegeanstalten
psychische Störungen u.a. mit Heilbädern, verschiedenen Diäten
und Musiktherapien behandelt – Methoden, die im westlichen
Kulturkreis heute in weiten Teilen zum Standardprogramm in der
Rehabilitation gehören. Als Pionier der modernen Psychiatrie gilt
Mazhar Osman Uzman (1884–1951), ein Gegner der Psychoanalyse; als
Pionier derselben gilt Izeddin Sadan (1893–1975), der von einem
nahen Freund Mustafa Kemal Atatürks auf eine Stelle als Arzt
empfohlen wurde.
Im dritten, recht kurzen, komprimierten Kapitel erläutert die
Autorin ihren methodischen Ansatz, der von der eigenen familiären
Migrationsgeschichte und dem intensiven Studium qualitativer
Sozial- und Biographieforschung geprägt ist.
Das größte Kapitel ist das vierte. Es widmet sich den Biographien
und Besonderheiten der drei Generationen türkischer
Psychoanalytiker und unterstreicht damit die grundlegende Bedeutung
von Biographiearbeit in therapeutischer Behandlung, auch wenn sie
alleine weder ausreichend noch allumfassend erklärend sein kann.
Dabei steht das Element der Migration ganz zentral im Vordergrund,
und zwar in beide Richtungen. Die erste Generation der
Psychoanalytiker genoss ihre Ausbildung im Ausland und führte
diese anschließend in der Türkei ein. Zur zweiten Generation
gehören u. a. mitteleuropäische Psychoanalytiker, die durch den
Nationalsozialismus zur Emigration in die Türkei gezwungen wurden;
des Weiteren Ärzte, die ebenfalls Emigrationserfahrungen gemacht
und ihre Ausbildung überwiegend im Ausland durchlaufen haben –
eine Prägung, die als »geokulturelle Schnittwunde« bezeichnet wird
und entscheidenden Einfluss auf die klinische Arbeit, die
Bemühungen in der angewandten Psychoanalyse und ihre theoretische
Auffassung ausübte. Die Etablierung der dritten Generation von
Psychoanalytikern in der Türkei geschah primär durch die
Anstrengungen und unter dem Einfluss der zweiten Generation.
Das fünfte Kapitel befasst sich mit der Klientel der Psychoanalyse
in der Türkei. Dabei lautete die Ausgangsfrage für die Autorin,
inwieweit die Psychoanalyse mit ihrer Fokussierung auf sexuelle
Triebwünsche, Religionskritik und das Seelenleben eines
Individuums für Menschen aus islamischen Kulturkreis mit einer
starken Gemeinschaftsverbundenheit, Eingrenzung der Sexualität auf
ein legitimiertes Eheleben und dem Vorherrschen volksreligiöser
Lebenspraktiken eine angemessene Behandlungsmethode darstellen
kann. Usak-Sahin erläutert einige Besonderheiten der klinischen
Anwendung der Psychoanalyse in der Türkei (nach Koptagel-İlal
1998*), die sich vor allem auf die Auswahl der PatientInnen, die
Indikationsstellung, das Setting, die therapeutische Beziehung und
die Interventionstechnik beziehen – Informationen, die besonders
für Ärzte und Therapeuten aus dem nicht-islamischen Kulturkreis
sehr wichtig sind, wenn sie mit türkischer oder
türkischstämmiger Klientel konfrontiert werden. Dabei stellen die
Faktoren Sexualität, Tabuisierung von Homosexualität, religiöse
Bindung an das traditionelle Wertesystem, oft stark
erziehungsbedingte, inzestuöse Mutter-Sohn-Beziehungen mit daraus
folgender Depression, zu hohe Intimität der
Arzt-Patienten-Beziehung und der Couch des Therapeuten mit daraus
folgender hoher Therapie-Abbruch-Rate das Wesentliche dar und
stehen im Vordergrund.
Wie in vielen Ländern der Welt, ist die Psychoanalyse in der
Türkei bis heute eine Angelegenheit einer großbürgerlichen,
sozial abgesicherten und eher westlich orientierten Klientel. Die
kulturellen Traditionen und der Islam spielen eine anhaltend
untergeordnete Rolle in Theorie und Praxis. Erst durch die
Einführung eines Psychotherapiegesetzes durch die
Sozialversicherungsträger mit dem Angebot der Übernahme der
Kosten für psychoanalytische Behandlungen könnte und würde sich
der Wirkungskreis der Psychoanalyse auf die breite türkische
Bevölkerung ausdehnen, was wünschenswert, aber bisher utopisch
erscheint.
Der Band wird durch historische Aufnahmen und Photographien
ergänzt, lässt aber ein Glossar des Fachvokabulars, der
Spezialausdrücke sowie ein Verzeichnis der in der Studie
erwähnten psychischen Krankheitsbilder leider vermissen, was sehr
hilfreich gewesen wäre und bei einer Neuauflage bedacht werden
sollte. Er liest sich insgesamt wie eine medizingeschichtliche
Arbeit in gut verständlicher Sprache.
Assia Maria Harwazinski, Tübingen
* Koptagel-İlal, Günsel 1998. Psychoanalyse und deren Anwendung
in der Türkei. In Koch, E. et al. Chancen und Risiken von
Migration, deutsch-türkische Perspektiven. Freiburg: Lambertus:
225–232.