Rezension zu Robert Walsers Mikrogramm »Beiden klopfte das Herz« (PDF-E-Book)
Literaturkritik.de 05/2006
Rezension von Harald Weilnböck
Empirisch gestützte psychoanalytische Literaturforschung
Über eine vielversprechende Perspektive für die
Kulturwissenschaften
In seinem Buch über einen kurzen Erzähltext von Robert Walser
stellt der klinische Psychologe Marius Neukom ein innovatives
Verfahren der empirisch-narratologischen und psychoanalytischen
Literaturforschung vor. Die Arbeit bezieht ihren besonderen Reiz
aus der Verbindung von Text- und Rezeptionsanalyse, wie auch aus
dem konsequenten Bemühen um eine wirkungsvolle methodische
Kontrollierung der Textauslegung. Damit freilich ist eine Ambition
bezeichnet, die in den philologischen Textwissenschaften nicht nur
kaum anzutreffen ist, sondern sich, soweit sie überhaupt
eingebracht wird, häufig großem Unverständnis gegenübersieht. Denn
die Geisteswissenschaften zeigen immer weniger Interesse, mit
Psychologie und Psychoanalyse sowie den Handlungswissenschaften
insgesamt zusammenzuarbeiten. Dies ist umso bedauerlicher, als
Neukoms Anliegen kein geringeres ist, als einen Modus der
tiefenpsychologisch versierten Erzählforschung zu entwickeln, der
es erlaubt, in abgesicherter und transparenter Weise psychologische
Schlüsse sowohl über mündliches als auch über mediales und
fiktionales Erzählen zu treffen.
Neukoms Gegenstand ist Robert Walsers Mikrogramm »Beiden klopfte
das Herz...«. Er legt es vierzehn LeserInnen vor und befragte sie
anschließend im narrativen Interview nach ihren persönlichen
Reaktionen auf die Lektüre. Die systematische Typisierung der
Reaktionen verdichtet Neukom grob auf zwei unterschiedliche
Rezeptionsmuster, ein emphatisches Angesprochen-Sein vom und ein
brüskes Ungehalten-Sein gegenüber dem Text, wobei sich in beiden
Mustern spezifische Abwehr- und Ermöglichungsfunktionen mutmaßen
lassen. Diese Verdichtung auf nur zwei Muster ist statthaft und
zielführend, weil Neukom hier ausdrücklich nicht den Weg der
medienbiografischen Sozialforschung über die hinzugezogenen
LeserInnen verfolgt, was er bei einem etwas anderen Zuschnitt des
Verfahrens auch hätte tun können. Demgegenüber dient dieser Auftakt
im Feld der Leseforschung lediglich als heuristischer Impuls, um
Hypothesen über die interaktionalen Mechanismen der
Rezeptionssteuerung des Textes bzw. des Erzählers zu bilden. Diese
werden dann jedoch nicht einfach mit der mutmaßlichen Textbedeutung
kurzgeschlossen. Vielmehr führt Neukom separat und in methodisch
eigenständiger Weise eine Erzähltextanalyse durch, die auf dem in
der Züricher klinischen Narrativik entwickelten Verfahren JAKOB
basiert. Dieser Vorgehensschritt ist von den Ergebnissen der
Rezeptionsanalyse unabhängig und bezieht von ihr lediglich
Leitfragestellungen, die in forschungsökonomischer Funktion
sicherstellen, dass rezeptionsrelevante Gesichtspunkte des Textes
und nicht nur idiosynkratische, intellektuelle Forschungsinteressen
in den Blick kommen.
Indem Neukom zwei eigenständige methodische Anker wirft und –
zunächst wenigstens – davon frei bleibt, die beiden Bereiche der
Rezeptions- und der Textanalyse unziemlich zu vermengen, überwindet
er eine konzeptionelle Schwäche so mancher bisherigen
literaturpsychologischen Untersuchung, insbesondere das
methodologische Transparenz-Defizit der Tiefenhermeneutik. Denn
diese war zwar stets psychoanalytisch und
gegenübertragungs-theoretisch fundiert, wie auch Neukom, d. h. es
wird, ausgehend von Hartmut Raguse und Carl Pietzcker bzw. Alfred
Lorenzer, die Annahme zugrunde gelegt, dass die RezipientInnen
während der Lektüre eine komplexe mentale Beziehung des
psychoaffektiven Austausches mit dem Text ausbilden – und, ich füge
hinzu, indirekt wohl doch auch zum Autor (!) -, eine Beziehung, die
beiderseits von psychischen Bedürfnissen und Funktionen geleitet
ist und die interaktionalen Wechselwirkungen der so genannten
psychoaffektiven Übertragung ins Werk setzen. Aber die
Tiefenhermeneutik konnte häufig jenem Kurzschluss von subjektiver
Lesereaktion und Textbedeutung nicht entgehen.
Dies ist nun die entscheidende Stelle, an der Neukom mit nicht
geringem Aufwand das klinisch-psychologische
Erzählanalyse-Verfahren JAKOB einsetzt. Hierbei erfolgt eine viele
Dutzend Seiten einnehmende Sequenzierung des kurzen Erzähltextes in
Subjekt-Prädikat-Objekt-Sequenzen. Deren anschließende
narratologische Auswertung der Einzelsequenzen anhand basaler
Kriterien der Form und der Interaktionsstruktur soll auch
Rückschlüsse auf die auktoriale Konfliktdynamik sowie das
Wirkungspotenzial der Erzählung ermöglichen. Sie wird mit dem Ziel
unternommen, schrittweise, d. h. Sequenz für Sequenz die
psychodynamische Erzähl- und Konfliktdynamik seitens des textuellen
Erzählers zu ermitteln.
Eine dermaßen systematische und raumgreifende methodische
Intervention mit empirischem Anspruch wird das Gros von
PhilologInnen intuitiv als viel zu aufwändig und letztlich
unangebracht empfinden. Dies rührt daher, dass für die
Mainstream-Geisteswissenschaften andere als
spekulativ-hermeneutische Vorgehensweisen genauso ungewohnt sind,
wie sie ihrer im Grunde jedoch auch sehr bedürften. Denn ohne ein
wie auch immer im Einzelnen beschaffenes Verfahren der methodischen
Kontrolle, sprich: einer Triangulierung der hermeneutischen
Interpretation, wird man in den Philologien jene Ebene von
Humanwissenschaft nicht erreichen können, die jenseits der
historischen Form- und Inhaltsbestimmung liegt und über bloß
exegetische Bedeutungsanmutungen an den textuellen Gegenstand
hinausgeht.
Wo immer also ein Verfahren der Sequenzierung und der
methodenkontrollierten Hypothesenbildung eingesetzt wird, ist ein
großes und noch gar nicht hinreichend wahrgenommenes Desiderat des
geistes- und kulturwissenschaftlichen Arbeitens eingelöst. Nicht
also weniger aufwändig muss das Verfahren werden. Es muss im
Gegenteil eher noch weiter ausgebaut und in seinem methodischen
Kontrolleffekt geschärft werden; und zwar schon deshalb, weil es
Neukom offensichtlich nicht immer hinreichend davor bewahrt, im
Einzelnen zu weitreichende und manchmal unzulässige interpretative
Schlussfolgerungen zu ziehen.
Wenn Neukom z. B. folgert, dass des Erzählers Bekundung, er wolle
»überdachtes und mit Belegen belegtes Dichten« hervorbringen, eine
Ironie und Distanz enthält, ist dies unter Umständen plausibel,
aber keineswegs zwingend; und methodenkontrollierte
Hypothesenbildung lässt, zumal in den ersten, feinteiligen
Arbeitsschritten, nur zwingende Schlüsse zu. Stark theoriegeleitete
Schlüsse, wie z. B. der, dass ein sich abzeichnender figuraler
Konflikt einen »ödipalen Triumphwunsch« und eine »Kastrationsangst«
erkennen lässt, können natürlich nie ganz zwingend gemacht werden.
Vollends versagt die methodologische Kontroll- und Schutzfunktion
des Verfahrens z. B. bei Feststellungen dergestalt, dass in
bestimmten Textsequenzen die Trennung von erzähltem Vorgang und
Erzählvorgang »mangelhaft« sei; denn ein geeignetes
Evaluationskriterium hierfür ist gar nicht absehbar und wird auch
nicht gegeben. Und wenn der Interpret sich an einigen wenigen
Stellen dazu hinreißen lässt, in Bildern des Walser-Textes
»abgegriffenen Kitsch« und »gefühlsduselige Romantik« zu sehen, hat
er den Rahmen einer methodenkontrollierten Hypothesenbildung
endgültig verlassen und ist flugs auf die Ebene der persönlichen
Gegenübertragung gewechselt, die freilich auch analysiert werden
müsste.
Umso erfreulicher ist, dass Neukoms Arbeit in ihrem Ergebnis
hiervon letztlich so weitgehend unbeeinträchtigt bleibt. Auch gibt
es zum Versuch der Entwicklung von methodenkontrollierten,
interaktionsanalytischen Interpretationsverfahren in den
Literaturwissenschaften aus oben genannten Gründen keine
Alternative. Und dass eine solche Verfahrensentwicklung nicht schon
weiter vorangeschritten ist, weil die Philologien noch nicht sehr
weit darin gekommen sind, sich handlungstheoretisch zu
positionieren, hat der klinische Psychologe Neukom zu allerletzt zu
verantworten.
Insgesamt zieht Neukom den durchweg überzeugenden Schluss, dass der
im Text angelegte Erzähler zu den LeserInnen eine Beziehung von der
Struktur der Doppelbindung anbahnt. Dies tut er, indem er eine
filigrane Dynamik des konfusen Hin-und-Her von thematischen
Verführungen und Erzählverweigerungen einsetzt, wie auch mittels
einer beinahe unentwirrbaren Vermengung der Ebenen des
erzählinhaltlichen Geschehens und des Erzählvorgangs. Dadurch sind
den LeserInnen unvermerkt große, manchmal untragbare Anstrengungen
aufgebürdet. Sie entstehen zum einen aus dem hohen Maß an
Orientierungsschwierigkeit und zum anderen aus den damit
verbundenen psychodynamischen Affektübertragungen, die
unwillkürlich vom Autor über den Text auf die LeserInnen übertragen
und von diesen ausgehalten werden müssen. Das gilt umso mehr, wenn
die Intensität der Affekte – wie bei Walser – den Grad erreicht,
der dem Spektrum von projektiv-identifizierenden Angst-,
Aggressions- und Abwehraffekten entspricht, denn dies mag auch
Affektstärken wie die einer Angst vor einem psychotischen
Zusammenbruch mit einschließen.
In diesem Theorierahmen stellt Neukom die psychoaffektive
Interaktionsdynamik, die von Robert Walsers Text ausgeht, in
Analogie zu einer stark konflikthaft verlaufenden frühkindlichen
»Urszene«-Beziehung. Einer narzisstischen Selbstobjektbeziehung
vergleichbar, drängt dieses Beziehungsmuster unwillkürlich danach,
sich im Rapport zwischen Text und Leser zu wiederholen, was im
Grunde einen – wenngleich wenig aussichtsreichen – Versuch
darstellt, endlich eine lösende Bearbeitung des Konflikts zu
erfahren.
Durchweg plausibel ist auch Neukoms psycho-biografische
Schlussfolgerung, die jedoch erst ganz am Ende des Buches gezogen
wird und etwas undeutlich verbleibt. Denn die besonderen
Herausforderungen, die der Rapport zwischen Text und Leser
beinhaltet, sind bei diesem Schriftsteller insofern auch
biografisch absehbar, als Walser, wie man weiß, mit ernsthaften
psychopathologischen Lebensproblemen umzugehen hatte und sich
längere Zeiten mit psychotischen Symptomen in psychiatrischen
Kliniken befand. Weil nun Walsers psychische Bedrohtheit wie auch
die Bandbreite der dadurch bedingten psychischen und
interaktionalen Abwehrvorkehrungen unwillkürlich »ein Stück weit«
in seine Texte einging, kommt es mitunter zu jenen schwer
erträglichen Affektübertragungen auf den Leser. Umso begreiflicher
ist, dass die eine Hälfte von Neukoms empirischen LeserInnen den
Text irritiert und sogar entrüstet zurückwiesen, zumal wenn sie
nicht durch einen spezifischen Literaturenthusiasmus vorgeprägt
waren.
Dabei weist der Klinker Neukom entschieden diejenigen
philologischen Stimmen in die Schranken, die sich befugt glaubten,
die psychische Bedrohtheit Walser wenn nicht zu bestreiten, so doch
unangemessen zu relativieren. Denn diese Exegeten entsprechen einer
irreführenden geisteswissenschaftlichen Argumentationstradition,
die in Pierre Bertaux ihr wohl prominentestes Beispiel gefunden
hat. Bertaux nämlich legte die vielhundertseitig hergeleitete
Mutmaßung vor, der – ebenfalls von psychotischen Phänomenen
betroffene – Friedrich Hölderlin habe sich nur verrückt gestellt,
um der politischen Verfolgung zu entgehen.
In Neukoms Arbeit liegt somit ein schlüssiger und vor allem
handlungswissenschaftlich anschlussfähiger Beitrag zur Frage danach
vor, wie eine schwerwiegende psychoaffektive Bedrängnis im Feld der
ästhetischen Handlung zum Ausdruck finden kann und welche
individuellen und auch kollektiven, gruppendynamischen
Folgewirkungen und Bearbeitungsmöglichkeiten sich aus dergleichen
ästhetischen Handlungen ergeben können. In ihrer Verbindung des
psychoanalytischen Ansatzes mit dem Versuch, ein Verfahren der
qualitativ-empirischen Hypothesenprüfung einzubringen, nimmt die
Arbeit in der Literaturwissenschaft im Moment eine einzigartige und
jedenfalls aussichtsreiche Position ein.
Was Neukom auf dem Weg zu seiner so trefflichen Schlussfolgerung
kurzeitig ins methodische Straucheln gebracht hat, ist der
genaueren Erschließung durchaus wert. Denn die Arbeit befindet sich
an der Schnittstelle einer bisher weitgehend ungenutzten
Zukunftsperspektive der Geistes- und Kulturwissenschaften: dem Ort
der psychologisch versierten, handlungswissenschaftlichen Forschung
über ästhetische und mediale Interaktion.
Ein erster Faktor dieses Strauchelns wird meines Erachtens
deutlich, je genauer man in Betracht zieht, dass das, was Neukom an
konzeptioneller Hilfe seitens der Literaturwissenschaften
beigezogen hat, ihn in mindestens einer Hinsicht eher behinderte
als dass es ihm geholfen hätte. Indem er nämlich das Konzept des
dem Text impliziten Autors übernimmt – und dies scheint angesichts
der Lage der Theoriediskussion beinahe unvermeidlich -, lädt er
sich einige innergeisteswissenschaftliche Problemerbschaften auf,
die er eigentlich gar nicht zu verantworten hat und ganz gewiss
nicht nötig hätte. Die Einschätzung der Frage, wozu das Konzept des
impliziten Autors eigentlich nütze ist, auch die Überlegung, ob
nicht die wesentliche Funktion des »impliziten Autors« eine
eigentlich wissenschaftsstrategische gewesen ist und darin bestand,
den Philologien zu ermöglichen, weiterhin vom empirischen Autor wie
auch von den empirischen LeserInnen absehen und weiterhin
vorwiegend textwissenschaftlich und un-psychologisch bleiben zu
können – dergleichen Fragen bedürfen eines eigenen Ortes.
Mit Blick auf Neukoms Arbeit, die immerhin die empirischen
LeserInnen ansatzweise mit einbezogen hat, habe ich den Eindruck,
dass er ohne das Konzept des impliziten Autors wesentlich besser
gefahren wäre. Denn dieses zieht ihn zu sehr von der Person des
empirischen Autors ab. Zwar geht Neukom – wenngleich kurz und an
später, beinahe ausgelagert wirkender Stelle – auf die psychische
und lebensgeschichtliche Situation der Person Robert Walser ein.
Auch zieht er mitunter bereits in der Textanalyse den Schluss, dass
ein »Abgleiten in einen psychotischen Zustand« zu gewärtigen war.
Dies ist aber durchweg missverständlich auf den Erzähler bezogen;
dabei kann doch ein Erzähler nicht psychotisch werden, wohl aber
der Autor.
Die Ebenen des personalen Autors und der textuellen Erzählung sind
also noch nicht hinreichend miteinander integriert, ein Wunsch, den
man kaum an den psychologischen Promovierenden wird richten dürfen.
Denn sogar die Altmeister der psychoanalytischen Literaturtheorie
wussten ihn bisher nicht zu erfüllen oder auch nur als solchen zu
erkennen und operieren nach wie vor mit dem »impliziten Autor«.
Allerdings mag dieses Manko auch eine Ursache dafür sein, dass
Neukom etwas Wichtiges übersieht. Und diese Ausblendung hat
eventuell auch mit der Konzentration auf die Theorieebene der
Ödipalität zu tun – wodurch ein zweiter mutmaßlicher Faktor jenes
methodologischen Strauchelns angesprochen ist. Denn der Schwerpunkt
auf Ödipalitätsbegriffen setzt ein relativ hohes psychisches
Funktionsniveau voraus, was angesichts von borderlinen und der
psychotischen Phänomenen, mit denen bei Walser ja schon a priori zu
rechnen wäre, nur eingeschränkt hilfreich ist.
Des Weiteren mag Neukoms eher ödipalitätstheoretischer Fokus auch
dazu geführt haben, dass er das interaktionale und ästhetische
Potenzial von Walsers Text im ganzen doch sehr pessimistisch,
meines Erachtens zu pessimistisch einschätzt. Als ob er selbst noch
im Banne des großen Übertragungsdrucks dieser Erzählung stünde,
trifft Neukom die Feststellung, der Leser würde vor eine »unlösbare
Verarbeitungs- und Verstandesschwierigkeit« gestellt und sei ein
doppelt Ausgeschlossener. Das »Sprach- und Erzähllabyrinth« sei
zwar ein »kunstvoll gefertigtes«, nötige dem Leser aber ab, »zu
verstehen, was nicht zu verstehen ist«; und dieses Lesen käme
»einer Preisgabe an die Willkür und das Kontrollbedürfnis des
Erzählers« gleich. Gleichzeitig wäre auch der Erzähler selbst,
sowie »sein Produkt« – wessen Produkt eigentlich ist der Text? –
»und auch der implizite Autor, dazu prädestiniert, vernichtende
Kritik auf sich zu ziehen«. Eine scheinbar in jeder Hinsicht fatale
Interaktionssituation also!
Die ganz wesentliche andere Möglichkeit der interaktiven
Wirkungsdynamik eines solchen Textes, die hier übersehen worden
ist, hätte sich in nach-Freudianischer Perspektive leichter
erschließen lassen. Während nämlich der dunkle Unlösbarkeits-Gestus
von Neukoms Einschätzung offensichtlich der Freudschen
Ödipus-Theorie sowie den entsprechenden Theoremen von Urszene,
Kastration, Analität und Sadismus geschuldet ist, kommt mit dem
nach-Freudianischen bzw. präödipalen Theorem des therapeutischen
Containment eine weitere, hellere Verstehensalternative in den
Blick: Immer dort, wo die Affektübertragungen eine größere und
schwerer erträgliche Heftigkeit annehmen und borderline oder
prä-psychotische Intensitäten erreichen, ist der Therapeut
besonders gefordert. Denn diese Affekte müssen trotz allem
gutwillig aufgenommen und nach Kräften neutralisiert – d. h.
contained – werden. Sie müssen sozusagen einer emotionalen
Vorverdauung unterzogen und mental »entgiftet« werden, wie Wilfred
Bion, ein Psychoanalytiker und Kognitionstheoretiker aus Freuds
Zeiten, sagte. In der entgifteten Form können diese Affekte dann
ertragen und dem Patienten zurückvermittelt werden.
Nichts anderes, als der Wunsch nach einem solchen
psychotherapeutischen Containment wird den Erzähler bzw. den Autor
Robert Walser letztlich bewegt haben. Und nichts anderes auch mag
es vielleicht gewesen sein, was jener stattlichen Hälfte von
Neukoms empirischen LeserInnen zu tun gegeben war, die sich ja
keineswegs vor unlösbare Schwierigkeiten gestellt sahen, sondern
mehr als leidlich mit dem Text zurechtkamen.
Neukom sieht dies zwar nicht, scheint aber am Ende seines
einschlägigen Aufsatzes in der Zeitschrift »Psyche« eine Wendung
dahingehend gesucht zu haben – bei der ihm jedoch ein weiteres Bein
gestellt wird, das wiederum gleichermaßen literaturtheoretische wie
Freudianisches Aspekte hat. Nachdem er neben allen Wahrnehmungen
der Qual und Reibung des Walser-Lesens auch die Möglichkeit einer
lustvollen Lektüre erkennt, die er jedoch noch etwas ingrimmig als
ein Sich-schadlos-Halten bezeichnet, stößt er ausgerechnet auf den
– implizit immer mit Lacan verbundenen – Begriff des Begehrens.
Dies hat nun insofern eine fast tragische Note, als Neukom damit
dem wohl schillerndsten und das heißt: doppelbindensten Begriff in
die Arme läuft, den die Psychoanalyse zu bieten hat.
In Neukoms eminent aussichtsreicher und wichtiger
Arbeitsperspektive der interdisziplinären Literaturforschung
voranzukommen, wird also auch heißen, sich gegenüber bestimmten
Segmenten seiner zwei tragenden Theorieressourcen abzusetzen: zum
einen gegenüber der Literaturtheorie, die immer noch in erster
Linie Texttheorie ist und nicht auch psychologisch informierte
Handlungstheorie über AutorInnen und LeserInnen und ihr
interaktionales Zusammenwirken werden will; und zum anderen
gegenüber einer älteren, ödipalitätstheoretischen Psychoanalyse,
die auf Fragen des innerpsychischen Konflikts konzentriert ist und
darüber die Dimension des jeweiligen psychischen Strukturniveaus
eines mentalen Phänomens sowie der Beziehungs- und
Interaktionsmuster noch nicht genügend mit einbezieht.
Diesbezüglich gute Intuition beweist Neukom auch darin, dass er den
Begriff der Double-bind-Kommunikation aufnimmt, der ja ein
interaktionaler Begriff ist. Denn die Doppelbindung, die früher
einmal ein beinahe geflügeltes Wort war, ist heute kurioserweise
fast vollkommen aus den fachlichen Debatten und entsprechenden
Handbüchern verschwunden. Dabei ist das von der so genannte Palo
Alto Gruppe um den Kliniker und Schizophrenie-Forscher Gregory
Bateson ausgehende Konzept der Double-bind-Kommunikation in
Deutschland zuletzt noch von Thea Bauriedls so profunder
Beziehungsanalyse in elaborierter Weise aufgenommen und im Kontext
von Begriffen der Ambivalenz, Ambitendenz und psychischen
Abspaltung, auch der Manipulation und Macht, modelliert worden. Mit
Blick auf Neukoms Arbeit über den mitunter von schizophrenen
Zuständen betroffenen Robert Walser erinnert man sich daran, dass
die Double-bind-Kommunikation immer auch als möglicher
schizophrenogener Faktor diskutiert wurde. Hier bieten sich also
Möglichkeiten des wissenschaftlichen Anschlusses und der Konzeption
von weiteren Forschungsprojekten, denen der gesamte Bereich der
jüngern Untersuchungen über psychotische und borderline Formen der
Interaktion offen steht.
Trefflich ist auch Neukoms Zurückweisung derjenigen Stimmen in
Literaturbetrieb und -wissenschaft, die wie z. B. Dieter Borchmeyer
mit großem Enthusiasmus und postmoderner Inspiration goutieren, wie
sehr sich in Walsers Erzähltexten der Inhalt zugunsten der Form
auflöst und wie alles so schön ins Flottieren gerät. Man wird
Neukoms Verdacht gegenüber dem Literaturenthusiasmus einer älteren
Prägung vielleicht noch weiter und auch ethisch zuspitzen können:
Nicht nur nämlich wird in dieser emphatischen Inhaltsvergessenheit
mit jubilatorischem Affekt von wesentlichen Erlebnisgesichtspunkten
der dargestellten Szenen abgesehen. Die Form selbst wird bei weitem
unterschätzt, insofern weder ihre verfängliche Suggestivität und
Verstrickungskraft noch die sich in ihr indirekt ausdrückende
menschliche Not erkannt und erschlossen wird.
Ein – professioneller – Leser, der aus seiner Situation einer
relativ großen psychischen Stabilität heraus einzig die
Formauflösung des Textes wahrnimmt, mehr noch: der dieser
Formauflösung rein ästhetisch-geschmacklich huldigt, wird den in
sich gebrochenen, wortreich und namenlos verzweifelten Appell des
Autors an die Gemeinschaft seiner LeserInnen nicht erspüren; er
wird dem Wunsch nach einer trotz allem mental-resonanten,
empathischen Lesehaltung nicht erkennen. Demgegenüber gerät der
postmodern enthusiasmierte Leser dahin, nolens volens, und
sozusagen retraumatisierend, eher mit den fragmentierenden, ich-
und erzähl-gefährdenden Kräften zu paktieren als mit den lösenden –
um eines geschmacklichen, eventuell eigensüchtigen Kitzels willen.
Psychologisch gesprochen, versäumt dieser – professionelle – Leser
es, den Wunsch nach psychoaffektivem Containment wahrzunehmen,
wodurch er dem sich gänzlich verweigernden Leser durchaus ähnlich
wird. Und dabei bleibt freilich immer auch eine Möglichkeit der
gemeinsamen, gesellschaftlichen Bearbeitung der sich erzählenden
Not ungenutzt.
Alle Wissenschaft, die Literaturwissenschaft eingeschlossen, hat
immer auch ethische Aspekte; diese genauer zu fassen, könnte eine
nicht unwesentliche Nebenwirkung von interdisziplinärer,
handlungstheoretischer Kulturforschung sein.
Empirisch gestützte psychoanalytische Literaturforschung
Über eine vielversprechende Perspektive für die
Kulturwissenschaften
In seinem Buch über einen kurzen Erzähltext von Robert Walser
stellt der klinische Psychologe Marius Neukom ein innovatives
Verfahren der empirisch-narratologischen und psychoanalytischen
Literaturforschung vor. Die Arbeit bezieht ihren besonderen Reiz
aus der Verbindung von Text- und Rezeptionsanalyse, wie auch aus
dem konsequenten Bemühen um eine wirkungsvolle methodische
Kontrollierung der Textauslegung. Damit freilich ist eine Ambition
bezeichnet, die in den philologischen Textwissenschaften nicht nur
kaum anzutreffen ist, sondern sich, soweit sie überhaupt
eingebracht wird, häufig großem Unverständnis gegenübersieht. Denn
die Geisteswissenschaften zeigen immer weniger Interesse, mit
Psychologie und Psychoanalyse sowie den Handlungswissenschaften
insgesamt zusammenzuarbeiten. Dies ist umso bedauerlicher, als
Neukoms Anliegen kein geringeres ist, als einen Modus der
tiefenpsychologisch versierten Erzählforschung zu entwickeln, der
es erlaubt, in abgesicherter und transparenter Weise psychologische
Schlüsse sowohl über mündliches als auch über mediales und
fiktionales Erzählen zu treffen.
Neukoms Gegenstand ist Robert Walsers Mikrogramm »Beiden klopfte
das Herz...«. Er legt es vierzehn LeserInnen vor und befragte sie
anschließend im narrativen Interview nach ihren persönlichen
Reaktionen auf die Lektüre. Die systematische Typisierung der
Reaktionen verdichtet Neukom grob auf zwei unterschiedliche
Rezeptionsmuster, ein emphatisches Angesprochen-Sein vom und ein
brüskes Ungehalten-Sein gegenüber dem Text, wobei sich in beiden
Mustern spezifische Abwehr- und Ermöglichungsfunktionen mutmaßen
lassen. Diese Verdichtung auf nur zwei Muster ist statthaft und
zielführend, weil Neukom hier ausdrücklich nicht den Weg der
medienbiografischen Sozialforschung über die hinzugezogenen
LeserInnen verfolgt, was er bei einem etwas anderen Zuschnitt des
Verfahrens auch hätte tun können. Demgegenüber dient dieser Auftakt
im Feld der Leseforschung lediglich als heuristischer Impuls, um
Hypothesen über die interaktionalen Mechanismen der
Rezeptionssteuerung des Textes bzw. des Erzählers zu bilden. Diese
werden dann jedoch nicht einfach mit der mutmaßlichen Textbedeutung
kurzgeschlossen. Vielmehr führt Neukom separat und in methodisch
eigenständiger Weise eine Erzähltextanalyse durch, die auf dem in
der Züricher klinischen Narrativik entwickelten Verfahren JAKOB
basiert. Dieser Vorgehensschritt ist von den Ergebnissen der
Rezeptionsanalyse unabhängig und bezieht von ihr lediglich
Leitfragestellungen, die in forschungsökonomischer Funktion
sicherstellen, dass rezeptionsrelevante Gesichtspunkte des Textes
und nicht nur idiosynkratische, intellektuelle Forschungsinteressen
in den Blick kommen.
Indem Neukom zwei eigenständige methodische Anker wirft und –
zunächst wenigstens – davon frei bleibt, die beiden Bereiche der
Rezeptions- und der Textanalyse unziemlich zu vermengen, überwindet
er eine konzeptionelle Schwäche so mancher bisherigen
literaturpsychologischen Untersuchung, insbesondere das
methodologische Transparenz-Defizit der Tiefenhermeneutik. Denn
diese war zwar stets psychoanalytisch und
gegenübertragungs-theoretisch fundiert, wie auch Neukom, d. h. es
wird, ausgehend von Hartmut Raguse und Carl Pietzcker bzw. Alfred
Lorenzer, die Annahme zugrunde gelegt, dass die RezipientInnen
während der Lektüre eine komplexe mentale Beziehung des
psychoaffektiven Austausches mit dem Text ausbilden – und, ich füge
hinzu, indirekt wohl doch auch zum Autor (!) -, eine Beziehung, die
beiderseits von psychischen Bedürfnissen und Funktionen geleitet
ist und die interaktionalen Wechselwirkungen der so genannten
psychoaffektiven Übertragung ins Werk setzen. Aber die
Tiefenhermeneutik konnte häufig jenem Kurzschluss von subjektiver
Lesereaktion und Textbedeutung nicht entgehen.
Dies ist nun die entscheidende Stelle, an der Neukom mit nicht
geringem Aufwand das klinisch-psychologische
Erzählanalyse-Verfahren JAKOB einsetzt. Hierbei erfolgt eine viele
Dutzend Seiten einnehmende Sequenzierung des kurzen Erzähltextes in
Subjekt-Prädikat-Objekt-Sequenzen. Deren anschließende
narratologische Auswertung der Einzelsequenzen anhand basaler
Kriterien der Form und der Interaktionsstruktur soll auch
Rückschlüsse auf die auktoriale Konfliktdynamik sowie das
Wirkungspotenzial der Erzählung ermöglichen. Sie wird mit dem Ziel
unternommen, schrittweise, d. h. Sequenz für Sequenz die
psychodynamische Erzähl- und Konfliktdynamik seitens des textuellen
Erzählers zu ermitteln.
Eine dermaßen systematische und raumgreifende methodische
Intervention mit empirischem Anspruch wird das Gros von
PhilologInnen intuitiv als viel zu aufwändig und letztlich
unangebracht empfinden. Dies rührt daher, dass für die
Mainstream-Geisteswissenschaften andere als
spekulativ-hermeneutische Vorgehensweisen genauso ungewohnt sind,
wie sie ihrer im Grunde jedoch auch sehr bedürften. Denn ohne ein
wie auch immer im Einzelnen beschaffenes Verfahren der methodischen
Kontrolle, sprich: einer Triangulierung der hermeneutischen
Interpretation, wird man in den Philologien jene Ebene von
Humanwissenschaft nicht erreichen können, die jenseits der
historischen Form- und Inhaltsbestimmung liegt und über bloß
exegetische Bedeutungsanmutungen an den textuellen Gegenstand
hinausgeht.
Wo immer also ein Verfahren der Sequenzierung und der
methodenkontrollierten Hypothesenbildung eingesetzt wird, ist ein
großes und noch gar nicht hinreichend wahrgenommenes Desiderat des
geistes- und kulturwissenschaftlichen Arbeitens eingelöst. Nicht
also weniger aufwändig muss das Verfahren werden. Es muss im
Gegenteil eher noch weiter ausgebaut und in seinem methodischen
Kontrolleffekt geschärft werden; und zwar schon deshalb, weil es
Neukom offensichtlich nicht immer hinreichend davor bewahrt, im
Einzelnen zu weitreichende und manchmal unzulässige interpretative
Schlussfolgerungen zu ziehen.
Wenn Neukom z. B. folgert, dass des Erzählers Bekundung, er wolle
»überdachtes und mit Belegen belegtes Dichten« hervorbringen, eine
Ironie und Distanz enthält, ist dies unter Umständen plausibel,
aber keineswegs zwingend; und methodenkontrollierte
Hypothesenbildung lässt, zumal in den ersten, feinteiligen
Arbeitsschritten, nur zwingende Schlüsse zu. Stark theoriegeleitete
Schlüsse, wie z. B. der, dass ein sich abzeichnender figuraler
Konflikt einen »ödipalen Triumphwunsch« und eine »Kastrationsangst«
erkennen lässt, können natürlich nie ganz zwingend gemacht werden.
Vollends versagt die methodologische Kontroll- und Schutzfunktion
des Verfahrens z. B. bei Feststellungen dergestalt, dass in
bestimmten Textsequenzen die Trennung von erzähltem Vorgang und
Erzählvorgang »mangelhaft« sei; denn ein geeignetes
Evaluationskriterium hierfür ist gar nicht absehbar und wird auch
nicht gegeben. Und wenn der Interpret sich an einigen wenigen
Stellen dazu hinreißen lässt, in Bildern des Walser-Textes
»abgegriffenen Kitsch« und »gefühlsduselige Romantik« zu sehen, hat
er den Rahmen einer methodenkontrollierten Hypothesenbildung
endgültig verlassen und ist flugs auf die Ebene der persönlichen
Gegenübertragung gewechselt, die freilich auch analysiert werden
müsste.
Umso erfreulicher ist, dass Neukoms Arbeit in ihrem Ergebnis
hiervon letztlich so weitgehend unbeeinträchtigt bleibt. Auch gibt
es zum Versuch der Entwicklung von methodenkontrollierten,
interaktionsanalytischen Interpretationsverfahren in den
Literaturwissenschaften aus oben genannten Gründen keine
Alternative. Und dass eine solche Verfahrensentwicklung nicht schon
weiter vorangeschritten ist, weil die Philologien noch nicht sehr
weit darin gekommen sind, sich handlungstheoretisch zu
positionieren, hat der klinische Psychologe Neukom zu allerletzt zu
verantworten.
Insgesamt zieht Neukom den durchweg überzeugenden Schluss, dass der
im Text angelegte Erzähler zu den LeserInnen eine Beziehung von der
Struktur der Doppelbindung anbahnt. Dies tut er, indem er eine
filigrane Dynamik des konfusen Hin-und-Her von thematischen
Verführungen und Erzählverweigerungen einsetzt, wie auch mittels
einer beinahe unentwirrbaren Vermengung der Ebenen des
erzählinhaltlichen Geschehens und des Erzählvorgangs. Dadurch sind
den LeserInnen unvermerkt große, manchmal untragbare Anstrengungen
aufgebürdet. Sie entstehen zum einen aus dem hohen Maß an
Orientierungsschwierigkeit und zum anderen aus den damit
verbundenen psychodynamischen Affektübertragungen, die
unwillkürlich vom Autor über den Text auf die LeserInnen übertragen
und von diesen ausgehalten werden müssen. Das gilt umso mehr, wenn
die Intensität der Affekte – wie bei Walser – den Grad erreicht,
der dem Spektrum von projektiv-identifizierenden Angst-,
Aggressions- und Abwehraffekten entspricht, denn dies mag auch
Affektstärken wie die einer Angst vor einem psychotischen
Zusammenbruch mit einschließen.
In diesem Theorierahmen stellt Neukom die psychoaffektive
Interaktionsdynamik, die von Robert Walsers Text ausgeht, in
Analogie zu einer stark konflikthaft verlaufenden frühkindlichen
»Urszene«-Beziehung. Einer narzisstischen Selbstobjektbeziehung
vergleichbar, drängt dieses Beziehungsmuster unwillkürlich danach,
sich im Rapport zwischen Text und Leser zu wiederholen, was im
Grunde einen – wenngleich wenig aussichtsreichen – Versuch
darstellt, endlich eine lösende Bearbeitung des Konflikts zu
erfahren.
Durchweg plausibel ist auch Neukoms psycho-biografische
Schlussfolgerung, die jedoch erst ganz am Ende des Buches gezogen
wird und etwas undeutlich verbleibt. Denn die besonderen
Herausforderungen, die der Rapport zwischen Text und Leser
beinhaltet, sind bei diesem Schriftsteller insofern auch
biografisch absehbar, als Walser, wie man weiß, mit ernsthaften
psychopathologischen Lebensproblemen umzugehen hatte und sich
längere Zeiten mit psychotischen Symptomen in psychiatrischen
Kliniken befand. Weil nun Walsers psychische Bedrohtheit wie auch
die Bandbreite der dadurch bedingten psychischen und
interaktionalen Abwehrvorkehrungen unwillkürlich »ein Stück weit«
in seine Texte einging, kommt es mitunter zu jenen schwer
erträglichen Affektübertragungen auf den Leser. Umso begreiflicher
ist, dass die eine Hälfte von Neukoms empirischen LeserInnen den
Text irritiert und sogar entrüstet zurückwiesen, zumal wenn sie
nicht durch einen spezifischen Literaturenthusiasmus vorgeprägt
waren.
Dabei weist der Klinker Neukom entschieden diejenigen
philologischen Stimmen in die Schranken, die sich befugt glaubten,
die psychische Bedrohtheit Walser wenn nicht zu bestreiten, so doch
unangemessen zu relativieren. Denn diese Exegeten entsprechen einer
irreführenden geisteswissenschaftlichen Argumentationstradition,
die in Pierre Bertaux ihr wohl prominentestes Beispiel gefunden
hat. Bertaux nämlich legte die vielhundertseitig hergeleitete
Mutmaßung vor, der – ebenfalls von psychotischen Phänomenen
betroffene – Friedrich Hölderlin habe sich nur verrückt gestellt,
um der politischen Verfolgung zu entgehen.
In Neukoms Arbeit liegt somit ein schlüssiger und vor allem
handlungswissenschaftlich anschlussfähiger Beitrag zur Frage danach
vor, wie eine schwerwiegende psychoaffektive Bedrängnis im Feld der
ästhetischen Handlung zum Ausdruck finden kann und welche
individuellen und auch kollektiven, gruppendynamischen
Folgewirkungen und Bearbeitungsmöglichkeiten sich aus dergleichen
ästhetischen Handlungen ergeben können. In ihrer Verbindung des
psychoanalytischen Ansatzes mit dem Versuch, ein Verfahren der
qualitativ-empirischen Hypothesenprüfung einzubringen, nimmt die
Arbeit in der Literaturwissenschaft im Moment eine einzigartige und
jedenfalls aussichtsreiche Position ein.
Was Neukom auf dem Weg zu seiner so trefflichen Schlussfolgerung
kurzeitig ins methodische Straucheln gebracht hat, ist der
genaueren Erschließung durchaus wert. Denn die Arbeit befindet sich
an der Schnittstelle einer bisher weitgehend ungenutzten
Zukunftsperspektive der Geistes- und Kulturwissenschaften: dem Ort
der psychologisch versierten, handlungswissenschaftlichen Forschung
über ästhetische und mediale Interaktion.
Ein erster Faktor dieses Strauchelns wird meines Erachtens
deutlich, je genauer man in Betracht zieht, dass das, was Neukom an
konzeptioneller Hilfe seitens der Literaturwissenschaften
beigezogen hat, ihn in mindestens einer Hinsicht eher behinderte
als dass es ihm geholfen hätte. Indem er nämlich das Konzept des
dem Text impliziten Autors übernimmt – und dies scheint angesichts
der Lage der Theoriediskussion beinahe unvermeidlich -, lädt er
sich einige innergeisteswissenschaftliche Problemerbschaften auf,
die er eigentlich gar nicht zu verantworten hat und ganz gewiss
nicht nötig hätte. Die Einschätzung der Frage, wozu das Konzept des
impliziten Autors eigentlich nütze ist, auch die Überlegung, ob
nicht die wesentliche Funktion des »impliziten Autors« eine
eigentlich wissenschaftsstrategische gewesen ist und darin bestand,
den Philologien zu ermöglichen, weiterhin vom empirischen Autor wie
auch von den empirischen LeserInnen absehen und weiterhin
vorwiegend textwissenschaftlich und un-psychologisch bleiben zu
können – dergleichen Fragen bedürfen eines eigenen Ortes.
Mit Blick auf Neukoms Arbeit, die immerhin die empirischen
LeserInnen ansatzweise mit einbezogen hat, habe ich den Eindruck,
dass er ohne das Konzept des impliziten Autors wesentlich besser
gefahren wäre. Denn dieses zieht ihn zu sehr von der Person des
empirischen Autors ab. Zwar geht Neukom – wenngleich kurz und an
später, beinahe ausgelagert wirkender Stelle – auf die psychische
und lebensgeschichtliche Situation der Person Robert Walser ein.
Auch zieht er mitunter bereits in der Textanalyse den Schluss, dass
ein »Abgleiten in einen psychotischen Zustand« zu gewärtigen war.
Dies ist aber durchweg missverständlich auf den Erzähler bezogen;
dabei kann doch ein Erzähler nicht psychotisch werden, wohl aber
der Autor.
Die Ebenen des personalen Autors und der textuellen Erzählung sind
also noch nicht hinreichend miteinander integriert, ein Wunsch, den
man kaum an den psychologischen Promovierenden wird richten dürfen.
Denn sogar die Altmeister der psychoanalytischen Literaturtheorie
wussten ihn bisher nicht zu erfüllen oder auch nur als solchen zu
erkennen und operieren nach wie vor mit dem »impliziten Autor«.
Allerdings mag dieses Manko auch eine Ursache dafür sein, dass
Neukom etwas Wichtiges übersieht. Und diese Ausblendung hat
eventuell auch mit der Konzentration auf die Theorieebene der
Ödipalität zu tun – wodurch ein zweiter mutmaßlicher Faktor jenes
methodologischen Strauchelns angesprochen ist. Denn der Schwerpunkt
auf Ödipalitätsbegriffen setzt ein relativ hohes psychisches
Funktionsniveau voraus, was angesichts von borderlinen und der
psychotischen Phänomenen, mit denen bei Walser ja schon a priori zu
rechnen wäre, nur eingeschränkt hilfreich ist.
Des Weiteren mag Neukoms eher ödipalitätstheoretischer Fokus auch
dazu geführt haben, dass er das interaktionale und ästhetische
Potenzial von Walsers Text im ganzen doch sehr pessimistisch,
meines Erachtens zu pessimistisch einschätzt. Als ob er selbst noch
im Banne des großen Übertragungsdrucks dieser Erzählung stünde,
trifft Neukom die Feststellung, der Leser würde vor eine »unlösbare
Verarbeitungs- und Verstandesschwierigkeit« gestellt und sei ein
doppelt Ausgeschlossener. Das »Sprach- und Erzähllabyrinth« sei
zwar ein »kunstvoll gefertigtes«, nötige dem Leser aber ab, »zu
verstehen, was nicht zu verstehen ist«; und dieses Lesen käme
»einer Preisgabe an die Willkür und das Kontrollbedürfnis des
Erzählers« gleich. Gleichzeitig wäre auch der Erzähler selbst,
sowie »sein Produkt« – wessen Produkt eigentlich ist der Text? –
»und auch der implizite Autor, dazu prädestiniert, vernichtende
Kritik auf sich zu ziehen«. Eine scheinbar in jeder Hinsicht fatale
Interaktionssituation also!
Die ganz wesentliche andere Möglichkeit der interaktiven
Wirkungsdynamik eines solchen Textes, die hier übersehen worden
ist, hätte sich in nach-Freudianischer Perspektive leichter
erschließen lassen. Während nämlich der dunkle Unlösbarkeits-Gestus
von Neukoms Einschätzung offensichtlich der Freudschen
Ödipus-Theorie sowie den entsprechenden Theoremen von Urszene,
Kastration, Analität und Sadismus geschuldet ist, kommt mit dem
nach-Freudianischen bzw. präödipalen Theorem des therapeutischen
Containment eine weitere, hellere Verstehensalternative in den
Blick: Immer dort, wo die Affektübertragungen eine größere und
schwerer erträgliche Heftigkeit annehmen und borderline oder
prä-psychotische Intensitäten erreichen, ist der Therapeut
besonders gefordert. Denn diese Affekte müssen trotz allem
gutwillig aufgenommen und nach Kräften neutralisiert – d. h.
contained – werden. Sie müssen sozusagen einer emotionalen
Vorverdauung unterzogen und mental »entgiftet« werden, wie Wilfred
Bion, ein Psychoanalytiker und Kognitionstheoretiker aus Freuds
Zeiten, sagte. In der entgifteten Form können diese Affekte dann
ertragen und dem Patienten zurückvermittelt werden.
Nichts anderes, als der Wunsch nach einem solchen
psychotherapeutischen Containment wird den Erzähler bzw. den Autor
Robert Walser letztlich bewegt haben. Und nichts anderes auch mag
es vielleicht gewesen sein, was jener stattlichen Hälfte von
Neukoms empirischen LeserInnen zu tun gegeben war, die sich ja
keineswegs vor unlösbare Schwierigkeiten gestellt sahen, sondern
mehr als leidlich mit dem Text zurechtkamen.
Neukom sieht dies zwar nicht, scheint aber am Ende seines
einschlägigen Aufsatzes in der Zeitschrift »Psyche« eine Wendung
dahingehend gesucht zu haben – bei der ihm jedoch ein weiteres Bein
gestellt wird, das wiederum gleichermaßen literaturtheoretische wie
Freudianisches Aspekte hat. Nachdem er neben allen Wahrnehmungen
der Qual und Reibung des Walser-Lesens auch die Möglichkeit einer
lustvollen Lektüre erkennt, die er jedoch noch etwas ingrimmig als
ein Sich-schadlos-Halten bezeichnet, stößt er ausgerechnet auf den
– implizit immer mit Lacan verbundenen – Begriff des Begehrens.
Dies hat nun insofern eine fast tragische Note, als Neukom damit
dem wohl schillerndsten und das heißt: doppelbindensten Begriff in
die Arme läuft, den die Psychoanalyse zu bieten hat.
In Neukoms eminent aussichtsreicher und wichtiger
Arbeitsperspektive der interdisziplinären Literaturforschung
voranzukommen, wird also auch heißen, sich gegenüber bestimmten
Segmenten seiner zwei tragenden Theorieressourcen abzusetzen: zum
einen gegenüber der Literaturtheorie, die immer noch in erster
Linie Texttheorie ist und nicht auch psychologisch informierte
Handlungstheorie über AutorInnen und LeserInnen und ihr
interaktionales Zusammenwirken werden will; und zum anderen
gegenüber einer älteren, ödipalitätstheoretischen Psychoanalyse,
die auf Fragen des innerpsychischen Konflikts konzentriert ist und
darüber die Dimension des jeweiligen psychischen Strukturniveaus
eines mentalen Phänomens sowie der Beziehungs- und
Interaktionsmuster noch nicht genügend mit einbezieht.
Diesbezüglich gute Intuition beweist Neukom auch darin, dass er den
Begriff der Double-bind-Kommunikation aufnimmt, der ja ein
interaktionaler Begriff ist. Denn die Doppelbindung, die früher
einmal ein beinahe geflügeltes Wort war, ist heute kurioserweise
fast vollkommen aus den fachlichen Debatten und entsprechenden
Handbüchern verschwunden. Dabei ist das von der so genannte Palo
Alto Gruppe um den Kliniker und Schizophrenie-Forscher Gregory
Bateson ausgehende Konzept der Double-bind-Kommunikation in
Deutschland zuletzt noch von Thea Bauriedls so profunder
Beziehungsanalyse in elaborierter Weise aufgenommen und im Kontext
von Begriffen der Ambivalenz, Ambitendenz und psychischen
Abspaltung, auch der Manipulation und Macht, modelliert worden. Mit
Blick auf Neukoms Arbeit über den mitunter von schizophrenen
Zuständen betroffenen Robert Walser erinnert man sich daran, dass
die Double-bind-Kommunikation immer auch als möglicher
schizophrenogener Faktor diskutiert wurde. Hier bieten sich also
Möglichkeiten des wissenschaftlichen Anschlusses und der Konzeption
von weiteren Forschungsprojekten, denen der gesamte Bereich der
jüngern Untersuchungen über psychotische und borderline Formen der
Interaktion offen steht.
Trefflich ist auch Neukoms Zurückweisung derjenigen Stimmen in
Literaturbetrieb und -wissenschaft, die wie z. B. Dieter Borchmeyer
mit großem Enthusiasmus und postmoderner Inspiration goutieren, wie
sehr sich in Walsers Erzähltexten der Inhalt zugunsten der Form
auflöst und wie alles so schön ins Flottieren gerät. Man wird
Neukoms Verdacht gegenüber dem Literaturenthusiasmus einer älteren
Prägung vielleicht noch weiter und auch ethisch zuspitzen können:
Nicht nur nämlich wird in dieser emphatischen Inhaltsvergessenheit
mit jubilatorischem Affekt von wesentlichen Erlebnisgesichtspunkten
der dargestellten Szenen abgesehen. Die Form selbst wird bei weitem
unterschätzt, insofern weder ihre verfängliche Suggestivität und
Verstrickungskraft noch die sich in ihr indirekt ausdrückende
menschliche Not erkannt und erschlossen wird.
Ein – professioneller – Leser, der aus seiner Situation einer
relativ großen psychischen Stabilität heraus einzig die
Formauflösung des Textes wahrnimmt, mehr noch: der dieser
Formauflösung rein ästhetisch-geschmacklich huldigt, wird den in
sich gebrochenen, wortreich und namenlos verzweifelten Appell des
Autors an die Gemeinschaft seiner LeserInnen nicht erspüren; er
wird dem Wunsch nach einer trotz allem mental-resonanten,
empathischen Lesehaltung nicht erkennen. Demgegenüber gerät der
postmodern enthusiasmierte Leser dahin, nolens volens, und
sozusagen retraumatisierend, eher mit den fragmentierenden, ich-
und erzähl-gefährdenden Kräften zu paktieren als mit den lösenden –
um eines geschmacklichen, eventuell eigensüchtigen Kitzels willen.
Psychologisch gesprochen, versäumt dieser – professionelle – Leser
es, den Wunsch nach psychoaffektivem Containment wahrzunehmen,
wodurch er dem sich gänzlich verweigernden Leser durchaus ähnlich
wird. Und dabei bleibt freilich immer auch eine Möglichkeit der
gemeinsamen, gesellschaftlichen Bearbeitung der sich erzählenden
Not ungenutzt.
Alle Wissenschaft, die Literaturwissenschaft eingeschlossen, hat
immer auch ethische Aspekte; diese genauer zu fassen, könnte eine
nicht unwesentliche Nebenwirkung von interdisziplinärer,
handlungstheoretischer Kulturforschung sein.
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