Rezension zu Karl Abraham (PDF-E-Book)

www.socialnet.de

Rezension von Prof. Dr. Dr. Hans-Peter Heekerens

Karin Zienert-Eilts: Karl Abraham. Eine Biografie im Kontext der psychoanalytischen Bewegung

Thema
Mit dem vorliegenden Buch wird nach der unvollendet gebliebenen Biographie der Abraham-Tochter Hilda (Hildegard, Hilde) Abraham die erste Vollständigkeit beanspruchende Biographie des seit 1906 in Berlin als ersten deutschen und ersten in Deutschland tätigen Psychoanalytikers Karl Abraham (1877, Bremen – 1925, Berlin) vorgelegt. Er war Initiator für die 1908 erfolgte Gründung der Berliner Psychoanalytischen Vereinigung (eine der ältesten überhaupt) und er war sowohl der einzige deutsche Referent beim 1. Internationalen Psychoanalytischen Kongress 1908 in Salzburg als auch das einzige deutsche Mitglied des 1912 gegründeten (Geheimen) Komitees, Sigmund Freuds engstem Vertrautenkreis und »Schutztruppe«; der andere »Berliner«, Max Eitingon, der (erst) 1919 hinzukam, war Österreicher. Von einer kurzen Interimspräsidentschaft 1914 abgesehen, war Abraham von1924 bis zu seinem frühen Tod 1925 war Präsident der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPV), nachdem er zuvor unter dem Präsidenten Ernest Jones (London) seit 1922 als Zentralsekretär fungiert hatte. Diese Funktion nahm während seiner Präsidentschaft Eitingon ein, der sein Nachfolger als IVP-Präsident wurde (1925–1932); danach war niemals mehr ein Deutscher Präsident der IPV

Im Jahre 1920 wurde in Berlin durch Abraham und Eitingon die erste – oder nach der im Versuchsstadium stecken gebliebenen Budapester: die zweite - psychoanalytische Poliklinik unter dem Schirm der IPV eröffnet, deren Ausbau 1923 schließlich so weit war, dass es – nach dem nur 1919 bestehenden und faktisch nie »aktiv operierenden« Budapester Institut – das zweite und das erste dauerhaft bestehende psychoanalytische Ausbildungsinstitut der Welt im Rahmen der IPV war: das Berliner Psychoanalytische Institut (BPI) das seit 1970, dem Jahr, auf das man den 50. Jahrestag des BIP gelegt hat, zusätzlich den Namen Karl-Abraham-Institut trägt. Dieses ist heute (das einzige Berliner) Ausbildungsinstitut der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung (DPV). Am BPI wurde erstmals die dreigliedrige Ausbildung (theoretische Kurse, Lehranalyse, Behandlung erster Patienten unter Supervision/Kontrollanalyse) umgesetzt, die später weltweit zum Standard wurde.

Berlin war im dritten Jahrzehnt des letzten Jahrhunderts das Zentrum der psychoanalytischen Welt; Budapest und Wien hatten diese Rolle nicht mehr, London und New York noch nicht. »Berlin« ist hier auch (aber nicht nur) Chiffre für »Deutschland«. In den Jahren 1922 bis 1932 finden von den sechs internationalen Kongressen der IPV drei in Deutschland statt: 1922 in Berlin, 1925 in Homburg vor der Höhe, 1932 in Wiesbaden. In den seither verflossenen mehr als acht Jahrzehnten fand ein internationaler Kongress der IPV nur noch zwei Mal in Deutschland statt: 1985 in Hamburg und 2007 in Berlin.

Autorin
Die Diplom-Psychologin Karin Zienert-Eilts ist in privater Praxis in Berlin-Charlottenburg als Psychologische Psychotherapeutin tätig. Die Psychoanalytikerin ist Mitglied in der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft (DPG) und Dozentin am Psychoanalytischen Institut Berlin, einem der beiden Berliner DPG-Institute. Falls sie in Berlin ausgebildet wurde, dann jedenfalls nicht am BPI. Die hier bei manchen Leser(inne)n auftauchende Frage, weshalb es in Berlin (und Deutschland insgesamt) mit DPV und DPG zwei verschiedene nationale Mitgliedsgesellschaften gebe, kann hier nur mit einem kurzen Hinweis beantwortet werden: Das ist Folge von Auseinandersetzungen in der Berliner (und deutschen) Psychoanalytikerschaft nach Zusammenbruch des Hitler-Regimes (vgl. zu einer ersten Information den Wikipedia-Eintrag zum BIP).

Entstehungshintergrund
Man erfährt über die Entstehungsgeschichte des Buches von Seiten der Autorin nur, dass sie bereits 2008 und 2010 zwei kurze Beiträge zu Abraham vorgelegt hat (s. Bibliographie), über ihre Motivation aber, über Abraham zu arbeiten und eine so umfangreiche Biografie vorzulegen, erfährt man nichts Explizites. Als zentralen impliziten Beweggrund kann man ansehen: Die Autorin möchte Abraham »Gerechtigkeit« widerfahren lassen, was v.a. heißt, ihn zu verteidigen gegenüber – nach Wertung der Autorin ungerechtfertigten – Vorwürfen, die nicht nur von der zeitgenössischen Geschichtsschreibung, sondern von Freud selbst und vielen seiner psychoanalytischen Weggefährten vorgebracht wurden.

Aufbau und Inhalt
Nach einem vierseitigen Inhaltsverzeichnis, das mitunter bis auf die Seite genau gliedert, findet sich eine Einleitung von 15 Seiten. Dort werden die deutschsprachigen Veröffentlichungen sowohl der Werke Abrahams als auch dessen Korrespondenzen mit verschiedenen Mitgliedern der psychoanalytischen Bewegung aufgelistet, der eigene Ansatz beim Schreiben der Biographie dargelegt und eine ausführliche Inhaltsbeschreibung (9 Seiten) gegeben.

I. Biographische Übersicht (7 Seiten): ein – mit Bilddokumenten versehener – biographischer Überblick mit Nennung des Schrifttums, Markierung der wichtigsten »Beziehungsdefinitionen« in der jungen psychoanalytischen Bewegung und Skizzierung der Etablierung der Psychoanalyse in Berlin.

II. Ein Porträt (23 Seiten): Geboten wird eine auf Selbst- und Fremdzeugnissen beruhende Porträtskizze mit Ausführungen zu Freuds ambivalenter Haltung gegenüber Abraham einerseits und seiner Haltung im »Salzburger Konflikt« mit Carl G. Jung (1908) einer- und der »Rank-Krise« (1924) andererseits.

III. Die Jahre am Burghölzli 1904 bis 1907 (18 Seiten): Dargestellt werden Abrahams Jahre in der Direktorats-Ära (1898 – 1927) von Eugen Bleuler am Burghölzi in Zürich, der damals renommiertesten Klinik (zumindest) Europas unter dem Oberarzt Jung, durch den er mit Freuds Lehren bekannt wurde.

IV. Sigmund Freud und Karl Abraham – Eine wechselvolle Beziehung (55 Seiten): Der weitaus größte Teil des längsten Buchkapitels nimmt eine sorgfältige, sich mit der Literatur auseinander setzende, sich auf zahllose Briefe stützende und tief gehende Analyse der Beziehung zwischen Freud und Abraham ein. Das Hauptaugenmerk gilt neben der Psychodynamik der Beiden (sowie weiterer Beteiligter) deren charakteristische Beziehungsdynamik: »Von Beginn an bewegte sich die Beziehung dieser beiden Männer in Dreieckskonstellationen, die emotional mehr oder weniger hoch aufgeladen waren.« (S. 76) Diese Dreiecke sind: Abraham – Freud – Jung und Abraham – Freud – Wilhelm Fließ (beide ausgeführt im vorliegenden Kapitel), Abraham – Freud - Otto Rank (ausgeführt in Kapitel VII) und Abraham – Freud – Eitingon (ausgeführt in Kapitel VIII). Einflussfaktoren der Realwelt werden nur auf drei Seiten zur Sprache gebracht: Im 1. Weltkrieg muss Abraham zum Dienst nach Ostpreußen, Reisen ist fast unmöglich, Briefaustausch wird zunehmend schwieriger. Komplementär dazu wird Freuds Beziehung zu Sándor Ferenczi (Budapest) und Rank (Wien) intensiviert. Und dann gibt es da noch das durch einen Mäzen ermöglichte Projekt eines Internationalen Verlags für Psychoanalyse (gegründet 1919), der Wien und Budapest näher bringt, während Abraham im Nachkriegsberlin so wenig zum Leben für sich und seine Familie hat, dass er sich eine Reise nach Wien finanziell nicht leisten kann.

V. Das Komitee (25 Seiten): Detailliert und kenntnisreich wird die Geschichte des im Gefolge von Jungs »Abfall« auf Ferenczis Anregung (die Jones sogleich als die seine reklamiert) 1912 gegründeten (Geheimen) Komitees, seine innere Dynamik und die Rolle Abrahams, berufen auf Freuds Wunsch, darin beleuchtet. Das Komitee war eine neben den offiziellen und demokratisch legitimierten Institutionen der frühen psychoanalytischen Bewegung bestehende und einflussreiche Geheimorganisation (mit allen dafür typischen Merkmalen), die in Folge der »Rank-Krise« (s. Kap. VII) zerfiel.

VI Die »Angelegenheit Liebermann« – Ein Vorläufer der Rank-Krise (11 Seiten): Hier wird dargestellt, wie in der Berliner Psychoanalytischen Vereinigung (BPV; Vorsitzender: Abraham) und im Komitee umgegangen wird mit Schlampereien (das scheint mir der angemessene Ausdruck) des Schriftführers der BPV Hans Liebermann, der über Abraham zur BVP gekommen war. Dieses Kapitel illustriert sehr anschaulich, wie klein die Welt der organisierten Psychoanalyse noch Anfang der 1920er war, wie eng und vielfältig die einzelnen Akteure mit einander in gleichsam »familiärer« Weise verbunden waren und welche Loyalitätsbande bestanden (vgl. S. 158f). Als Rank 1920 in einem Rundbrief des Komitees Abraham in seiner Eigenschaft als Vorsitzender der BPV angesichts der Liebermannschen Schlampereien auffordert, »da Ordnung zu schaffen«, schlägt Abraham statt eines Personalwechsels vor, Anfragen an den Schriftführer der BPV möge man den Komitee-Briefen beilegen, die dann von einem der drei Berlinern (zu Abraham und Eitingon kam Hanns Sachs hinzu) beantwortet würden. Rank was not amused. Den Zwist mit ihm handelte sich Abraham aber gerne deshalb ein, um anderen aus dem Wege zu gehen; bei seiner Entscheidung dürfte ohne Zweifel eine Rolle gespielt haben, »dass zu dieser Zeit Liebermann bei Sachs, seine Frau bei Eitington in Analyse war« (S. 159).

VII. Karl Abrahams Rolle im Rank-Konflikt 1924 – Eine neue Perspektive (35 Seiten):
Hier beschreibt die Autorin, wiederum Abraham (insbesondere in seiner Beziehung zu Freud und Rank) ins Zentrum der Beobachtung rückend und ihn als ein Partner in einem Dreiecksspiel begreifend v.a. auf Grundlage vieler Briefe die Geschichte des »Rank-Konflikts«, einer schwierigen Passage auf dem Entwicklungspfad der Psychoanalyse und in dem Abraham früh »eine Wiederholung des Falles Jung« sah. Auf der Sachebene geht es sowohl um theoretische Fragen wie »Trauma der Geburt« (Rank) oder »Ödipuskomplex« (klassische Freudsche Lehrmeinung) wie um behandlungstechnische. Mehr als die Sach- interessiert die Autorin allerdings die Beziehungsebene: Aufgehellt werden sollen »der komplizierte Ablauf und das komplexe Geflecht der Reaktionen der einzelnen Komiteemitglieder untereinander wie auch auf den verschiedenen Kommunikationsebenen« (S. 177).

VIII. Karl Abraham und Max Eitingon – Eine wenig beleuchtete Rivalität (33 Seiten): Kentnis- und detailreich skizziert die Autorin die seit Burghölzli-Zeiten bestehende und bis zum Tode Abrahams bestehende intensive, nur während der Kriegsjahre im Kontakt geminderte Beziehung zwischen den beiden Männern, wobei sie auch auf den – ihrer Ansicht nach – in der bisherigen Forschung vernachlässigten Aspekt deren Rivalität eingeht. Eine Rivalität, die mit Abrahams Tod übrigens keineswegs endet, sondern sich in stärkerer und offenerer Weise in Eitingons Handeln und Verhalten zeigt. Und natürlich wird auch hier Freud als »der dritte im Bunde« in Augenschein genommen.

IX. 1925: Verschlechterung der Beziehung mit Freud, Krankheit und Tod (40 Seiten): Dieses Kapitel betrachtet die Jahre 1924–1925, von Ranks Rückkehr zu Freud bis zu den Nachwehen des Todes Abrahams im Dezember 1925. Er starb an einer Infektion, die man heute mit Antibiotika sicher bekämpfen kann. Dies ist das eine Tragische, und das andere besteht darin, dass der Tod Abraham ereilt, als er mit Freud wegen eines Filmprojekts über die Psychoanalyse im – »Geheimnisse einer Seele« (vgl. zur Erstinformation den Wikipedia-Eintrag) – Konflikt steht.

X. Das aktuelle Abraham-Bild in Deutschland (13 Seiten): In einer kleinteiligen Analyse wird dargelegt, was die Autorin so zusammenfasst: »In dem überwiegend positiven Abraham-Bild im Deutschland des vorigen Jahrhunderts wird einseitig die positive Einstellung Freuds zu Abraham unter weitgehender Auslassung der Konflikte und negativen Seiten tradiert, während seit der Jahrtausendwende im deutschsprachigen Raum überwiegend Freuds negative Einstellung unter Vernachlässigung der positiven Seite übernommen und dargestellt wird.« (S. 290)

XI. Anhang (6 Seiten): darunter eine Ahnentafel sowie das Schicksal der Abrahams nach Karls Tod

XII. Dokumentenanhang (36 Seiten): mit bedeutsamen Briefen

XIII. Danksagung (2 Seiten): an Institutionen und Personen, einige davon bereits verstorben, für Diskussionen, Hinweise, Interviews und Überlassung von Materialien

XIV. Abkürzungen (2 Seiten): sehr hilfreich.

XV. Abbildungsverzeichnis (1 Seite)

XVI. Bibliographie (12 Seiten) nach wissenschaftlichen Standards

Diskussion
Die vorliegende Biographie ist eine im Sinne einer geschichtswissenschaftlichen Darstellungsform, also nicht etwa ein biographischer Roman. Geschrieben wurde sie allerdings nicht von einer Fachhistorikerin, sondern einer Psychologin und Psychoanalytikerin. Das heißt nicht, die Autorin hätte keine Kenntnis vom »Werkzeug des Historikers« (Ahasver von Brandt), es erklärt aber, weshalb die Darstellung sehr viel häufiger, als dies bei »klassischen« Historiker(innen) selbst im Falle einer Biographie der Fall ist, durch psychologische, häufig klinisch-psychologische Deutungsmuster geprägt ist. Dabei fällt als Besonderheit auf, dass die Autorin nahezu durchgängig »in Dreiecken« denkt, wie das der neuzeitlichen Psychologie und Psychotherapie ja nicht fremd ist.

Dieses »Dreiecksdenken« als grundlegender methodischer Ansatz hat einen schwerlich zu unterschätzendem Vorteil. Aussagen (etwa in einem Brief zu findende) werden auf der Sachebene (etwa die Charakterisierung einer Person) nicht als bare Münze genommen, sondern darauf hin überprüft, inwiefern dies eine Beziehungsdefinition zu der angesprochenen Person und zugleich eine zu einer abwesenden dritten Person enthält. Die moderne Kommunikationstheorie, in Deutschland rezipiert etwa von der Systemischen Therapie, hat uns ein solches Denken – mit Erfolg und folgenreich – gelehrt. Für die bei der historischen Analyse leitende Frage, was »wahr« ist, wird durch In-Rechnung-Stellung der doppelten Beziehungsanalyse die Einschätzung, welche Sachaussage denn nun welchen Wahrheitsgehalt habe, deutlich verbessert – sie wird »valider« oder »belastungsfähiger«.

Die vorliegende Biographie ist »quellengesättigt«; vor dem Leser wird vielfältiges Material aus einer Unzahl von historischen Quellen, hier oft zum ersten Mal ausgewertet und manchmal erst von der Autorin erschlossen, ausgebreitet; »Fleißarbeit« wäre ein zutreffender Begriff, hätte er nicht eine so negative Konnotation (bekommen). Auf dieser Basis unternimmt sie in Auseinandersetzung mit Darstellungen, Deutungen und Bewertungen anderer – in der Regel ebenfalls psychoanalytischer -Autor(inn)en den Versuch, ein »wahres« Bild von Abraham als bedeutendem Mitglied der frühen psychoanalytischen Bewegung zu zeichnen. Der kann, bei aller Kritik im Detail (s.u.), als gelungen angesehen werden, und dem Bemühen darum gilt der volle Respekt des Rezensenten, weil die Autorin die vorliegende Arbeit offensichtlich in ihrer Freizeit und ohne Blick auf eine »akademische Belohnung« (wie es bei einer Dissertation der Fall wäre) bewerkstelligt hat.

Die bewundernswerte Akribie, mit der die Autorin gearbeitet hat, hat sich in einer sehr in die Details gehende Darstellungsweise niedergeschlagen. Das erfordert von den Leser(inne)n ein hohes Maß an Konzentration und langen Atem. Und es gibt eine zweite Besonderheit des Buches, die beim Lesen Mühe macht. Es ist nicht streng chronologisch aufgebaut, sondern behandelt in gesonderten Kapiteln bestimmte Sachthemen, die zwar im Kern in einer Abfolge stehen, aber jeweils zeitliche Überschneidungen aufweisen. Daher kommt es zu vielen Vor- und Rückverweisen sowie zu Wiederholungen. So werden etwa die Reaktionen auf Abrahams Tod und die Nachfolgeregelung sowohl auf den Seiten 232–235 als auch auf den Seiten 270–278 dargestellt.

Es gibt im ganzen Buch sehr wenig sachliches Unrichtiges, also Falsches. Eines der wenigen sei in Zeiten der Krim-Krise, da die Sensibilität für territoriale Grenzen, die das Ethnische berühren, geschärft ist, genannt: Das Komitee-Treffen im August 1923 fand nicht »in Südtirol« statt; die Orte San Cristoforo (al Lago) und Lavarone lagen schon immer – selbst »Welschtirol« hatte 1919 aufgehört zu existieren – und liegen noch heute im durch Sprache und Ethnie von Südtirol klar abgegrenzten Trentino.

Es gibt in dem Buch Lücken. Und das selbst innerhalb des von der Autorin gesteckten Rahmens. So schildert sie das Verhältnis zwischen Abraham und Eitingon während derer gemeinsamen Burghölzli-Zeit als eine von völlig ungetrübter Freundschaft (S. 207). Auf S. 70 aber hat die Autorin den Ausschnitt eines Briefes aus dem Juli 1908 von Abraham an Freud wiedergegeben, in dem er die Burghölzli-Mitarbeiter daraufhin taxiert, ob sie »Freuds Mannen« sein könnten. Zu Eitingon heißt es: »Eitingon ist zur aktiven Mitarbeit wohl kaum geeignet, obwohl er das beste Verständnis hat«. Der erste Teil des Satzes kann ja wohl schwerlich anders denn als Geringschätzung verstanden werden. Eine Geringschätzung, die auch Jung teilte. Der hatte in einem Brief an Freud vom September 1907 über Eitingon, nachdem er ihn zuvor gar als »kraftlosen Schwätzer« bezeichnet hatte, gesagt »Etwas Tüchtiges wird er gewiß nie leisten, vielleicht wird er einmal Duma-Abgeordneter« (zitiert nach S. 67-68, Anm. 63). Mit solcher Ein- respektive Geringschätzung dürften die beiden nicht alleine dagestanden sein. Der Psychoanalyse-Historiker Ernst Falzeder (2008, S. 5) charakterisiert den Eitingon, der sich auf den Weg zu Freud in Wien macht (s.u.) als »stotternden jungen Russen«. Sollen wir uns vorstellen, solche Ab- und Bewertungen durch die soziale Bezugsgruppe seien dem jungen Eitington verborgen geblieben? Und dürfen, ja müssen wir nicht annehmen, solch frühe Demütigung auch durch Abraham sei ein wesentlicher Grund der späteren Rivalität zwischen den Beiden?

Zu deren Burghölzli-Zeit erwähnt die Autorin auch nicht, dass Eitingon vor Abraham, ja schon vor Jung Kontakt zu Freud aufgenommen hatte und bei ihm als erster Burghölzli-Arzt in Wien war. Muss man diesen Umstand nicht mit bedenken, wenn man verständlich machen will, weshalb Eitingon in späteren Jahre systematisch – und damit Abraham mehr als einmal düpierend – eine Sonderbeziehung zu Freud pflegt – vorbei nicht nur an den offiziellen Organisationsstrukturen der Psychoanalyse, sondern vorbei auch am Komitee? Für Eitingon war der mehrtägige Wien-Besuch, bei dem er auch zur Psychologischen Mittwochs-Gesellschaft eingeladen war, bis in die Details jahrzehntelang in Erinnerung; seine Jerusalemer Rede zum 81. Geburtstag Freuds im Jahre 1937 vor der Psychoanalytische Vereinigung Palästinas (nachzulesen unter http://archive.org/stream/) führt das eindrücklich vor Augen.

Eine zweite vergleichbare Lücke sieht der Rezensent darin, dass die Autorin in ihrer Darstellung der Publikationen von und über Abraham nicht erwähnt, dass (bereits) im Jahre 1927 in der von Jones herausgegebenen International Psycho-Analytic Library als 13. Werk die »Selected Papers of Karl Abraham, M.D«“ (einsehbar unter https://archive.org/details) erschienen waren; nicht enthalten in den Selected Papers waren »Traum und Mythus« (1909), weil es bereits auf Englisch vorlag, und seine Studie über Amenhotep IV (1912), da sie den Rahmen gesprengt hätte. In seinem 33-seitigen Introductory Memoir erklärt er, wie Abrahams Schriften zu lesen seien. Mit der Buchpublikation selbst und diesem Vorwort stilisiert er sich als wahrer Erbe Abrahams – und als Wahrer der »wahren« Freudschen Lehre. Und als solcher kann er sich auch nach außen zeigen, nachdem die Nazis die mächtige Stellung Berlin und Deutschlands in der psychoanalytischen Welt zerstört hatten. Schauen wir mit dem heutigen Wissen über Jones´ spätere Macht auf jenes Buch zurück und lassen den Blick weiter schweifen über die Jahre zuvor, dann dürfen wir die Beziehung zwischen den beiden Männern doch mit etwas anderen Augen sehen, als dies in vorliegendem Buche geschehen ist. Sie waren sich in Geist und Charakter ähnlicher und sich dieser Seelenverwandtschaft bewusster, als dies im Buch aufscheint.

Ein Anderes. Manchmal macht die Autorin Ausführungen, die den Rezensenten in fragendes Grübeln bringen. So erwähnt sie auf S. 44, auch Abraham habe Gebrauch gemacht von Pathologisierung sog. Abweichler (wie etwa Rank) – dies wie alle Psychoanalytiker der »Frühzeit«. Wann endet für die Autorin denn diese »Frühzeit«? Im Jahre 1957 schreibt Jones, damals in der Welt der Psychoanalyse gleichsam in „päpstlicher“ Position, in seiner Freud-Biographie über Ferenczi und Rank: »Bei beiden entwickelten sich psychotische Erscheinungen, die sich unter anderem darin äußerten, daß sie sich von Freud und seinen Lehren abwandten.« (Jones, 1984, S. 62) Die erste deutschsprachige Übersetzung dieser Freud-Biographie erschien 1962 und wurde dem Rezensenten zu Heidelberger Studienzeiten noch Ende der 1960er faktisch als »offizielle Geschichtsschreibung der Psychoanalyse« vorgestellt.

Zum Grübeln Anlass gibt auch folgende These der Autorin: »Fast alle Psychoanalytiker der ersten Stunde, die später wichtige Beiträge zur Entwicklung der Psychoanalyse liefern oder zum engsten Freud-Kreis gehören sollten, kamen über Zürich, die meisten davon direkt über Jung, zu Freud.« (S. 79) Kann man das wirklich so sagen? Dem Komitee etwa gehörten insgesamt sieben Personen an: Abraham, Eitingon, Ferenczi, Anton von Freund, Jones, Rank und Hanns Sachs; Nur drei von ihnen »kamen über Zürich«: Abraham, Eitingon und Ferenczi. Oder nehmen wir die Referentenliste des 1. Internationalen Kongress 1908 in Salzburg in den Blick: Von den neun Referenten nur vier, Abraham, Ferenczi, Jung und Franz Riklin, als »Zürcher« zu bezeichnen. Von »fast allen« möchte man da ungern reden, selbst wenn man zu den »Zürchern« noch Abraham Brill, der (weil in den USA praktizierend) weder in Salzburg 1908 dabei noch im Komitee war.

Ferner drängt sich manchmal der Eindruck auf, die Autorin sei so sehr »verliebt« in das »Denken in Dreiecken«, dass ihr außerhalb eines solchen Dreiecks Liegendes nicht in den Blick gerät. Zur Veranschaulichung wähle ich das »Dreieck« Abraham – Jung – Freud anlässlich und im Gefolge des Salzburger Kongresses 1908. In der Darstellung der Autorin wird nicht deutlich, dass Freuds Verstimmung über Abrahams Vortrag nicht nur, ja nicht einmal vorrangig aus der Furcht herrührte, dadurch könne Jung verprellt sein. Nicht verprellt werden durfte ein anderer »Zürcher« und der saß auf Einladung Freuds unter den Zuhörern: Eugen Bleuler, der sich in die Annalen der Psychiatrie eingeschrieben hatte mit dem nur drei Tage zuvor in einer Sitzung des Deutschen Vereins für Psychiatrie erstmals öffentlich vorgestellten Konzept der »Schizophrenie« (vgl. http://ajp.psychiatryonline.org), durch welches das Kraepelinsche Konzept der Dementia praecox ersetzt werden sollte.

Um ihn, Bleuler, nicht um Jung, dessen Mitarbeiter ging es Freud in Salzburg 1908. Falzeder (2008) hat das in seinem Vortrag aus Anlass der 100-Jahr-Feier von Salzburg 1908 überzeugend dargelegt. Ich zitiere aus dem (nicht mit Seitenzahlen versehenen) Manuskript nur zwei erhellende Passagen. Zunächst zur Ausgangslage vor dem Kongress: »Für Freud war Bleuler von unschätzbarem Wert in seiner Absicht, in etablierten akademischen Kreisen anerkannt zu werden, einen Fuß in die Tür der deutschsprachigen Psychiatrie zu gewinnen, ja die Psychiatrie zu ›erobern‹, wie er an Bleuler schrieb (30.1.1907; in Bleuler, 1906-07, S. 21), sowie die ›Gefahr‹ von der Psychoanalyse abzuwenden, ›eine jüdisch nationale Angelegenheit zu werden‹ (Freud & Abraham, 1965, S. 47)«. Und zum Salzburger Kongress selbst: »Dieses Treffen verstärkte noch die Beziehungen mit Zürich. Paul Klemperer aus Wien, einer der Teilnehmer, erinnerte sich: ›Bleuler wurde sehr, sehr gefeiert. […] Ich erinnere mich, wie sehr sich Freud freute, daß Bleuler kam. Jeder wurde Bleuler vorgestellt, und er war der Mittelpunkt des Kongresses‹ (Klemperer Interview, LC). Daß die Veranstaltung zu einem großen Teil darauf angelegt war, die Unterstützung Bleulers und des Burghölzli zu gewinnen, geht auch aus Sadgers Memoiren hervor: ›Vor dem Kongresse hatte Freud seine Wiener Garde gebeten, ihn, ehe er gesprochen, möglichst wenig zu stören. Mit gutem Grunde. Galt es doch, mit anderen Worten, die Schweizer zu gewinnen, vor allem den ambivalenten Bleuler‹ (Sadger, 2006, S. 36). Dies gelang glänzend.«

Schließlich gilt es noch etwas zu sagen, zu dem besonderen historischen Blick der Autorin. Er ist ein wesentlich psycho-, gruppen- und familiendynamischer; »familiendynamisch« deshalb, weil die frühe psychoanalytische Bewegung doch stark geprägt ist von der »Brüderrivalität« (ja, es sind anfänglich ausschließlich Männer) um den »Vater« (Freud). Diese Art von Blick ist angemessen, denn bei allem, was es in der frühen psychoanalytischen Bewegung auf der Sachebene zu verhandeln gilt, ist die Beziehungsebene mit der Sachebene in stärkster Weise verwoben. Der besondere Blick der Autorin erlaubt uns eine äußerst intime Einsicht in die doch kleine Welt der frühen Psychoanalyse, die stets nicht nur von außen, sondern auch von innen gefährdet erscheint. Der Nachteil eines solchen Blicks ist der, dass »äußere« Faktoren, wie sie in der »klassischen« Geschichtsschreibung auch zur Erklärung und zum Verstehen heran gezogen werden, entweder außerhalb des Gesichtsfeldes bleiben oder aber, wenn in Augenschein genommen, als Einflussfaktoren gering gewichtet werden. Wollte man dies an allen Punkten der Darstellung zeigen, geriete die Rezension zum Koreferat. Daher zur Illustration nur drei Schlaglichter.

Das erste: Die 1923 verabschiedeten Ausbildungsrichtlinien des Berliner Psychoanalytischen Instituts sahen vor, dass nur medizinisch vorgebildete Personen, die zudem eine psychiatrisch-neurologische Zusatzausbildung absolviert hatten, zur Ausbildung als Psychoanalytiker(in) zugelassen werden; die Autorin hätte nach diesen Vorschriften in Berlin nicht Psychoanalytikerin werden können. Wie muss diese »Äußerlichkeit« in Gestalt von Zulassungsbestimmungen gewirkt haben auf den »Laienanalytiker« Rank, wie auf Ferenczi (der für die Laienanalyse war), wie auf Freud und was bedeutete all dies für die Beziehung zwischen den Berlin auf der einen und Budapest–Wien? Die Autorin sagt zu alledem nichts. Wie scharf sich Freud selbst gegen eine solche Zulassungsbestimmung wandte, möge ein einziger Satz aus seiner (Streit-)Schrift »Die Frage der Laienanalyse« von 1926 (einsehbar – ohne Seitenzählung – unter http://gutenberg.spiegel.de/buch/928/1) illustrieren: »Hier kommt in erster Linie in Betracht, daß der Arzt in der medizinischen Schule eine Ausbildung erfahren hat, die ungefähr das Gegenteil von dem ist, was er als Vorbereitung zur Psychoanalyse brauchen würde.«

Für die folgenden zwei Schlaglichter wird nachfolgend aus dem Korrespondenzblatt der IPV zitiert (für die Jahre 1910 – 1941 einzusehen unter http://www.luzifer-amor.de/fileadmin/bilder/Downloads/korrespondenzblatt_1910-1941.pdf). Im Juli 1919 verkündet dort der IVP-Präsident Ferenczi, Budapest: »Infolge der schwierigen Verbindung mit der gegenwärtigen Zentralleitung in Budapest übernimmt die Zweigvereinigung Wien in der Person ihres Vorsitzenden Prof. Dr. Freud und ihres Sekretärs Dr. Otto Rank vorübergehend die Führung der Angelegenheiten der ›Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung‹ und wird nach Tunlichkeit die Verbindung mit der Zentralleitung aufrechterhalten.« (S. 217) Schon im Oktober desselben Jahres aber ist diese Lösung Makulatur und wird durch eine andere ersetzt (Korrespondenzblatt, S. 222-223): »Da aber auch Wien von den Verkehrsstörungen, die mich zur Verlegung des Präsidiumssitzes veranlaßt haben, nicht ganz frei blieb, mußte ich mich zu einer radikaleren Lösung entschließen, wollte ich nicht, daß wichtige Vereinsinteressen infolge dieser Verhältnisse geschädigt werden. Ich übertrug darum bei einem vorübergehenden Aufenthalt in Wien dem daselbst anwesenden Vorstand der englischen Ortsgruppe, Dr. Ernest Jones in London W 1 (111 Harley Street), interimistisch die Zentralleitung der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung mit dem Ersuchen, aus den Mitgliedern seiner Gruppe einen Sekretär zu wählen. Jones nahm die Betrauung an und bestimmte den Dozenten für Psychologie John Carl Flügel in London NW 11 Albert Road zum Zentralsekretär.« Eine der ersten Amtshandlungen des Interims-Präsidenten Jones – von 1920 bis 1924 wird er »offizieller IVP-Präsident« sein – ist die (Erst-)Unterzeichnung eines noch 1919 im Korrespondenzblatt (S. 227–228) veröffentlichten »Aufrufs für die Kinder der vom Hunger heimgesuchten Länder«, aus dem nur ein Satz zitiert sei: »Das Hungerelend hat in mehreren Ländern, besonders in Wien, einen entsetzlichen, die gesamte Kultur bedrohenden Grad erreicht, über dessen erschütternde Einzelheiten wir uns hier nicht näher auszusprechen haben.«

Der historische Hintergrund der vorstehenden Ausführungen war den zeitgenössischen Leser(inne)n klar. Die k.u.k-Monarchie und das Deutsche Reich hatten den 1. Weltkrieg verloren, die Gebietsverluste, die später in den drei separaten Friedensverträgen festgeschrieben wurden, waren für Österreich und Ungarn, die damit für immer ihre Seehäfen verloren, noch größer und in ihren materiellen Folgewirkungen, wozu auch die Versorgung mit Lebensmitteln zählt, noch verheerender als für Deutschland. In allen drei Ländern gab es nach den jeweiligen Waffenstillständen bewaffnete Auseinandersetzungen, mangelhafte öffentliche Verwaltung und einen schwachen Staat. Auch Berlin, immerhin besser davongekommen als Budapest und Wien, stand schlecht da; Abraham musste in den ersten Jahren nach dem Krieg hart um seine Existenz und die Sicherung der Familie kämpfen – als IPV-Interimspräsident kam der Berliner also nicht in Frage. Der auf Seite der Weltkriegssieger stehende Waliser Jones, aus wohlhabenden Verhältnissen stammend und seit Kriegsende Arzt im sicheren London war die einzig richtige Wahl. Wenn man sich all diese vergegenwärtigt, dann stellt sich doch die Frage: Welche Folgen hat denn der 1. Weltkrieg und seine für die Heimatländer der Komitee-Mitglieder, um uns darauf zu konzentrieren, für die Psyche des Londoners, der Berliner, der Wiener, des Budapesters und deren Beziehungsdynamik? Antworten darauf vermisst man im vorliegenden Buch.

Das zweite Schlaglicht. Am 20.1.1920 war von Freund, der neben Eitingon zweite große finanzielle Förderer der jungen Psychoanalyse, gestorben. Aus dem im Korrespondenzblatt (S. 230) veröffentlichtem Nachruf von Redaktion und Herausgeber der Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse zitiere ich die abschließenden Passagen: »Während der Kriegsjahre hatte er eine damals sehr beträchtliche Summe, mehr als 1½ Millionen Kronen, für humanitäre Zwecke der Stadt Budapest gesammelt. Diesen Betrag bestimmte er nun im Einvernehmen mit dem damaligen Bürgermeister Dr. Stephan v. Bárczy für die Gründung eines psychoanalytischen Instituts in Budapest, in dem die Analyse gepflegt, gelehrt und dem Volke zugänglich gemacht werden sollte. Es bestand die Absicht, daselbst in größerer Zahl Ärzte zur psychoanalytischen Praxis auszubilden, die dann von der Anstalt für die Behandlung der armen Neurotiker aus dem Ambulatorium zu honorieren wären. Außerdem wäre das Institut ein Mittelpunkt für die wissenschaftliche Fortbildung in der Analyse geworden. Dr. Ferenczi war zum wissenschaftlichen Leiter der Anstalt bestimmt, v. Freund selbst hätte seine Organisation und Erhaltung übernommen. Einen entsprechend kleineren Betrag übergab der Stifter Prof. Freud zur Gründung eines Internationalen Psychoanalytischen Verlags. Aber ›Was sind Hoffnungen, was sind Entwürfe, die der Mensch, der vergängliche, baut?‹ v. Freunds vorzeitiger Tod hat diesen menschenfreundlichen und für die Wissenschaft so hoffnungsvollen Plänen ein Ende gesetzt. Obwohl der von ihm gesammelte Fonds noch vorhanden ist, läßt doch die Haltung der gegenwärtigen Machthaber in der ungarischen Hauptstadt die Verwirklichung seiner Absichten nicht erwarten. Nur der psychoanalytische Verlag ist in Wien ins Leben getreten. Das Beispiel, das der Verstorbene geben wollte, hat trotzdem bereits seine Wirkung geübt. Wenige Wochen nach seinem Tode ist in Berlin dank der Energie und Liberalität von Dr. Max Eitingon die erste psychoanalytische Poliklinik eröffnet worden. So findet Freunds Werk Fortsetzer, seine Person bleibt unersetzlich und unvergeßlich.«

Berlin beerbt 1920 Budapest; und das (nur) dank des Verhaltens der dortigen »gegenwärtigen Machthaber«. Wer die aber sind, kann man vorliegendem Buch nicht entnehmen. Dahinter verbirgt sich das präfaschistische und dezidiert antisemitische Regime Miklós Horthys, das 1920 die Macht ergriffen hat. Dieses Regime lässt seine Truppen im 2. Weltkrieg an der Seite der Hitler-Armee Jugoslawien und die Sowjetunion überfallen. Seit dessen Machtergreifung verlassen viele Psychoanalytiker(innen) Ungarn, kehren nicht mehr dorthin zurück (wie etwa Melanie Klein) oder gehen, obschon sie das früher beabsichtigt hatten, nicht dort hin. Die alternative Adresse zu Budapest ist oft, wenn nicht zumeist Berlin. Und das alles soll sich nicht auf die Berliner, das Budapester und die mit ihm im zerschlagenen »Projekt Budapest« eng verbundenen Wiener Mitglieder des Komitees sowie auf Freud selbst ausgewirkt und deren zukünftige Beziehungsdynamik beeinflusst haben? Das Buch vermittelt diesen Eindruck – durch Auslassung.

Wie sehr Ferenczi selbst be- und getroffen wurde, sei zum Abschluss skizziert. Im Korrespondenzblatt (S. 215) ist 1919 zu lesen: »Dr. S. Ferenczi, der gegenwärtige Zentralpräsident der ›I. Ps.-A. V.‹, wurde von der ungarischen Räteregierung zu einer der ordentlichen Professur gleichwertigen Stellung an der Universität Budapest berufen und hält bereits im laufenden Sommersemester vor einem sehr zahlreichen Auditorium ein dreistündiges Kolleg über ›Psychoanalytische Psychologie für Ärzte‹.« Das rechte Regime annulliert 1920 die Berufung kurz nach der Machtergreifung. Mehr noch: Auf Druck der neuen Machthaber wurde Ferenczi aus der Ärztekammer ausgeschlossen und aller öffentlichen Ämter enthoben; er konnte danach nur noch »geduldet« in privater Praxis arbeiten.

Ein Nachtrag noch. Die Autorin hat in ihrer Einleitung zu vorliegendem Buch erklärt, sie ginge »nicht detaillierter auf das theoretische Werk Karl Abrahams, dessen Implikationen und spätere Weiterentwicklungen« (S. 14) ein, dies bliebe »einer nächsten Arbeit vorbehalten« (ebd.). Im April 2010 hat Wolfgang Mertens (2010) aus Anlass der Veröffentlichung des Freud-Abraham-Briefwechsels in Salzburg unter dem Titel »Karl Abrahams klinische Entdeckungen – 85 Jahre später« einen Vortrag gehalten, in dem es galt, »ein paar Worte zu Abrahams Publikationen und zu der Einschätzung vorzutragen, ob seine Arbeiten heutzutage noch wahrgenommen werden und wenn ja, in welcher Form dies geschieht« (S. 1). Mertens macht dabei auf den Punkt aufmerksam, dass Abraham etwa im Vergleich mit Ferenczi, der seinen Nachhall hat in den »relationalen und intersubjektiven Psychoanalytikern, deren Einfluss auf die Behandlungstechnik heutzutage immer stärker wird« (ebd.), doch eher für eine (zunehmend als überholt geltende) »one body psychology« (ebd.) stehe. So lange hier nicht eine von verschiedener Seite (etwa Falzeder & Hermanns, 2009; Nitzschke, 2011) geforderte Neueinschätzung der theoretischen Arbeiten Abrahams erfolgt sein wird, dürfte er weiterhin etwas im Schatten stehen.

Fazit
Den Psychoanalytiker(inne)n in Deutschland muss man das vorliegende Buch nicht eigens empfehlen; das dürften andere tun oder schon getan haben. Empfohlen sei das Buch aber allen Psychotherapeut(inn)en anderer »Schulrichtungen«, Klinischen Psycholog(inn)en und Klinischen Sozialarbeiter(inne)n, sofern sie an der Geschichte der Psychotherapie in Deutschland und/oder an der frühen psychoanalytischen Bewegung hierzulande und Europa nicht gänzlich desinteressiert sind. In den Ausbildungsstätten vorgenannter Gruppen, seien sie nun an der Hochschule oder außerhalb derselben, sollte das vorliegende Buch seinen Platz und die gebührende Beachtung bei der Ausbildung haben.

Ergänzende Literaturnachweise
Falzeder, E. (2008). Die geplante Eroberung der Psychiatrie. Das Burghölzli und Freud. Vortrag, gehalten am Treffen „Aus den Anfängen der Institutionalisierung der Psychoanalyse“ aus Anlaß der 100-Jahr-Feier des ersten internationalen psychoanalytischen Treffens Salzburg, Hotel Bristol, 26. April 2008 (das Ms kann beim Rezensenten angefordert werden).
Falzeder, E. (2010). Die Gründungsgeschichte der IPV und der Berliner Ortsgruppe. Psyche, 64, 1110-1133.
Falzeder, E. & und Hermanns, L. M. (Hrsg.) (2009). Sigmund Freud & Karl Abraham: Briefwechsel 1907-1925. Vollständige Ausgabe. 2 Bde. Wien: Turia + Kant.
Jones, E. (1984). Sigmund Freud: Leben und Werk Bd. III. München: dtv (englischsprachiges Original 1957; erste deutschsprachige Übersetzung 1962).
Mertens, W. (2010). Karl Abrahams klinische Entdeckungen – 85 Jahre später. SAP-Zeitung Nr. 17, August 2010 (http://www.psychoanalyse-salzburg.com/sap_zeitung/pdf/MertensHeft17.pdf).
Nitzschke, B. (2011). Besprechung von Falzeder, E. & und & Hermanns, L. M. (Hrsg.) (2009). Sigmund Freud & Karl Abraham: Briefwechsel 1907-1925. Vollständige Ausgabe. 2 Bde. Wien: Turia + Kant (www.werkblatt.at/nitzschke).
Schröter, M. (1996). Zur Frühgeschichte der Laienanalyse. Strukturen eines Kernkonflikts der Freud-Schule. Psyche, 50, 1127-1175.

Rezensent
Prof. Dr. Dr. Hans-Peter Heekerens
Hochschullehrer für Sozialarbeit/Sozialpädagogik und Pädagogik an der Hochschule München

Zitiervorschlag
Hans-Peter Heekerens. Rezension vom 05.05.2014 zu: Karin Zienert-Eilts: Karl Abraham. Eine Biografie im Kontext der [...]. Psychosozial-Verlag (Gießen) 2013. 352 Seiten. ISBN 978-3-8379-2291-2. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, http://www.socialnet.de/rezensionen/16718.php, Datum des Zugriffs 05.05.2014.

www.socialnet.de

zurück zum Titel