Rezension zu Karl Abraham
Literaturkritik.de Nr. 3 März 2014
Rezension von Galina Hristeva
Wie die Perlen einer Kette
Die Berliner Psychoanalytikerin Karin Zienert-Eilts untersucht das
Leben Karl Abrahams im Licht der Konflikte der psychoanalytischen
Bewegung
Von Galina Hristeva
War Karl Abraham (1877-1925) – »der erste Psychoanalytiker in
Deutschland«, Begründer der Berliner Psychoanalytischen Vereinigung
(BPV) und im Zeitraum 1914–1918 sowie 1925 Präsident der
Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPV) – ein
»trockener Schleicher« wie ihn Sigmund Freud und C.G. Jung in ihren
Briefen nicht gerade schmeichelhaft nannten? Einen »trockenen
Schleicher« nannte schon Goethes Faust seinen Famulus Wagner und so
schrieb auch der literarisch sehr beflissene Freud an C.G. Jung am
27. August 1907: »Ihre Schilderung seines [Abrahams] Charakters hat
so den Stempel des Zutreffenden, daß ich sie ohne weitere Prüfung
annehmen möchte. Nichts gegen ihn einzuwenden, und doch etwas, was
die Innigkeit ausschließt. Ein wenig ›trockener Schleicher‹, sagen
Sie, und das muß mit Ihrem offenen, andere mit sich fortreißenden
Wesen hart kontrastieren.«
Um der Abwertung Karl Abrahams ein Ende zu setzen, nimmt sich die
Psychoanalytikerin Karin Zienert-Eilts in ihrem Buch »Karl Abraham.
Eine Biografie im Kontext der psychoanalytischen Bewegung« vor,
»ein plastisches Bild« dieses Psychoanalytikers zu malen, welches
ein differenzierteres und ausgewogeneres Urteil über ihn
ermöglichen würde. »Korrektheit«, »Vertrauen in die Rationalität«,
»Selbstreflexion«, »Zurückhaltung und Selbstbeherrschung« nach dem
Ideal »sine ira et studio« und ein unverbrüchlicher Optimismus sind
laut Zienert-Eilts die wichtigsten Eigenschaften Abrahams gewesen.
Freud selbst hatte Abraham attestiert, ein »Führer zur
Wahrheitsforschung« und »integer vitae scelerisque purus«
(»untadelig im Leben und frei von Verbrechen«) zu sein. Mehrere
Aussagen von weiteren Zeitgenossen Abrahams und vor allem
unveröffentlichte Briefe zwischen Ernest Jones und Abraham sowie
zwischen Abraham und Max Eitingon sollen den »Schatten, der auf dem
Charakterbild Karl Abrahams« liegt, ebenfalls zerstreuen.
Nach einem kurzen Überblick über die voranalytische Karriere
Abrahams führt das Buch seine Leser durch die höchst turbulente und
konfliktreiche frühe Geschichte der Psychoanalyse vom Jahre
1907/1908 an, als Abraham Psychoanalytiker wurde, bis zum Jahr
1925, als Abraham starb. Den wichtigsten Stationen und Höhepunkten
dieser Konflikte ist der Großteil des Buches gewidmet: Der
jahrelangen und seit Abrahams Assistenzzeit am Burghölzli
stammenden Animosität zwischen ihm und C. G. Jung, den Kontroversen
um das 1912/1913 gegründete Komitee (den geheimen Bund zwischen
Freud und seinen engsten Mitarbeitern Sándor Ferenczi, Otto Rank,
Karl Abraham, Ernest Jones, Hanns Sachs und Max Eitingon), der
»Angelegenheit Liebermann«, der Rivalität Abrahams mit Max Eitingon
und insbesondere der Krise um den Abfall Otto Ranks. Eine letzte
Meinungsverschiedenheit, welche einen weiteren »Schatten« auf
Abraham warf, war der um den Film »Geheimnisse einer Seele« 1925
entbrannte Streit zwischen Freuds Wiener und Berliner
Anhängern.
Im Ganzen gesehen sind hier weniger die konkrete Verantwortung,
Schuld oder überhaupt Handlungsweise Abrahams für den Leser von
Interesse – obwohl genau diese im Mittelpunkt des
Erkenntnisinteresses der Autorin stehen – als vielmehr die
zusammenhängende und recht detaillierte Darstellung und
Neubeleuchtung einer ganzen Kette von Konflikten, die aus der
Geschichte der Psychoanalyse nicht wegzudenken sind, die historisch
geworden sind und die die Geschichte der Psychoanalyse sind.
Insofern ist das Buch aber auch eine Gratwanderung zwischen der
Biografie des Psychoanalytikers Karl Abraham »im Kontext der
psychoanalytischen Bewegung« und der Untersuchung einer höchst
bedeutenden Zeitspanne psychoanalytischer Geschichte im Licht der
Biografie einer ihrer Zentralgestalten.
Mit der Herausarbeitung von Freuds Ambivalenz Karl Abraham
gegenüber, die sie unter anderem mit Freuds Charakterisierung
Abrahams als »zu preußisch« illustriert, leistet die Autorin einen
Beitrag auch zum besseren Verständnis der »wechselvollen Beziehung«
der beiden Psychoanalytiker, die bisher bis auf wenige Ausnahmen
sehr einseitig als ungetrübt betrachtet und »unter weitgehender
Auslassung der Konflikte und der negativen Seite« behandelt wurde.
Sowohl die »Dreiecksdynamik« zwischen Freud, C.G. Jung und Abraham
als auch die in seinen letzten Lebensjahren sehr bedeutungsvolle
Freundschaft Abrahams mit Freuds ehemaligem Alter Ego Wilhelm Fließ
ergänzen das Bild der spannungsreichen Interaktion zwischen Freud
und Abraham und zeigen zudem Freuds »Beeinflussbarkeit in den
Dreiecksdynamiken« auf – etwa seine Neigung, in Konflikten »nicht
neutral zu bleiben, sondern demjenigen mehr Gehör zu schenken, der
sich privat an ihn wandte […]«. Und nicht zuletzt seinen Wankelmut
und Frustration, womit das tradierte Bild vom heroischen Freud
wieder einmal durchkreuzt wird und Freud beinahe wie ein Gegenpol
zum beständigen, gleichmütigen Abraham erscheint: »Freud,
erschüttert durch Rank, verärgert über Abraham und enttäuscht von
Ferenczi, stürzte sich [nach der Rank-Affäre] ratsuchend und
emotional mehr und mehr auf Eitingon […]«.
Erfreulicherweise hat das Buch also mehr zu bieten als die bloße
Bestandsaufnahme der positiven und negativen Urteile über Abraham.
Es ist auch mehr als ein Charakterporträt Abrahams, mehr als eine
Richtigstellung von Jungs »bitterbösem« Urteil vom »trockenen
Schleicher« Abraham, wie man beim Lesen stellenweise befürchten
mag. Durch die minutiöse, wenn auch nicht ganz unvoreingenommene
Klärung von Abrahams Rolle in den Konflikten und seiner Funktion in
der Gruppendynamik gelangt die Autorin bis zur Ebene der
psychoanalytischen Politik und überschreitet somit – eher
unbeabsichtigt, wie es scheint – die reine Biografie und die rein
psychologisierende Charakterzeichnung. Es gelingt ihr, zentrale
Tendenzen wie die Polarisierung und Lagerbildung als
Charakteristika und Spezifika psychoanalytischer Geschichte zu
benennen und den »schleichenden Zersetzungsprozess«
psychoanalytischer Institutionen zu Abrahams Zeit zu
registrieren.
Äußerst fragwürdig ist es dagegen, diese Prozesse nur damit zu
erklären, dass sie – wie die negativen Urteile über Abraham
übrigens auch – »in Affekten wurzeln«. Und gelinde gesagt
verwunderlich ist es, dass Zienert-Eilts in ihrer Biografie fast
vollkommen und von vornherein darauf verzichtet, sich auf Abrahams
wissenschaftliches Werk einzulassen, obwohl sie ihn in Anlehnung an
Ernst Falzeders treffende Formulierung als »wissenschaftliches
Schwergewicht« bezeichnet und überdies ausdrücklich von der
»wissenschaftlichen Ebene als Grundlage der Beziehung« zwischen
Freud und Abraham spricht. Diesen Verzicht bekundet Zienert-Eilts
schon in ihrer Einleitung: »In meiner Arbeit werde ich nicht
detaillierter auf das theoretische Werk Karl Abrahams, dessen
Implikationen und spätere Weiterentwicklung eingehen. Dies bleibt
einer nächsten Arbeit vorbehalten.«
Abgesehen von einer Analyse von Abrahams Segantini-Studie (1911)
beschränkt sich der Aufweis der wissenschaftlichen Relevanz von
Abrahams Werk auf folgende summarische Bemerkung zu Beginn des
Buches: »Seine wissenschaftliche Bedeutung für die Psychoanalyse
liegt vor allem in der Erforschung der manisch-depressiven
Psychosen, der Entwicklung einer Theorie der Depression und der
Konzeptualisierung der präödipalen Organisationsstufen der Libido
[…]«. Diese Leistungen werden aber unverzüglich in die
»Ideengeschichte« verwiesen, während die von der Autorin im
weiteren Verlauf des Buches gezeichnete Geschichte lediglich eine
Geschichte der Affekte und der Affektbeherrschung, der »emotionalen
Verwicklungen« und der auf Affekten basierenden, »wie Perlen einer
Kette« aneinandergereihten gruppendynamischen Konflikte in der
Geschichte der psychoanalytischen Bewegung ist.
Auch Freud ignorierte die Rolle der Affekte in der von ihm ins
Leben gerufenen psychoanalytischen Bewegung nicht, doch er erkannte
deutlich und unmissverständlich die dialektische Verschränkung
zwischen wissenschaftlichen Divergenzen und »affektgesteuerten
Reaktionen«, zum Beispiel wenn er über Abraham schrieb, er sei
»keiner von jenen, die wissenschaftliche Gegnerschaft in
persönliche Gehässigkeit umsetzen […]«. Etwas überspitzt und im Ton
der gerade zitierten Äußerung gesagt, vernachlässigt Zienert-Eilts
in ihrem Buch die »wissenschaftliche Gegnerschaft« und bleibt nur
bei der »Gehässigkeit« und den »kriegerischen« Affekten als
Grundlage und Motor der psychoanalytischen Bewegung stehen. Aus
dieser verkürzten Perspektive betrachtet, kristallisiert sich dann
zwangsläufig als höchste Leistung des von der Autorin sehr positiv
gezeichneten Abraham nicht dessen wissenschaftliches Werk, sondern
dessen Fähigkeit heraus, »durch Beherrschung der Affekte […] der
Sache der Psychoanalyse zu dienen.«
Kein Ruhmesblatt für die von Karl Abraham jahrelang bestimmte
psychoanalytische Bewegung also, das sich aus Zienert-Eilts’ Buch
herauslesen lässt. Zum Glück ist ihre Sicht infolge der Ausblendung
der wissenschaftlichen Ebene nur bedingt und nicht ohne
Einschränkung annehmbar.
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