Rezension zu Geschlechter- und Sexualitätsentwürfe in der SS-Zeitung Das Schwarze Korps (PDF-E-Book)
Sehepunkte. Rezensionsjournal für die Geschichtswissenschaften Ausgabe 14 (2014) Nr. 4
Rezension von Jörn Retterath
Sebastian Winter: Geschlechter- und Sexualitätsentwürfe in der
SS-Zeitung Das schwarze Korps
Die nationalsozialistischen Geschlechter- und
Sexualitätsvorstellungen waren nach herrschender Meinung geprägt
durch eine Mischung aus repressiv-konservativen und
progressiv-modernen Elementen. Sebastian Winter hat nun anhand der
Zeitung »Das Schwarze Korps« die im Nationalsozialismus vertretenen
Geschlechter- und Sexualitätsentwürfe untersucht. Da sich das
offizielle Organ der Reichsführung SS als »Wahrer [...] der reinen
Lehre des Nationalsozialismus« (138) begriff, kann Winter auf eine
Quelle mit hohem ideologischem Sendungsbewusstsein zurückgreifen.
Zudem verfügte die Wochenzeitung mit einer Auflage von über einer
Million Exemplaren im Jahr 1939 über eine große Verbreitung und
erheblichen Einfluss.
Methodisch greift die Hannoveraner Dissertation auf Überlegungen
der Psychoanalytischen Sozialpsychologie und der Diskursanalyse
zurück. Im Mittelpunkt stehen Fragen nach dem Wesen und Charakter
der nationalsozialistischen Sexualmoral sowie dem Stellenwert des
Antisemitismus in den NS-Geschlechterentwürfen. Zudem möchte der
Autor die klassischen psychoanalytisch-sozialpsychologischen
Ansätze der Antisemitismusforschung auf Verkürzungen und
Ausblendungen hin überprüfen. Das Ziel der Studie, eine
»psychoanalytisch unterfütterte emotionsgeschichtliche Analyse des
völkisch-antisemitischen« Geschlechter- und Sexualitätsdiskurses am
Beispiel des »Schwarzen Korps« (28), verfolgt Winter in drei
Hauptkapiteln: In diesen werden 1.) bedeutende »Ansätze der
psychoanalytischen Sozialpsychologie zur Analyse von Volk,
Antisemitismus und Geschlecht« (29) präsentiert, 2.) der
Untersuchungsgegenstand anhand von ausgewählten Texten aus dem
»Schwarzen Korps« analysiert und 3.) die neuen Erkenntnisse in ein
»symbol-, interaktions- und differenztheoretisches [...] Modell der
Psychodynamik völkisch-antisemitischer Geschlechter- und
Sexualitätsentwürfe« (28) eingebettet.
Zunächst stellt Winter Inhalt und Rezeption der klassischen
sozialpsychologischen Ansätze Theodor Adornos, Max Horkheimers,
Zygmunt Baumans, Sigmund Freuds, Klaus Theweleits, Margarete
Mitscherlichs und Béla Grunbergers vor, die den Antisemitismus und
die Geschlechtervorstellungen in der NS-Ideologie zu erklären
suchen. Die Gegenüberstellung verdeutlicht die widersprüchlichen
Ergebnisse: »Antisemiten« – judenfeindliche Frauen wurden
konsequent ignoriert – waren entweder »feminisierte Männer«,
»hypervirile Männer im Männerbund« oder »in einer geschlechtlich
indifferenten Massenbindung« (135).
Diese Theorien vergleicht Winter mit den ideologischen Aussagen im
»Schwarzen Korps«. Dazu wendet er das Instrumentarium der
Kritischen Diskursanalyse auf acht »Schlüsseltexte« (144) an. Die
ausgewählten Texte werden jeweils vollständig zitiert
wiedergegeben, dann nacherzählt, danach auf Selbst- und Feindbilder
hin abgeklopft und ihre diesbezüglichen Aussagen schließlich in der
völkischen Weltanschauung verortet. Winter wählt Artikel aus, die
die Themen Volk, Volk und Individuum, Geschlechterunterschiede,
Homosexualität, das Ideal der guten Ehe, »rassebewusste«
Partnerwahl, Nacktheit sowie Prüderie und sexuelles Begehren
behandeln. Zusammenfassend kommt der Autor zu dem Resümee, dass
»der Jude« im »Schwarzen Korps« mit Begriffen wie »Entfremdung«,
»Begehren« und »Transgression« belegt werde, »dem Arier« dagegen
die Eigenschaften »Ganzheit«, »Reinheit« und »Klarheit«
zugeschrieben würden (325 f.). Geschlechtsspezifische Eigenschaften
würden einerseits betont, andererseits durch das Sprechen von einer
»neue[n] Ganzheit der Volkszelle« (326) in ihrer Bedeutung
relativiert. Einen subtilen Angleichungsprozess beobachtet Winter
unter anderem in geschlechtsübergreifend verwendeten Attributen wie
»heroisch«, »kämpfend«, »unsentimental«, »volksgebunden« oder
»opferbereit« (327). Für die Analyse nationalsozialistischer
Sexualitätsentwürfe lehnt der Autor die Verwendung von Kategorien
wie »Liberalisierung« und »Repressivität« ab – die »scharfe
Feindschaft gegen den lüsternen Trieb bei gleichzeitiger Bejahung
des reinen ›Instinktes‹« (328) sei in solchen Gegenbegriffen nicht
adäquat zu fassen.
Abschließend vergleicht Winter seine Befunde mit den klassischen
sozialpsychologischen Theorien und kommt zu dem Schluss, dass diese
»nicht zur Erfassung der antisemitischen Feindschaft« ausreichen
würden (329). Das »diffuse[...] Unbehagen der Geschlechter« – das
»Sexualitätsdilemma« – habe im »Schwarzen Korps« eine Stoßrichtung
erhalten, die sowohl für Frauen als auch für Männer »affektiv
attraktiv sein konnte« (402): Im gemeinsamen Hass auf »den Juden«
hätten sich beide Geschlechter eins fühlen können, so die These des
Autors. Damit betont Winter auch die bislang in der
sozialpsychologischen Forschung weitgehend ignorierte Bedeutung des
Antisemitismus bei Frauen. Für ihn stellen die »pathischen
Projektionen des Antisemitismus« eine »unerlässliche Ergänzung zur
›Volksgemeinschaft‹« dar (403). »Volk« habe als
»massenpsychologischer und thanatöser Modus der psychischen
Organisation [...] ein rauschartig erfahrenes ›Gemeinschaftsgefühl‹
ohne Sexualitätsdilemma« ermöglicht (406), so Winters Deutung der
integrativen und harmonisierenden Wirkung der
nationalsozialistischen Volks(gemeinschafts)ideologie.
Winters Studie bietet interessante Ansätze. Insgesamt jedoch fußen
seine Beobachtungen auf einer letztlich äußerst schmalen
Quellengrundlage – der Auswertung einer einzigen Zeitschrift und
der eingehenden Analyse von lediglich acht Artikeln daraus. Zumal
die Samplebildung insgesamt unklar bleibt, auch wenn Winter betont,
es handle sich um »typisch[e]« Beispiele und die Auswahl beruhe auf
»gründliche[r] Kenntnis des gesamten untersuchten [...]
Diskursstranges« (144 f.) Die Zusammenschau sozialpsychologischer
Theorien ist beachtlich, indes eher von
wissenschaftsgeschichtlichem Interesse. Gleichzeitig ist manche
These des Autors, die vor dem sozialpsychologischen Hintergrund neu
erscheinen mag, in der Geschichtswissenschaft längst etabliert –
etwa, wenn es um die Frage nach Rassismus und Antisemitismus bei
Frauen geht. Dieser mangelnden Verortung der eigenen Studie in der
historischen Forschung entspricht denn auch ein veraltetes
Verständnis von nationalsozialistischer Ideologie, die – von
wenigen Ausnahmen abgesehen – insgesamt als monolithischer, keinem
zeitlichen Wandel unterworfener Block erscheint. Redundanzen,
ausufernde Zitate und fremdwortüberladene Schachtelsätze steigern
nicht den wissenschaftlichen Wert, sondern hindern den Lesefluss.
Trotz dieser Kritik ist Winters Studie vor allem in der
Detailanalyse der einzelnen Zeitungsartikel von Interesse. Seinen
Thesen von der Annäherung der Geschlechterentwürfe in der
NS-Ideologie und der (scheinbaren) Überwindung des
Sexualitätsdilemmas in der »Volksgemeinschaft« durch die einende
antisemitische Feindschaft bieten Anknüpfungspunkte für weitere
Forschungen auf breiterer Quellengrundlage.
Jörn Retterath
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