Rezension zu Das klinische Tagebuch
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Rezension von Hans-Peter Heekerens
Sándor Ferenczi: Das klinische Tagebuch
Thema
»Manirierte Art des Begrüßens, formelle Aufforderung ›Alles zu
sagen‹, die sog. Freischwebende Aufmerksamkeit, die schließlich
keine ist und gewiß nicht adäquat dem oft mit großen
Schwierigkeiten vorgebrachten gefühlschwangeren Mitteilungen des
Analysanden, haben den Effekt: 1) dass der Patient über das
mangelnde oder mangelhafte Interesse beleidigt wird; 2) da er über
uns nichts Böses oder Abträgliches denken will, sucht er die
Ursache der Nicht-Reaktion in sich selbst resp. in der Qualität des
Mitgeteilten, 3) schließlich zweifelt er an der Realität des früher
noch gefühlsnahen Inhalts.«
Man frage Kolleginnen und Kollegen, die (auch) psychotherapeutisch
arbeiten (unter welchem Label auch immer), wer (gesucht ist nicht
ein Name, wohl aber eine Position wie etwa »klienten-zentriert«)
diesen Text wann (grobe Einschätzungen wie »3./4./5./6. Jahrzehnt
des letzten Jahrhunderts« genügen) gegen wen (s. das zu »wer«
Genannte) geschrieben haben könnte. Die meisten der von mir
Befragten hielten, wenn sie den Text nicht kannten und sich eine
Zuordnung wagten, die obige Passage für eine in den 1950ern
geäußerte Kritik von Carl Rogers an der (damaligen) Praxis der
US-amerikanischen Psychoanalyse. Diese Antwort ist nicht richtig,
aber sie enthält, wie im Verlauf der Rezension deutlich werden
wird, viel Wahrheit. Vorläufig mag der Hinweis genügen, dass die
obigen Worte der erste Satz des »Tagebuchs« sind, eingetragen unter
dem Datum 7.1.1932 und außerhalb eines kleinen Zirkels von
»Geheimnisträgern« erstmals 1985 bekannt gemacht. Dieses Buch hat,
wie andere Bücher auch, nicht nur eine Geschichte, sondern, wie
wenige Bücher eine sehr besondere Geschichte. Ein geschichtlicher
Zugang zu diesem Buch ist neben einem systematischen
unentbehrlich.
Ein viertel Jahrhundert Freud und Ferenczi
Die Bühne der psychoanalytischen Öffentlichkeit betrat der damals
35-jährige Arzt aus Budapest auf einem Treffen verschiedener
Psychoanalytiker (es waren tatsächlich nur »Herren«) am 27.4.1908
in Salzburg. Erst am Anfang desselben Jahres hatte Sándor
(Alexander) Ferenczi, der sich schon längere Zeit mit den Schriften
Sigmund Freuds auseinandergesetzt hatte, diesen in Wien aufsuchte.
Das genannte Treffen, auf dem der Vortrag des Nachkömmlings
verständlicherweise ans Ende gesetzt wurde, ist unter dem Namen »1.
Internationaler Psychoanalytischer Kongresses« in die
(psychoanalytische) Geschichtsschreibung eingegangen;
»International« wird er dort genannt, weil neben den Wienern (wie
Freud, Alfred Adler und Otto Rank) auch etwa Carl G. Jung (Zürich),
Ernest Jones (London), Ferenczi (Budapest) und Karl Abraham
(Berlin) anwesend waren.
Von den dort damals Anwesenden interessieren im weiteren Verlauf
der hiesigen Darstellung neben Freud selbst Ferenczi, Jones und
Rank. Der Letzte war der einzige »Laie« (Nicht-Arzt), Sekretär der
kurz zuvor gegründeten Wiener Psychoanalytischen Vereinigung und
damals Protokollant der Vorträge (die in Kurzform zeitnah
veröffentlicht wurden). Ferenczi betrat die Bühne der
psychoanalytischen Öffentlichkeit mit einem Paukenschlag: mit
seinem (ans Ende gesetzten) Vortrag, dessen Titel gemeinhin mit
»Psychoanalyse und Pädagogik« (nachzulesen unter
http://www.textlog.de/8897.html) angegeben wird, im
Einladungsprospekts aber angekündigt war mit »Welche praktischen
Winke ergeben sich aus den Freud´schen Erfahrungen für die
Kindererziehung?«. Mit diesem Vortrag, mit dem er einen ganz
anderen Ton anschlug als die anderen Referenten (inkl. Freud),
offenbarte sich Ferenczi von Anfang an als eigenständiger Denker,
der von da an gegenüber Freud in Denken und Handeln
»Akzentverschiebungen« (vgl. Harmat 1988) vornahm, mit denen er
sich von Freud – in einem ihm selbst nicht voll und ganz bewussten
Umfang, wie seine Analysandin Clara Thompson (1952) meint –
zunehmend entfernte. Ferenczis Kongress-Vortrag von 1908 konnte
Freuds Beifall schwerlich finden, und wurde – wohl nicht zuletzt
deshalb – erst Jahre später in ganzem Wortlaut einem breiten
Publikum bekannt gemacht. Heute gilt er als Ausgangspunkt zweier
Entwicklungen: der Psychoanalytischen Pädagogik und der
Analytischen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie (vgl.
Heekerens, 2009). Und er ist ein erstes Zeugnis der Überzeugung von
Ferenczi, die wir heute als »selbstverständlich« ansehen, ihm aber
damals Ärger einbrachte: Reale Kindheitserfahrungen haben eine
große Bedeutung in der Ätiologie psychischer Störungen; es kann zu
realer Schädigung durch exogene Faktoren kommen.
Trotz inhaltlicher Differenzen, die nicht nur anlässlich dieses
Vortrags sichtbar wurden, entzweiten Freud und Ferenczi sich
(zunächst) nicht. Die beiden verbrachten Urlaube miteinander, und
Ferenczi unterzog sich 1914 bei Freud einer Lehranalyse; der
zweiten, der sich ein Analytiker unterzog – die erste hatte Jones
1913 bei Ferenczi gemacht (Cremerius, 1983, S. 990 Anm. 3). Nach
außen trat Ferenczi an der Seite Freuds bzw. in dessen Auftrag
deutlich in Erscheinung. 1909 fuhren Freud, Ferenczi und Jung –
ohne (den »Laien«) Rank – im September in die USA, wo durch Freuds
Clark Lectures sein Ansehen und das der Psychoanalyse befestigt
wurden; Jones, seit 1908 mit Freud in Kontakt und seit 1909 in
Toronto, war ebenfalls dabei. 1910 betraute Freud Ferenczi mit der
Aufgabe, in Nürnberg die Internationale Psychoanalytische
Vereinigung (IPV) gründen zu lassen (ausf. Ermann, 2010), zu deren
erfolgreicher Erledigung Ferenczis Plädoyer (nachzulesen unter
http://www.textlog.de/8902.html) seinen Beitrag geleistet hat; am
längsten als Präsident der IPV wirkte Jones: 1920–1924 und
1932–1949. Als 1913 auf Vorschlag von Jones das »Geheime Komitee«,
Freuds engster Vertrautenkreis und »Schutztruppe«, gegründet wird,
gehören ihm nur fünf Personen an: Karl Abraham, Ferenczi, Jones,
Rank und Hanns Sachs; 1919 kam Max Eitingon hinzu; der Waliser
Jones (1879–1958) ist der einzige Nicht-Jude dieses elitären
Zirkels – und er wird alle anderen überleben.
In den Jahren 1918–1919 finden Ereignisse statt, die zeigen, was
möglich war, wenn Freud und Ferenczi Hand in Hand arbeiteten. Ende
September 1918 – wenige Wochen vor der Kapitulation sowohl des
Deutschen Reiches als auch Österreich-Ungarns – wurde Ferenczi auf
dem Budapester Kongress der IPV zu deren Präsidenten gewählt. Wenig
später war der Krieg zu Ende, Ungarn ein politisch eigenständiger
Staat, und die »Asternrevolution« vom Spätjahr 1918 brachte eine
linksliberale Regierung unter der Führung des »roten Grafen« Mihály
Károlyi an die Macht. Unter ihr wurde Ferenczi (wohl) Anfang 1919
über eine Studentenpetition zum Professor (bzw. zu einer der
ordentlichen Professur gleichwertigen Stellung) für Psychoanalyse
an der Universität Budapest berufen; die erste Professur für
Psychoanalyse und für lange Jahre die einzige. Die im März 1919 an
die Macht gekommene Räteregierung bestätigt die Berufung, die aber
1920 nach der Machtergreifung des präfaschistischen Regimes Miklós
Horthys sogleich annulliert. Ferner wurde Ferenczi aus der
Ärztekammer ausgeschlossen und aller öffentlichen Ämter enthoben;
er arbeitete danach in privater Praxis.
Das Angebot zu dieser Professur und dessen Denomination für
Psychoanalyse wäre unverständlich, würde man nicht einen näheren
Blick auf den Budapester Kongress werfen. Ich zitiere die
Darstellung der Deutschen Gesellschaft für Psychoanalyse,
Psychotherapie, Psychosomatik und Tiefenpsychologie, dem
Dachverband der Psychodynamik Deutschlands: »Auf dem 5.
Internationalen Psychoanalytischen Kongress (IPV) in Budapest
interessieren sich österreichische, deutsche und ungarische
Regierungsvertreter für die therapeutischen Erfolge der
Psychoanalyse. Sigmund Freud plädiert für die Massenanwendung der
Psychoanalyse (›… dass wir bei der Massenanwendung unserer Therapie
das reine Gold der Analyse werden legieren müssen‹) und dafür, sie
einer breiten, unbemittelten Bevölkerungsschicht zugänglich zu
machen.«
(http://dgpt.de/fileadmin/download/Geschichte_der_DGPT/1918_-_1932.pdf)
Als Dokument aus jener Zeit ist uns erhalten die von Ferenczi,
Freud, Abraham und Ernst Simmel verfasste Schrift »Zur
Psychoanalyse der Kriegsneurosen«, erschienen 1919 im Wiener
Internationalen Psychoanalytischen Verlag (Gründer und Leiter:
Rank, Unterstützer: Ferenczi, Freud und ein Budapester Mäzen). Es
ist ein Buch der Kriegsverlierer aus den Mittelmächten; Jones, nach
Kriegsende aus dem fernen Toronto nach London übergesiedelt, war
auf Seite der Entente-Kriegsgewinnern (zu diesem Unterschied unten
mehr).
Wenige Jahre später, im Konflikt Freud – Rank, sehen wir Ferenczi
noch immer an der Seite Freuds, wo doch sein Herz für Rank schlug.
Mit ihm, dem Kollegen, Freund und Geistesverwandten, hatte er die
»Entwicklungsziele der Psychoanalyse« (1923/1924) geschrieben, Rank
zudem »Das Trauma der Geburt« (1924). Die beiden Schriften weisen
einen engen sachlichen Zusammenhang auf, denn das »Trauma« ist, wie
nicht nur der sachliche Vergleich, sondern auch Briefe von Rank
bzw. Ferenczi an Freud (vgl. Leitner, 1998, 67-68) belegen,
»eigentlich ein Produkt der Experimente mit der aktiven Technik«
(Leitner, 1998, S. 67), wie sie in den »Entwicklungszielen«
dargestellt sind. Ferenczi scheidet wie Freud (und der Mainstream
der Psychoanalyse bis heute) zwischen beiden Schriften und schlägt
sich auf die Seite des »Vaters«, nicht des »Bruders«. Wie
affektgeladen diese Parteinahme war, illustriert eine Episode:
Ferenczi wollte mit Rank (nach dessen Bericht) nicht einmal mehr
persönliche Worte wechseln, als sich die beiden später einmal
zufällig in New York an der Pennsylvania Station trafen (Taft,
1959, S. 16).
Das Jahr des »Tagebuchs« (1932)
Ferenczi bleibt – um den Preis des Verlustes seines besten Freundes
– bei Freud. Vorerst. »Der Herr Professor und sein lieber Sohn«
(Nitzschke, 2005 entwickeln sich in den Folgejahren aber in dem
Maße auseinander, in dem Ferenczi spürt, dass ihn die Loyalität zu
Freud nicht ein fremdes (Ranks), sondern sein eigenes Leben, sein
Eigen-Leben kosten würde. Wir können die einzelnen
Entwicklungsstufen dieses Prozesses, in dem sich Ferenczi immer
mehr auf sich selbst konzentrierte, hier nicht nachzeichnen (vgl.
aber die prägnante im Internet zugängliche Darstellung von Schuch,
o. J.), sondern springen zum entscheidenden, zum zur Scheidung
führenden Jahr 1932. So wie er Ende Mai 1908 mit einem
Kongress-Vortrag die Bühne der psychoanalytischen Öffentlichkeit
betreten hatte, so verließ er sie bald ein viertel Jahrhundert
später mit einem Kongress-Vortrag Anfang September 1932.
Ich gebe hier, weil es anders nicht prägnanter zu formulieren wäre,
Johannes Cremerius (1983) das Wort. Es stammt aus dem 1983 in der
»Psyche« unter dem Titel »›Die Sprache der Zärtlichkeit und der
Leidenschaft‹. Reflexionen zu Sándor Ferenczis Wiesbadener Vortrag
von 1932« erschienen Aufsatzes; das ist die erweiterte Fassung
eines Vortrags, gehalten auf der Jahresversammlung der Deutschen
Psychoanalytischen Vereinigung am 12.11.1982 – ein halbes
Jahrhundert später! »Um die Spannung zu mildern und um Ferenczi aus
seiner Isolierung herauszuholen, forderte Freud ihn im Mai 1932
auf, sich auf dem Kongreß in Wiesbaden zum Präsidenten der IPV
wählen zu lassen (ebd.; gemeint ist Jones’ u.g. Biographie; d.
Verf.). Zehn Tage vor dem Kongreß teilte Ferenczi mit, daß er das
Angebot nicht annehmen könne, weil seine neuesten Ideen so sehr im
Widerspruch zu den angenommenen Prinzipien der Psychoanalyse
stünden, daß es ihm nicht mehr ehrenhaft erschiene, letztere in
offizieller Position zu vertreten (ebd.). In dieser schwierigen
Situation meldete er seinen Vortrag mit dem programmatischen Titel
›Die Leidenschaften der Erwachsenen und deren Einfluß auf Charakter
und Sexualentwicklung des Kindes‹ an. Er bat Freud, ihn vorher zu
lesen. Dieser schlug ihm nach der Lektüre vor, ein Jahr lang die
Arbeit nicht zu publizieren und den Vortrag nicht zu halten, weil
er befürchte, dies könne Ferenczis Ruf schaden. Ferenczi ließ sich
nicht abhalten …« (S. 989)
Am 2. Oktober 1932 schreibt Freud anlässlich des Wiesbadener
Vortrags einen Brief an Ferenczi, dem er seine Missbilligung
deutlicher als je zuvor zum Ausdruck bringt. »Mit diesem Brief vom
2. Oktober 1932 endet die 26-jährige Freundschaft zwischen Freud
und Ferenczi endgültig.« (Cremerius, 1983, S. 989) Ich zitiere aus
dem Brief (nach Lütkehaus, 2006). »[…] Ich glaube nicht mehr, daß
Sie sich berichtigen werden, wie ich mich ein Menschenalter vorher
berichtigt habe. […] Seit drei Jahren haben Sie sich planmäßig von
mir abgewendet, wahrscheinlich eine persönliche Feindseligkeit
entwickelt, die weiter geht, als sie sich äußern konnte. Jeder von
denen, die mir einmal nahestanden und dann abgefallen sind, konnte
mir mehr Veranlassung zur Last legen als gerade Sie […]«.
Mit eben diesem Tag, dem 2.10.1932, enden die Einträge im
»Tagebuch«. An diesem Tag – Ferenczi konnte Freuds Brief noch nicht
gelesen haben – finden sich Einträge, die nicht als Antwort, wohl
aber als Gegenwort zu lesen sind. Ich zitiere daraus die mir am
wichtigsten erscheinenden Passagen: »In meinem Falle kam es zu
einer Blutkrise im selben Moment, als ich einsah, daß ich auf die
Protektion einer ›höheren Macht‹, nicht nur nicht rechnen kann, im
Gegenteil, von dieser indifferenten Macht zertreten werde, sobald
ich meinen eigenen Weg – und nicht seinen gehe… Und gleich wie ich
mir nun neue rote Zellen bauen muß, so muß (wenn ich kann) ich mir
eine neue Persönlichkeitsbasis schaffen, wenn ich die bisherige als
falsch, unverlässlich, aufgeben muß? Habe ich hier die Wahl
zwischen Sterben und ›mich neu einrichten‹, – und das im Alter von
59 Jahren? Andererseits: hat es einen Wert, immer nur das Leben
(Willen) einer anderen Person zu leben, – ist solches Leben nicht
schon beinahe Tod? Verliere ich zu viel, wenn ich dieses Leben
verliere? Chi lo sa?« (S. 277-278)
Nur wenig mehr als ein halbes Jahr später, am 22.5.1933 stirbt
Ferenczi an der »Blutkrise«, der Bicmerschen Anämie.
1957: Jones und Ferenczi
Jones hat sich in die Annalen der Psychoanalyse als deren
bedeutendster Organisator eingeschrieben. Er hat nicht nur die
meisten Jahre als IPV-Präsident vorzuweisen (s.o.), sondern war
auch Gründungsmitglied der American Psychoanalytical Association
(1911) und (nach seiner Rückkehr nach England) der British
Psychoanalytic Society (1919). Auf seinen Anstoß wurde das (bis
heute international bedeutendste psychoanalytische
Publikationsorgan) »International Journal of Psychoanalysis« ins
Leben gerufen, für dessen Herausgeberschaft er 1920–1939
verantwortlich zeichnete. In der Frühphase seiner zweiten
IVP-Präsidentschaft (1932–1949) war er an den Verhandlungen mit dem
Nazi-Regime beteiligt, die den verbliebenen nicht-jüdischen
Analytikern um den Preis einer »judenfreien« deutschen
Psychoanalyse weitere berufliche Tätigkeit im Rahmen des so
genannten Göring-Instituts sichern sollten (vgl. die Ausführungen
unter »Informationen – Geschichte« auf der Homepage der Deutschen
Psychoanalytischen Gesellschaft: http://www.dpg-psa.de/in_ge.php
und unter »Über uns – Geschichte« auf der Homepage der Deutschen
Psychoanalytischen Vereinigung: http://www.dpv-psa.de). 1938 half
Jones zusammen mit Marie Bonaparte Freud nach der Annexion
Österreichs 1938 bei dessen Emigration nach England – seither gilt
er als »Retter Freuds« – und blieb mit ihm bis zu dessen Tod 1939
in engem Kontakt. In den Jahren 1953–1957 veröffentlichte er eine
voluminöse, dreibändige Freud-Biographie – erstellt im Namen der
Freud-Familie. Zu jener Zeit war er Ehrenpräsident der IPV
(1949-1958) und (seit 1947) der einzige noch Lebende des »Geheimen
Komitees«. Wer, wenn nicht er, konnte als »Hüter des Grals«
gelten?
Man ahnt, welches Gewicht Jones’ Worte damals hatten. Und die
Worte, mit denen Ferenczi zusammen mit Rank »exkommuniziert«
wurden, sind ebenso klar wie hart: »Bei beiden entwickelten sich
psychotische Erscheinungen, die sich unter anderem darin äußerten,
daß sie sich von Freud und seinen Lehren abwandten.« (Jones, 1984,
S. 62; englischsprachiges Original 1957) Da half es nicht, dass
mehrer glaubhafte Zeugen – darunter sein wohl bekanntester
Analysand und Schüler Michael Balint –, die mit Ferenczi bis in
seine letzten Tage in persönlichem Kontakt standen, die Ferenczi
pathologisierenden Behauptungen als falsch bezeichneten (Cremerius,
1983, S. 991). Im Winde verhallt war auch der zwei Jahre zuvor von
Erich Fromm vorgebrachte Hinweis, wonach die »›offizielle‹
Erfindung« der Geisteskrankheit von Rank und Ferenczi dazu diene,
die beiden einzigen produktiven und einfallsreichen Jünger aus der
ursprünglichen Gruppe, die nach Adlers und Jungs Abfall geblieben
waren, auszuschalten (Fromm, 1984, S. 116; englischsprachiges
Original 1955). Posthum auszuschalten, muss man präzisieren;
Ferenczi war schon 24 und Rank schon 20 Jahre tot. Nicht sie, ihre
Gedanken wurden dem »exorzistischen Scheiterhaufen« übergeben,
ihren Ideen galt die »Säuberung«; man kennt Dergleichen aus der
Geschichte als Merkmale totalitärer Regimes.
Man kann Jones’ Verhalten im vorliegenden Falle unterschiedlich
deuten; in der einschlägigen Literatur dominieren psycho-, gruppen-
und »familien«-dynamische Erklärungsversuche, die darzustellen hier
nicht der Platz ist. Angemerkt sein soll, dass Jones bei seinem
Urteilsspruch aus zumindest zwei Gründen frei von
Unrechtsbewusstsein gewesen sein dürfte. Zum einen wusste er: An
der von Fromm genannten und in einem längeren Prozess
stattfindenden »›offiziellen‹ Erfindung« der Geisteskrankheit war
auch Freud selbst beteiligt, sowohl bei Rank (zusammenf. Heekerens
& Ohling, 2005) als auch bei Ferenczi, dem er einen paranoiden
Persönlichkeitsverfall zuschrieb (Gay, 2006, S. 658). Zum anderen
gilt auch hier: Die Sieger schreiben die Geschichte. Jones gehörte
zu den Siegern. Wohl schon vor dem Zweiten Weltkrieg, ganz sicher
aber nach ihm. Die Welt, auch die für die Psychoanalyse als
»Bewegung« relevante, hatte sich in dem halben Jahrhundert zwischen
1917 und 1957 gründlich verändert.
Ich nenne hier nur die wichtigsten Fakten. Mit Ende des ersten
Weltkriegs war die Donaumonarchie zerbrochen, die wirtschaftlichen
Folgen waren für (Rest-)Österreich und Ungarn noch schlimmer als
für Deutschland, Wien und Budapest hatten ihren Glanz verloren –
und ihr »Hinterland«, aus dem ihnen über Jahrhunderte
»Humankapital« (hier ist das Wort wirklich angebracht) zugeflossen
war, verloren; als für die Psychoanalyse bedeutendstes »Hinterland«
ist Galizien (dazu unten mehr), die Heimat der Großeltern sowohl
von Ferenczi wie von Freud zu nennen. Und: In Ungarn, Österreich
und Deutschland werden nationalistische, (prä-)faschistische und
anti-semitische Strömungen stärker. Als Reaktion auf die
Kriegsverlustfolgen und Miklós Horthys Etablierung eines
präfaschistischen Regimes ab 1920 meiden Ungarn oder verlassen es
Richtung England oder USA – oft mit Zwischenstopp in Deutschland –
(in der Regel jüdische oder jüdischstämmige) Frauen und Männer, die
sich »im Westen« einen Namen in der und für die Psychoanalyse
machen sollten: beispielsweise Franz Alexander (»Vater« der
psychoanalytischen Psychosomatik und Mitbegründer der
psychoanalytischen Kriminologie; gest. 1964 in Palm Springs),
Therese Benedek (Studentin und wohl auch Analysandin von Ferenczi;
gest. 1977 in Chicago), Melanie Klein (zur Bedeutung s.u.;
Lehranalyse bei Ferenczi und Abraham; gest. 1960 in London),
Margaret Mahler (Pionierarbeiten auf dem Gebiet der Säuglings- und
Kleinkindforschung; gest. 1958 in New York), René Spitz
(Pionierarbeiten auf dem Gebiet der Säuglings- und
Kleinkindforschung; Ausbildung zum Psychoanalytiker bei Ferenczi;
gest. 1974 in Denver)und Sándor Radó (ab 1925 einer der drei
Chefredakteure der Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse;
gest. 1972 in New York).
Es kennzeichnet die damalige Situation, dass Freud aus
wirtschaftlichen Gründen gezwungen war, sich vornehmlich
zahlungskräftigen US-Amerikanern und Briten anzudienen. In der
Zwischenkriegszeit werden noch vor Hitlers »Machtergreifung«
England und die USA (vorerst die Ostküste und Chicago) als neuer
Wirkungs- und Lebensort attraktiv. Klein ging 1926 auf Einladung
von Jones nach London, wo sie für immer blieb. Sie trug mit ihren
Schriften zur Ausbildung der Objektbeziehungstheorie bei und gilt
neben Anna Freud als Begründerin der Kinderanalyse. Der Streit
zwischen beiden Frauen, der die britische Psychoanalyse in den
1940ern und 1950ern bis zum Zerreißen belastete, wäre einmal
dahingehend zu prüfen, ob er nicht ein nachgetragener
»Stellvertreterkrieg« zwischen Ferenzci und Freud war.
Die USA waren attraktiv nicht nur für Rank (1935; vgl. Heekerens &
Ohling, 2005; Ohling & Heekerens, 2004), sondern – man denke an die
Weltwirtschaftskrise 1929–1933 – auch für Alexander, der 1930 nach
Chicago ging, um ein psychoanalytisches Ausbildungsinstitut nach
dem Berliner Vorbild aufzubauen, und an Radó, Sachs und Karen
Horney (sie hat über ihre Analysanden und Schüler Abraham Maslow
und Fritz Perls die humanistische Bewegung mit auf den Weg
gebracht), die sich 1931 aufmachten, das Berliner Ausbildungsmodell
(es war grundlegend und wegweisend) in die USA zu exportieren
(http://dgpt.de/fileadmin/download/Geschichte_der_DGPT/1918_-_1932.pdf).
Nach der Machtübertragung auf Hitler verließen, wenn sie es denn
schafften und nicht in die Krankheit, den Selbstmord oder die
Todesmaschinerie getrieben wurden, zunehmend mehr jüdische und
oppositionelle Psychoanalytiker Deutschland hauptsächlich mit dem
Endziel USA oder England: Fromm etwa (1934, New York) oder Perls
(1934, Südafrika), Theodor Reik (1933, Niederlande; 1939, USA),
Reich (1933, Dänemark; 1934, Norwegen; 1939, USA) und Balint (1939,
England). Der Rest überdämmerte im Göring-Institut die
Götterdämmerung.
Nach dem Zweiten Weltkrieg waren Deutschland und Österreich
wirtschaftlich ruiniert, mehr oder minder zerstört, in größerem
oder kleinerem Maße geächtet und Frontstaaten gegenüber dem
sowjetischen Imperium. Die Psychoanalyse in Deutschland wie in
Österreich war nur noch in personalen Restbeständen vorhanden, die
Überlebenden des Naziterrors kamen selten zurück und über den
Dagebliebenen lag der Grauschleier des Göring-Instituts, das einen
Wiener Ableger hatte. Nach Errichten des Eisernen Vorhangs lag Wien
in einem fernen östlichen Winkel des Free Europe und (West-)Berlin
war eine vom Westen alimentierte, in ihrer Existenz bedrohte, von
ihrer anderen Stadthälfte (bald durch eine Mauer) getrennte Insel
im sowjetischen Machtbereich. Die Psychoanalyse hatte das
Nazi-Regime überstanden, weil sie sich über den Kanal und den
Atlantik hatte retten können, der Ton wurde jetzt in London und New
York angegeben. Zu den negativen Folgen der »Amerikanisierung« der
Psychoanalyse (vgl. etwa Handlbauer, 2001; Müller, 2000) zählen:
Sie wird (gesellschafts-) politisch konservativ, nur Ärzte können
sie ausüben und sie wird reduziert auf ihren kurativen Aspekt
(Heilbehandlung).
Aus gegebenem Anlass ein Exkurs: Galizien und die Geburt der
Psychotherapie
Wer in den Tagen, da diese Rezension geschrieben und veröffentlicht
wurde (Februar/März 2014), die Medienberichte über die Geschehnisse
in der Ukraine mit einiger Aufmerksamkeit verfolgt hat, dem dürfte
aufgefallen sein, dass immer wieder eine westukrainische Stadt
ihrer Worte und Taten wegen als im besonderen Maße »prowestlich«
oder »Europa-orientiert« beschrieben wird: Lviv (Lemberg). Lemberg
(Lviv) ist das historische Zentrum eines Gebietes, das heute zum
kleineren Teil zu Polen und zum größeren zur Ukraine gehört, bei
der Ersten Teilung Polens (1792) zu Österreich gekommen war und
damals die Bezeichnung »Galizien« erhalten hatte (Weiteres im
gelungen Wikipedia-Artikel http://de.wikipedia.org/wiki/Galizien).
Als eigenständiges staatliches Gebilde (österreichisches Kronland
mit wachsender Autonomie) bestand es bis 1918 (Ende der k.u.k
Monarchie).
Galizien war ein Land mit vielen Ethnien, Sprachen und Kulturen. Im
vorliegenden Zusammenhang interessieren uns nur die Juden, die hier
ab Beginn des »Ostfeldzugs« 1941 systematisch umgebracht wurden.
Die galizischen Juden gehörten zum osteuropäischen ashkenasischen
Judentum mit einer eigenen Sprache, dem Jiddischen, und einer
großen Tradition des Gelehrtentums. Die »assimilierten« oder
»assimilierungswilligen« Juden sprachen (neben dem Jiddischen oder
auch dieses ablehnend) eine der kulturell angestrebten
»Hochsprachen« (deutsch oder polnisch) und gegebenenfalls, (eine)
andere(n) Verkehrssprachen des Raums (etwa ukrainisch) oder die
Sprache der religiösen Schriften (Hebräisch). Die Juden Galiziens
waren für Wien, Budapest und später auch die USA ein reiches
Reservoir an großen Geistern; von Galizien in verheißungsvolle
Länder (manche auch ins verheißene Land) aufgebrochen waren sie
selbst, ihre Eltern oder Großeltern.
Nehmen wir zu einer Illustration Freud selbst. Geboren wurde er
1856 in Freiberg in Ostmähren (heute tschechisch Příbor); das liegt
näher an Auschwitz (Oświęcim, Polen) als an Brünn (Brno,
Tschechien), dem historischen Zentrum Mährens. Weiter war sein
Vater auf dem Weg nach Wien nicht gekommen; geboren war der 1815 im
heute zur Ukraine gehörenden Teil Galiziens. Aus dessen heute zu
Polen gehörendem Teil stammt der Vater von Ferenczi, Baruch
Fränkel, der es auf dem Weg nach Budapest nur bis Mischkolz
(Miskolc) im Nordosten Ungarn, nahe den heutigen Grenzen zur
Slowakei und der Ukraine gebracht hatte, wo er seinen Namen sechs
Jahre nach Geburt des Sohnes zu Bernát Ferenczi magyarisieren ließ.
Selbst in Galizien geboren ist eine ganze Reihe von
Persönlichkeiten, die für die Entwicklung der Psychotherapie eine
Rolle gespielt haben. Ich nenne hier nur die vier – nach meiner
Beurteilung – bedeutendsten.
Die Abraham A. Brill Library der New York Psychoanalytic Society &
Institute ist die wohl größte Bibliothek der Welt für
psychodynamisches Schrifttum. Sie trägt den Namen eines der
frühesten und aktivsten Exponenten der Psychoanalyse in den USA.
Geboren wurde er 1874 im heute zu Polen gehörenden Teil Galiziens,
von wo er – darin einer unter vielen – als Jugendlicher alleine und
ohne Vermögen in die USA emigriert war. Als zweiter zu nennen ist
Wilhelm Reich, geboren 1897 in Dobzau (Dobrjanytschi; heute
Ukraine), der in Wien mit Freuds expliziter Billigung als
Psychoanalytiker praktizierte, 1920 ausnahmsweise noch als Student
in die IPV aufgenommen und aus dieser 1934 ausgeschlossen. Er ist
einer der Begründer der Körperpsychotherapie. Seine Schriften,
allen voran »Die Massenpsychologie des Faschismus« und
»Charakteranalyse« (beide 1933) waren zu meinen Studienzeiten
Pflichtlektüre der »nonkonformistischen Avantgarde«; der Hauptfeind
war natürlich der Faschismus, aber auch die Orthodoxien sowohl des
Marxismus (in Gestalt des Stalinismus) als auch der Psychoanalyse
(nach Freudscher Interpretation) wurden ins Fadenkreuz der Kritik
gerückt.
Als dritter zu nennen ist Manès Sperber, geboren 1905 im heute
ukrainischen Sabolotiw (deutsch Zablotow). Nach dem Ersten
Weltkrieg begegnete er in Wien Adler, dessen Schüler und
Mitarbeiter er wurde. Auf dessen Anregung zog er 1927 nach Berlin,
wo er, bevor der Jude und Kommunist Berlin 1933 verlassen musste,
für die Berliner Gesellschaft für Individualpsychologie Vorträge
und Ausbildungslehrgänge hielt, seine psychologische Expertise aber
auch für die Berliner Zentrale für Wohlfahrtspflege und in der
Ausbildung von Sozialpädagoginnen und Fürsorgern (Sozialarbeitern)
einbrachte. Sein zentrales Anliegen war, das Psychische und das
Soziale, Verhalten und Verhältnisse gleichermaßen zu
berücksichtigen. In seiner Romantrilogie »Wie eine Träne im Ozean«
(entstanden 1949–1955), die stark autobiografische Züge trägt und
in der Zeit zwischen 1931 und 1945 spielt, rechnet er mit dem
(stalinistischen) Kommunismus, dem er sich lange verbunden fühlte,
ab.
Als vierten und letzten nennen möchte ich Martin Buber, 1878 in
Wien geboren, ab dem Alter von vier Jahren bis zum Abitur aber bei
seinen Großeltern im Lemberg aufgewachsen. Kennzeichen seines
philosophischen Denkens – sein Hauptwerk trägt den Titel »Ich und
Du« – ist das Thema des Dialogs als anthropologisches Prinzip. Sein
Dialog mit Rogers (neu transskripiert von Anderson & Cissna, 1997),
der 1957 – also im Jahr, da Jones Ferenczi verdammte – gehört zu
den großen Dokumenten der humanistisch-experienziellen Therapie.
Rogers hat in seinen Schriften wiederholt Bezug genommen auf Bubers
Dialogphilosophie und dessen »Heilung durch Begegnung« als den Kern
seines therapeutischen Ansatzes bewertet.
Zur Entstehungsgeschichte des vorliegenden Buches
Nachdem man jetzt eine Impression davon hat, unter welchen
Umständen und in Folge welcher Gedankenentwicklungen das »Tagebuch«
entstanden ist, wer sein Autor ist und welches Schicksal ihm und
seinen (in Schriften festgehaltenen) Gedanken die »offizielle«
Psychoanalyse zu Lebzeiten und weit über seinen Tod hinaus hat
angedeihen lassen, ist man vorbereitet für die
Entstehungsgeschichte des vorliegenden Buches, was etwas Anderes
ist als die Entstehungsgeschichte des »Tagebuchs«.
Balint erzählt uns in dem (1969) geschriebenen Vorwort die
Geschichte des »Tagebuch«-Manuskripts, die hier kurz referiert sei.
Er und Kolleginnen kamen nach Ferenczis Tod zu dem höchst
verständlichen Schluss, die Veröffentlichung auf Zeiten zu
verschieben, da es in der psychoanalytischen Gemeinschaft auf mehr
Anerkennung stoßen könnte. Als er 1939 nach England emigriert, gibt
ihm Ferenczis Frau Gizella die Tagebuchaufzeichnungen und Freuds
Briefe an Ferenzci zur Aufbewahrung und Veröffentlichung zu
günstiger Zeit mit. Im selben Jahr erklärte das Vereinigte
Königreich dem Deutschen Reich den Krieg, Jones ist noch bis 1949
Präsident der IPV und auch danach noch der mächtigste
Psychoanalytiker Großbritanniens. Er stirbt 1958, 1968 wird Balint
zum Präsidenten der British Psychoanalytic Society, jetzt ist der
richtige Moment. Daher der erste Satz seiner Einleitung: »Das
Tagebuch, 1932 geschrieben, wird erst jetzt, im Jahre 1969,
veröffentlicht.« (S. 32) Es wurde 1969 nicht veröffentlicht, Balint
(gest. 1970) erlebte seine Veröffentlichung nicht mehr und er hätte
sich nicht träumen lassen, dass das »Tagebuch« erst 15 Jahre nach
seinem Tod veröffentlicht würde – in französischer Übersetzung als
»Journal clinique« zudem! Das Zweite erklärt sich, wenn man etwas
nachforscht (denn Dupont sagt dazu nichts): Dupont, geb. 1925 in
Budapest, 1938 mit der Familie nach Frankreich emigriert, wurde
dort Ärztin und Psychoanalytikerin. Ihr Vater hatte in Budapest
Ferenczi verlegt und sie ist die Nichte von Alice Balint, der
ersten Ehefrau Balints aus Budapester Zeiten. Wen wundert es da,
denn so blieb alles auch fern der alten Heimat fest in »Budapester
Hand«, dass sie auf Wunsch von Ferenczis Stieftöchtern, den
leiblichen Töchter von Gizella die Rolle der Literaturagentin für
alle Werke Ferenzcis von Balint – nach dessen Tod (Sabourin, S.
286, Anm. 2) – übernahm (Szekacs, 2013) Weshalb die Herausgabe sich
von 1969 bis 1985 verzögerte, ist öffentlich zugänglichen Quellen
nicht zu entnehmen und Dupont schweigt sich darüber aus. Man muss
sich vergegenwärtigen: Da muss ein Verleger gefunden werden, der
das unternehmerische Risiko eingeht, und da darf niemand, der
Rechte an dem Buch hat, seine Zustimmung verweigern; schon eines
der beiden kann dauern.
Die Geschichte ab 1985 ist leicht erzählt. 1988 brachte der
Fischer-Verlag, in dem bereits ab 1952 Freuds Werke erschienen
waren, das Dupontsche Herausgeberwerk auf Deutsch (und basierend
auf dem deutschen »Urtext« des Tagebuchs) unter dem Titel »Ohne
Sympathie keine Heilung. Das klinische Tagebuch von 1932«
(Taschenbuch 1999) heraus; die 1989 in der »Psyche« erschienene
Rezension von Cremerius (1989) ebnete dem »Tagebuch« den Weg auch
zu Traditionalisten. Mit der Aufnahme in die Reihe Bibliothek der
Psychoanalyse hat das »Tagebuch« seinen rechten Platz gefunden;
dort steht es gut neben vielen anderen Klassikern – auch neben
Ranks »Trauma«. Das »Urmanuskript« des »Tagebuchs« hat übrigens
auch seinen rechten Platz gefunden: Es ist jetzt im Freud-Museum in
London (Szekacs, 2013).
Aufbau
Den Hauptteil (242 Seiten) des Buches bilden die mit dem 7.1.1932
beginnenden und 2.10.1932 endenden Einträge in das »Tagebuchs«. Der
editorischen Vorbemerkung (S. 38) zufolge, liegt der Satzvorlage
ein maschinengeschriebens Manuskript zugrunde, das als Ferencis
»Urtext« zu gelten hat, und stammen die Fußnoten von Dupont, von
deren ursprünglichen Anmerkungen die ausgenommen sind, die – für
hier und heute – als unnötig anzusehen sind. Voran gestellt sind
nach dem Inhaltsverzeichnis das Vorwort von Dupont und die
Einleitung von Balint. Was von der Einleitung interessiert, wurde
oben bei der Entstehungsgeschichte schon genannt. Duponts Vorwort
zerfällt in zwei Teile. In einem ersten skizziert sie, die damals
als eine der wenigen Einblick hatte in den
Ferenczi-Freud-Briefwechsel, unter Zuhilfenahme dieser
Korrespondenz die Genese des Tagebuchs. In einem zweiten macht sie
eine »Inhaltsangabe« des »Tagebuchs«; »Inhaltsangabe« ist bewusst
in Anführungszeichen gesetzt, denn was der »wahre« Inhalt ist,
dürfte von Leser zu Leser anders erscheinen.
Das Nachwort stammt von Pierre Sabourin, der sich bis heute aktiv
für die Verbreitung von Ferenczis Gedanken einsetzt (s.
http://pierresabourin.free.fr/Ferenczi.jpg). Im Nachgang zu
Cremerius (1983) und dessen Liste der intellektuellen Erben
Ferenczis erweiternd, stellt er die Nachwirkungen der Gedanken
Ferenczis (bis 1984) dar (erweiternd Haynal, 2002: das
»Disappearing and Reviving« von Ferenczi). Mit einer Danksagung von
Dupont an alle, die ihr bei diesem Herausgeberwerk geholfen haben,
schließt das Buch.
Inhalt
Jeder, der das »Tagebuch« mit Kenntnis und Interesse liest, dürfte
mit (fast) jeder anderen Leserin mit derselben Kompetenz und
Motivationslage in Streit darüber geraten, was denn nun im
»Tagebuch« stehe. In vielerlei Hinsicht ist es ein projektiver
Test; jede(r) wird finden, wonach ihr oder ihm gerade der Sinn ist.
Angesichts dessen kann man potentiellen Leser(inne)n nur den Rat
geben: Lassen Sie sich beim Lesen des »Tagebuchs« auf Ihre ganz
eigene »Reise« ein. Wem dieser Vorschlag denn doch allzu
»experienziell« erscheint, mag (vorerst) vorlieb nehmen mit einer
gleichsam »offiziösen« Inhaltsangabe, der von Dupont aus ihrem
Vorwort.
»Im Grunde aber dreht sich das Tagebuch hauptsächlich um drei große
Themen, die Ferenczi von Anfang bis Ende immer wieder
aufgreift:
1.) Ein theoretischer Punkt: das Trauma. Unter Berufung auf seine
laufenden Analysen rechtfertigt er die Bedeutung, die er der
Wirklichkeit des Traumas beimisst, und entwickelt eine Theorie des
Traumas, seiner Auswirkungen und seiner Behandlung.
2.) Ein technischer Punkt (mit dem Problem des Traumas eng
verbunden): die mutuelle Analyse. Es zeigt auf, wie der Gedanke
entstanden ist, wie diese Analyse durchgeführt worden ist und
welcher Kritik er sie schließlich unterziehen mußte.
3.) Ein persönlicher Punkt: Ferenczi übt die Kritik an dem
analytischen Arrangement, wie Freud es etabliert hat, am Verhalten
Freuds als Analytiker, und schließlich analysiert er seine eigene
Beziehung zu Freud.« (S. 19)
Zu jedem der Punkte nur ein paar erläuternde Anmerkungen. Zum 3.
Punkt. Im Jahre 2005 ist mit dem Band III/2 der letzte von sechs
Bänden der Korrespondenz von Freud und Ferenczi erschienen; er
umfasst die Jahre 1925–1933. Wer sich einen vertieften Einblick in
das Verhältnis der beiden verschaffen will, sei auf diese Bände
insgesamt und den letzten besonders hingewiesen. Zum 1. Punkt. Die
letzten zwei Sätze der »Tagebuch«-Einträge vom 24.8.1932 lauten:
»Wirklicher Coitus mit Kindern (Inzesthandlungen). Auswirkungen
viel häufiger!« Wir Nachgeborenen mögen da nur den Kopf schütteln
und uns fragen, wie es denn möglich war, dass man früher Inzest,
Kindesmissbrauch und Pädokriminalität weniger wahrnahm sowie deren
Folgen unterschätzte. Aber, so sei doch auch gefragt: Um wie viel
weiter sind wir acht Jahrzehnte später denn wirklich?
Der 2. Punkt bedarf einer größeren Erläuterung, denn es handelt
sich hier um eine doch recht komplexe und schwierige Thematik. In
seinem Aufsatz »Ferenczis ›mutuelle Analyse‹ im Lichte der modernen
Analyse« referiert Hans Thomä (2001) die Darstellung, die Balint,
der als Vertrauter Ferenczis sicher der beste Zeuge ist, von der
mutuellen Analyse gibt. »Als den Grundgedanken von Ferenczis
technischen Variationen nannte Balint den folgenden: Der Analytiker
erkenne, dass sein gewohntes Verhalten teilnehmender, aber passiver
Objektivität von manchen Patienten als unerträgliche Versagung
empfunden werde und dass es nichts nütze, wenn man diese
Enttäuschung als Anzeichen der sich entwickelnden
Übertragungsneurose behandle. Entschließe sich der Analytiker nun,
über die traditionelle Passivität hinauszugehen und gewähre er mehr
Befriedigung einiger regressiver Wünsche, entwickle sich ein
circulus vitiosus. Freuds Warnungen und Ferenczis eigene Zweifel,
ob durch extremes Gewähren frühe Traumatisierungen wieder gut zu
machen seien, bestätigten sich.« (S. 264) Thomä (2001) macht aber
auch klar, dass Ferenczi mit seiner Konzeption der »mutuellen
Analyse« ein bedeutsamer Ideen-Geber war. Ich zitiere die
Zusammenfassung (S. 263): »Ausgehend vom klinischen Tagebuch
Ferenczis wird die mutuelle Analyse als tragischer Irrweg
beschrieben, dem jedoch fruchtbare Ideen zugrunde lagen. Diese
haben in der modernen Psychoanalyse, die von der Intersubjektivität
des therapeutischen Geschehens ausgeht, Anerkennung gefunden. Die
gegenwärtige Diskussion über die Teilhabe des Patienten an der
Gegenübertragung greift Ideen von Ferenczi auf, ohne die Asymetrie
der therapeutischen Beziehung zu nivellieren…«
Ferenczi und die Entstehung der humanistisch-experienziellen
Therapie
Die letzten Sätze haben es schon anklingen lassen: In den letzten
Jahren und Jahrzehnten hat sich in der deutschen und
internationalen Psychoanalyse ein starker Wandel vollzogen: weg von
einem methodischen und konzeptuellen Individualismus hin zu einem
»Paradigma der Interaktion« (Buchholz, 2003, S. 87). Für den
deutschen Sprachraum einen Meilenstein in dieser Entwicklung
stellen die 1984 in zwei Bänden veröffentlichten Aufsätze,
geschrieben aus der Erfahrung der psychoanalytischen Praxis, von
Cremerius (1984a, 1984b) dar. Sie beruhen auf den Grundansichten
Freuds und weisen auf wesentliche Impulse von Ferenczi und seinem
Schüler Balint hin. Cremerius (1983) hat in seinem 1982 in
Wiesbaden gehaltenen Vortrag zu Ferenczis Wiesbadener Vortrag von
1932 viel dazu beigetragen, das Tabu öffentlicher Rede über
Ferenczi aufzuheben. Er hat in dem Zusammenhang darauf hingewiesen,
wie viele Neuerer der Nachkriegs-Psychoanalyse sich Ferenczis
bedient haben – oft ohne dies kenntlich zu machen. Freuds Nachruf
auf Ferenczi, verfasst noch im Mai 1933 schließt mit dem Satz: »Es
ist nicht glaublich, daß die Geschichte unserer Wissenschaft seiner
vergessen wird.« Da hatte und hat er Recht.
Ferenczis Spuren – mit und ohne Kennzeichnung – sind auch in der
erst nach dem Zweiten Weltkrieg in (volle) Erscheinung tretenden
humanistisch-experienziellen Therapie zu sehen. Mit
»humanistisch-experienziell« ist eine der vier Hauptströmungen oder
grundlegenden Orientierungen gemeint, die manchmal auch als »Dritte
Kraft« neben Psychodynamik und Behaviorismus (die Systemische
Grundorientierung trat erst später auf den Plan), als
»humanistisch« oder »experienziell« bezeichnet wird. Zu ihm
gehören, um nur die wichtigsten und bekanntesten zu nennen, als
unterscheidbare Ansätze die frühen des Psychodramas, der Gestalt-
und der Personenzentrierten Therapie sowie daraus entstandene
Neuentwicklungen wie Gendlins Experiencing-Ansatz oder Greenbergs
Emotionsfokussierte Therapie. Die Entstehung der »Dritten Kraft«
wird in der Literatur sowohl als Fortentwicklung des
psychodynamischen Ansatzes als auch im Widerspruch zu diesem
entstanden beschrieben (vgl. Johach, 2009). Beides ist richtig. Was
in der Geschichtsschreibung zur Psychotherapie zumeist übersehen
wird, zumindest aber zu kurz kommt, ist: diese »Fortentwicklung im
Widerspruch« verdankt sich in hohem Maße Ferenczi (und Rank).
Namentlich in ihren »Entwicklungszielen der Psychoanalyse« von 1923
(erschienen)/1924 (angegebenes Erscheinungsjahr) haben wir einen
wichtigen Grundpfeiler der »Dritten Kraft« zu sehen.
Wie und in welchem Maße Ferenczi und Rank im Einzelnen zur
Entstehung der humanistisch-experienziellen Therapie beitrugen,
muss im Einzelnen noch geklärt werden; man hat sich dabei vor Augen
zu halten, dass in der Regel beide (mit)zudenken sind, wenn nur der
eine von ihnen als »Beeinflusser« genannt wird. Der Einfluss, den
Rank (1935–1939 in New York ansässig) auf Rogers (damals in der
Nähe New Yorks berufstätig) ausgeübt hat, ist sehr gut dokumentiert
(vgl. Heekerens & Ohling, 2005), für die Wirkung Ranks auf die sich
ab 1946 in New York entwickelnde Gestalttherapie gibt es belastbare
Indizien (vgl. Heekerens & Ohling, 2005; s. ferner
http://www.gestalttherapie-lexikon.de/rank_otto.htm). Rogers
zentrale Konzepte lassen sich, wie das nicht zuletzt im
Buber-Rogers-(Streit-)Gespräch (s.o.) sichtbar geworden ist, mit
zwei Slogans kennzeichnen: »Therapie als Dialog« und »Heilung als
Begegnung«. Wessen therapeutischer Ansatz in der Zeit vor dem
Rogers könnte so charakterisiert werden, wenn nicht der von
Ferenczi (und Rank)?
In der Praxis der Gestalttherapie finden sich Rollenspielelemente,
die dem Psychodrama, die als eigenständiger Therapieansatz
auftreten kann, entlehnt sind. Deren Begründer, Jakob Moreno, hatte
1936 eine kleine psychiatrische Klinik in Beacon, etwas nördlich
von New York übernommen, wo er seinen therapeutischen Ansatz des
Psychodramas (Psychotherapie mittels Stegreifspiels) zur Reife
weiterentwickelte. Es ist bekannt, dass Rank und er sich in New
York trafen; ob und wie er von Rankschem Denken beeinflusst ist,
gälte es zu klären. Wie viel er Ferenczi verdankt, hat Cremerius
(1983) vor über drei Jahrzehnten angedeutet mit der kurzen
Bemerkung, Moreno habe aus der »erstmals von Ferenczi in der
Analyse eines Erwachsenen angewandte ›Spiel-Analyse‹ … die Technik
des Psychodramas« entwickelt (S. 1005). Moreno, das sei angemerkt,
gehört zu jenen, für die Ferenczi »zum Steinbruch geworden (ist),
aus dem sie das Material für ihre ›Neubauten‹ geholt haben, oft
ohne den Fundort anzugeben« (Cremerius, 1983, S. 1006). Keine
Schwierigkeit, Ferenczi zu seinen Vordenkern zu rechnen hat die
Integrative Therapie Hilarion Petzolds (Schuch, o.J.); dort machte
ich (als Ausbildungskandidat) meine leibhaftigen Erfahrungen mit
dem, was seit Ferenczi (und Rank) »aktive Technik« genannt wird und
Freud zur Charakterisierung von Ferenczis Haltung gegenüber seinen
Patienten »Mutterzärtlichkeit« genannt hat.
Um keine falschen Vorstellungen entstehen zu lassen: Ferenczi hat
keine »Blaupausen« für die nach seinem Tod entstehende
humanistisch-experienzielle Therapie geliefert, er hat dafür aber
(mit und neben Rank) Denkanstöße gegeben; und diesen Denkanstößen
gab er im Laufe seines Entwicklungsprozesses als eigenständig
denkender und handelnder Psychotherapeut Kraft und Prägnanz.
»Ferenczi hatte an sein Denken offenbar nicht den Anspruch von
Geschlossenheit und Einheitlichkeit. Um es mit modernen Begriffen
zu bezeichnen: Ferenczi bevorzugte offenbar konnektierendes,
mehrperspektivisches Denken. Ihn schien es nicht sonderlich zu
stören, dass z.B. triebtheoretische und erlebnistheoretische
Perspektiven, die wissenschaftstheoretisch nicht ohne weiteres
kompatibel sind, scheinbar gut verträglich nebeneinander stehen. In
Ferenczis Spätwerk ist insbesondere unter Einbeziehung seines
klinischen Tagebuches von 1932 zwischen beiden Perspektiven eine
eindeutige Verschiebung bzw. Umgewichtung seiner psychologischen
Vorstellungen zugunsten erlebnistheoretischer Positionen
festzustellen.« (Schuch, o.J., S. 4)
»Heilung als Begegnung«
Seit Ferenczi (und Rank) steht die Frage, welche Bedeutung die
therapeutische Beziehung – im Unterschied zu einzelnen »Techniken«
– für den Erfolg der Therapie habe, (verstärkt) im Zentrum der
Aufmerksamkeit. Über diese Frage gab es im Zusammenhang der Frage,
welche Therapieansätze denn die wirksamsten seien, in den letzten
Jahren und Jahrzehnten eine Kontroverse, die – grob gesagt –
zwischen der (Kognitiven) Verhaltenstherapie auf der einen Seite
und der psychodynamischen sowie der humanistisch-experienziellen
auf der anderen ausgetragen wurde. Die beiden Seiten kamen überein,
die Frage empirisch zu klären. Die American Psychological
Association (APA) bildete die Task Force on Evidence-Based Therapy
Relationships (Leitung: John C. Norcross), in der sich
Psychotherapieforscher aus den APA-Sektionen »Klinische
Psychologie« (von der behavioralen Richtung dominiert) und
»Psychotherapie« (dort sammelt sich das nicht-behaviorale Lager)
zusammenfanden.
Im Januar 2011 veröffentlichte diese Taskforce ihre Ergebnisse
(http://www.div12.org/task-force-evidence-based-therapy-relationships),
von denen die ersten zwei hier referiert seien:
„The therapy relationship makes substantial and consistent
contributions to psychotherapy outcome independent of the specific
type of treatment.
The therapy relationship accounts for why clients improve (or fail
to improve) at least as much as the particular treatment
method.”
Die neuzeitliche Psychotherapieforschung hat damit die hohe
Bedeutung, die der therapeutischen Beziehung für den
Behandlungserfolg zukommt, klargestellt.
»Ohne Sympathie keine Heilung«
Sabourin lässt sein Nachwort enden mit zwei Sätzen aus dem
Tagebucheintrag vom 13.8.1932: »Ohne Sympathie keine Heilung.
(Höchstens Einsichten in die Genese des Leidens)« (Tagebuchfassung,
S. 265). »Ohne Sympathie keine Heilung« – das kann und muss man in
einen weiteren Kontext als einen bloß »klinischen« stellen. Der
»Parzival« des Wolfram von Eschenbach, ist das frühste Beispiel
(deutscher Sprache) eines Entwicklungsromans. Zur menschlichen
Entwicklung gehört, dass man im Stadium der »Unreife« Dinge tut,
die die Umwelt und man selbst im Nachhinein »Fehler« nennt. Der von
Parzival begangene Fehler, der in der Literaturwissenschaft als
sein größter oder doch einer seiner größten angesehen wird, ist das
»Frageversäumnis«: Parzival erkundigt sich bei seinem (ersten)
Besuch auf der Gralsburg (V. Buch) nicht nach den schrecklichen
Leiden von Anfortas, was diesen, der auf den Tod als Erlöser nicht
hoffen darf, ein Ende bereitet hätte. Ohne (bekundete!) Sympathie
keine Heilung.
Die Frage, weshalb Parzival schwieg, wo Fragen angezeigt gewesen
wäre, hat schon Wolfram, der hier überlieferten Stoff bearbeitet,
bewegt. Diese Wolframsche Interpretation wiederum ist Gegenstand
eines großen literaturwissenschaftlichen – meist kontrovers
geführten – Diskurses. Ich greife eine »sozialisationstheoretische«
Erklärung (Kordt, 1997) auf und führe diese fort. Parzival, der
vaterlos und in ländlicher Idylle von einer überprotektiven Mutter
behütet ohne männliche Identifikationsfiguren aufwuchs, findet in
Gurnemanz, einen Mann, der »für die gesellschaftliche Norm« (Blank,
1995, S. 119) steht und ihm »an Vaters Statt« (Kittler, 2013, S. 9)
die ritterlichen Tugenden erklärt, ihm also beibringt, was zum
professionelles Verhalten eines Ritters gehört. Dazu ist Gurnemanz
bestens geeignet, er ist ein ausgezeichneter Lehrmeister, ein
houbetman der wâren zuht. Im Zusammenhang der Lehre zur
Gesprächsführung erfährt Parzival u. a., er solle nicht viel fragen
(irn sult niht vil gevrâgen). Auf diese Lehre bezieht sich der Held
angesichts der vielen und heftigen Vorwürfe gegen sein Verhaltens
auf der Gralsburg, indem er zur Erklärung und Rechtfertigung
anführt, er habe doch nur die Lehre befolgt (ich solte vil gevrâgen
niht).
Ja, Parzival hat sich auf der Gralsburg lege artis verhalten, er
hat nach dem Lehrbuch gehandelt. Und eben damit das Falsche getan,
weil er so keine Sympathie, kein syn-pathein, kein mitfühlendes
Verstehen gezeigt, in keinen wirklichen Kontakt mit dem Anderen
getreten ist. Das ist sein Fehler, das ist das Zeichen seine
Unreife. Und was wäre Reife? Ich gebe noch einmal Cremerius (1983,
S. 1010) das Wort: »Müßte ich ein Motto für Ferenczis Leben und
Denken finden, so müßte es aus den gefährlichen und gefährdeten
Bereichen des abenteuerlichen, des verwegenen Herzens kommen. Ich
fand es bei einem mittelalterlichen Alchimisten: ›Rumpite libros,
ne corda vestra rumpantur‹ (Zerreißt eure Bücher, damit nicht eure
Herzen zerrissen werden).«
Fazit
Psychoanalytikerinnen muss man das vorliegende Buch nicht
empfehlen; sie dürften von Ferenzi in ihrer Ausbildung erfahren und
bei Interesse das »Tagebuch« auch gelesen haben. Ich möchte
anlässlich der Neuedition meine Kauf- und Leseempfehlungen an die
Kolleginnen und Kollegen richten, die sich in der
humanistisch-experienziellen Tradition der Psychotherapie sehen.
Unwichtig dabei ist, ob Psychotherapie ihre alleinige Arbeitsweise
ist oder sie diese mit anderen Arbeitsweisen etwa aus der Sozialen
Arbeit kombinieren. Und ohne Belang ist, ob sich jemand nach den
Gesetzen seines Landes »Psychotherapeut« nennen darf und seiner
beruflichen Identität nach nennen will, oder aber, was auch immer
die Gründe sein mögen, sein Tun »Psychosoziale Beratung«, »Soziale
Therapie« oder wie auch immer nennt. Sie alle können dieses Buch
mit Gewinn lesen. In Bibliotheken hochschulischer
Ausbildungsstätten in Klinischer Psychologie oder Klinischer
Sozialarbeit sollte es nicht fehlen.
Ergänzende Literaturnachweise
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Zugriffs 09.04.2014.
www.socialnet.de