Rezension zu Das klinische Tagebuch

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Rezension von Hans-Peter Heekerens

Sándor Ferenczi: Das klinische Tagebuch

Thema
»Manirierte Art des Begrüßens, formelle Aufforderung ›Alles zu sagen‹, die sog. Freischwebende Aufmerksamkeit, die schließlich keine ist und gewiß nicht adäquat dem oft mit großen Schwierigkeiten vorgebrachten gefühlschwangeren Mitteilungen des Analysanden, haben den Effekt: 1) dass der Patient über das mangelnde oder mangelhafte Interesse beleidigt wird; 2) da er über uns nichts Böses oder Abträgliches denken will, sucht er die Ursache der Nicht-Reaktion in sich selbst resp. in der Qualität des Mitgeteilten, 3) schließlich zweifelt er an der Realität des früher noch gefühlsnahen Inhalts.«

Man frage Kolleginnen und Kollegen, die (auch) psychotherapeutisch arbeiten (unter welchem Label auch immer), wer (gesucht ist nicht ein Name, wohl aber eine Position wie etwa »klienten-zentriert«) diesen Text wann (grobe Einschätzungen wie »3./4./5./6. Jahrzehnt des letzten Jahrhunderts« genügen) gegen wen (s. das zu »wer« Genannte) geschrieben haben könnte. Die meisten der von mir Befragten hielten, wenn sie den Text nicht kannten und sich eine Zuordnung wagten, die obige Passage für eine in den 1950ern geäußerte Kritik von Carl Rogers an der (damaligen) Praxis der US-amerikanischen Psychoanalyse. Diese Antwort ist nicht richtig, aber sie enthält, wie im Verlauf der Rezension deutlich werden wird, viel Wahrheit. Vorläufig mag der Hinweis genügen, dass die obigen Worte der erste Satz des »Tagebuchs« sind, eingetragen unter dem Datum 7.1.1932 und außerhalb eines kleinen Zirkels von »Geheimnisträgern« erstmals 1985 bekannt gemacht. Dieses Buch hat, wie andere Bücher auch, nicht nur eine Geschichte, sondern, wie wenige Bücher eine sehr besondere Geschichte. Ein geschichtlicher Zugang zu diesem Buch ist neben einem systematischen unentbehrlich.

Ein viertel Jahrhundert Freud und Ferenczi
Die Bühne der psychoanalytischen Öffentlichkeit betrat der damals 35-jährige Arzt aus Budapest auf einem Treffen verschiedener Psychoanalytiker (es waren tatsächlich nur »Herren«) am 27.4.1908 in Salzburg. Erst am Anfang desselben Jahres hatte Sándor (Alexander) Ferenczi, der sich schon längere Zeit mit den Schriften Sigmund Freuds auseinandergesetzt hatte, diesen in Wien aufsuchte. Das genannte Treffen, auf dem der Vortrag des Nachkömmlings verständlicherweise ans Ende gesetzt wurde, ist unter dem Namen »1. Internationaler Psychoanalytischer Kongresses« in die (psychoanalytische) Geschichtsschreibung eingegangen; »International« wird er dort genannt, weil neben den Wienern (wie Freud, Alfred Adler und Otto Rank) auch etwa Carl G. Jung (Zürich), Ernest Jones (London), Ferenczi (Budapest) und Karl Abraham (Berlin) anwesend waren.

Von den dort damals Anwesenden interessieren im weiteren Verlauf der hiesigen Darstellung neben Freud selbst Ferenczi, Jones und Rank. Der Letzte war der einzige »Laie« (Nicht-Arzt), Sekretär der kurz zuvor gegründeten Wiener Psychoanalytischen Vereinigung und damals Protokollant der Vorträge (die in Kurzform zeitnah veröffentlicht wurden). Ferenczi betrat die Bühne der psychoanalytischen Öffentlichkeit mit einem Paukenschlag: mit seinem (ans Ende gesetzten) Vortrag, dessen Titel gemeinhin mit »Psychoanalyse und Pädagogik« (nachzulesen unter http://www.textlog.de/8897.html) angegeben wird, im Einladungsprospekts aber angekündigt war mit »Welche praktischen Winke ergeben sich aus den Freud´schen Erfahrungen für die Kindererziehung?«. Mit diesem Vortrag, mit dem er einen ganz anderen Ton anschlug als die anderen Referenten (inkl. Freud), offenbarte sich Ferenczi von Anfang an als eigenständiger Denker, der von da an gegenüber Freud in Denken und Handeln »Akzentverschiebungen« (vgl. Harmat 1988) vornahm, mit denen er sich von Freud – in einem ihm selbst nicht voll und ganz bewussten Umfang, wie seine Analysandin Clara Thompson (1952) meint – zunehmend entfernte. Ferenczis Kongress-Vortrag von 1908 konnte Freuds Beifall schwerlich finden, und wurde – wohl nicht zuletzt deshalb – erst Jahre später in ganzem Wortlaut einem breiten Publikum bekannt gemacht. Heute gilt er als Ausgangspunkt zweier Entwicklungen: der Psychoanalytischen Pädagogik und der Analytischen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie (vgl. Heekerens, 2009). Und er ist ein erstes Zeugnis der Überzeugung von Ferenczi, die wir heute als »selbstverständlich« ansehen, ihm aber damals Ärger einbrachte: Reale Kindheitserfahrungen haben eine große Bedeutung in der Ätiologie psychischer Störungen; es kann zu realer Schädigung durch exogene Faktoren kommen.

Trotz inhaltlicher Differenzen, die nicht nur anlässlich dieses Vortrags sichtbar wurden, entzweiten Freud und Ferenczi sich (zunächst) nicht. Die beiden verbrachten Urlaube miteinander, und Ferenczi unterzog sich 1914 bei Freud einer Lehranalyse; der zweiten, der sich ein Analytiker unterzog – die erste hatte Jones 1913 bei Ferenczi gemacht (Cremerius, 1983, S. 990 Anm. 3). Nach außen trat Ferenczi an der Seite Freuds bzw. in dessen Auftrag deutlich in Erscheinung. 1909 fuhren Freud, Ferenczi und Jung – ohne (den »Laien«) Rank – im September in die USA, wo durch Freuds Clark Lectures sein Ansehen und das der Psychoanalyse befestigt wurden; Jones, seit 1908 mit Freud in Kontakt und seit 1909 in Toronto, war ebenfalls dabei. 1910 betraute Freud Ferenczi mit der Aufgabe, in Nürnberg die Internationale Psychoanalytische Vereinigung (IPV) gründen zu lassen (ausf. Ermann, 2010), zu deren erfolgreicher Erledigung Ferenczis Plädoyer (nachzulesen unter http://www.textlog.de/8902.html) seinen Beitrag geleistet hat; am längsten als Präsident der IPV wirkte Jones: 1920–1924 und 1932–1949. Als 1913 auf Vorschlag von Jones das »Geheime Komitee«, Freuds engster Vertrautenkreis und »Schutztruppe«, gegründet wird, gehören ihm nur fünf Personen an: Karl Abraham, Ferenczi, Jones, Rank und Hanns Sachs; 1919 kam Max Eitingon hinzu; der Waliser Jones (1879–1958) ist der einzige Nicht-Jude dieses elitären Zirkels – und er wird alle anderen überleben.

In den Jahren 1918–1919 finden Ereignisse statt, die zeigen, was möglich war, wenn Freud und Ferenczi Hand in Hand arbeiteten. Ende September 1918 – wenige Wochen vor der Kapitulation sowohl des Deutschen Reiches als auch Österreich-Ungarns – wurde Ferenczi auf dem Budapester Kongress der IPV zu deren Präsidenten gewählt. Wenig später war der Krieg zu Ende, Ungarn ein politisch eigenständiger Staat, und die »Asternrevolution« vom Spätjahr 1918 brachte eine linksliberale Regierung unter der Führung des »roten Grafen« Mihály Károlyi an die Macht. Unter ihr wurde Ferenczi (wohl) Anfang 1919 über eine Studentenpetition zum Professor (bzw. zu einer der ordentlichen Professur gleichwertigen Stellung) für Psychoanalyse an der Universität Budapest berufen; die erste Professur für Psychoanalyse und für lange Jahre die einzige. Die im März 1919 an die Macht gekommene Räteregierung bestätigt die Berufung, die aber 1920 nach der Machtergreifung des präfaschistischen Regimes Miklós Horthys sogleich annulliert. Ferner wurde Ferenczi aus der Ärztekammer ausgeschlossen und aller öffentlichen Ämter enthoben; er arbeitete danach in privater Praxis.

Das Angebot zu dieser Professur und dessen Denomination für Psychoanalyse wäre unverständlich, würde man nicht einen näheren Blick auf den Budapester Kongress werfen. Ich zitiere die Darstellung der Deutschen Gesellschaft für Psychoanalyse, Psychotherapie, Psychosomatik und Tiefenpsychologie, dem Dachverband der Psychodynamik Deutschlands: »Auf dem 5. Internationalen Psychoanalytischen Kongress (IPV) in Budapest interessieren sich österreichische, deutsche und ungarische Regierungsvertreter für die therapeutischen Erfolge der Psychoanalyse. Sigmund Freud plädiert für die Massenanwendung der Psychoanalyse (›… dass wir bei der Massenanwendung unserer Therapie das reine Gold der Analyse werden legieren müssen‹) und dafür, sie einer breiten, unbemittelten Bevölkerungsschicht zugänglich zu machen.« (http://dgpt.de/fileadmin/download/Geschichte_der_DGPT/1918_-_1932.pdf) Als Dokument aus jener Zeit ist uns erhalten die von Ferenczi, Freud, Abraham und Ernst Simmel verfasste Schrift »Zur Psychoanalyse der Kriegsneurosen«, erschienen 1919 im Wiener Internationalen Psychoanalytischen Verlag (Gründer und Leiter: Rank, Unterstützer: Ferenczi, Freud und ein Budapester Mäzen). Es ist ein Buch der Kriegsverlierer aus den Mittelmächten; Jones, nach Kriegsende aus dem fernen Toronto nach London übergesiedelt, war auf Seite der Entente-Kriegsgewinnern (zu diesem Unterschied unten mehr).

Wenige Jahre später, im Konflikt Freud – Rank, sehen wir Ferenczi noch immer an der Seite Freuds, wo doch sein Herz für Rank schlug. Mit ihm, dem Kollegen, Freund und Geistesverwandten, hatte er die »Entwicklungsziele der Psychoanalyse« (1923/1924) geschrieben, Rank zudem »Das Trauma der Geburt« (1924). Die beiden Schriften weisen einen engen sachlichen Zusammenhang auf, denn das »Trauma« ist, wie nicht nur der sachliche Vergleich, sondern auch Briefe von Rank bzw. Ferenczi an Freud (vgl. Leitner, 1998, 67-68) belegen, »eigentlich ein Produkt der Experimente mit der aktiven Technik« (Leitner, 1998, S. 67), wie sie in den »Entwicklungszielen« dargestellt sind. Ferenczi scheidet wie Freud (und der Mainstream der Psychoanalyse bis heute) zwischen beiden Schriften und schlägt sich auf die Seite des »Vaters«, nicht des »Bruders«. Wie affektgeladen diese Parteinahme war, illustriert eine Episode: Ferenczi wollte mit Rank (nach dessen Bericht) nicht einmal mehr persönliche Worte wechseln, als sich die beiden später einmal zufällig in New York an der Pennsylvania Station trafen (Taft, 1959, S. 16).

Das Jahr des »Tagebuchs« (1932)
Ferenczi bleibt – um den Preis des Verlustes seines besten Freundes – bei Freud. Vorerst. »Der Herr Professor und sein lieber Sohn« (Nitzschke, 2005 entwickeln sich in den Folgejahren aber in dem Maße auseinander, in dem Ferenczi spürt, dass ihn die Loyalität zu Freud nicht ein fremdes (Ranks), sondern sein eigenes Leben, sein Eigen-Leben kosten würde. Wir können die einzelnen Entwicklungsstufen dieses Prozesses, in dem sich Ferenczi immer mehr auf sich selbst konzentrierte, hier nicht nachzeichnen (vgl. aber die prägnante im Internet zugängliche Darstellung von Schuch, o. J.), sondern springen zum entscheidenden, zum zur Scheidung führenden Jahr 1932. So wie er Ende Mai 1908 mit einem Kongress-Vortrag die Bühne der psychoanalytischen Öffentlichkeit betreten hatte, so verließ er sie bald ein viertel Jahrhundert später mit einem Kongress-Vortrag Anfang September 1932.

Ich gebe hier, weil es anders nicht prägnanter zu formulieren wäre, Johannes Cremerius (1983) das Wort. Es stammt aus dem 1983 in der »Psyche« unter dem Titel »›Die Sprache der Zärtlichkeit und der Leidenschaft‹. Reflexionen zu Sándor Ferenczis Wiesbadener Vortrag von 1932« erschienen Aufsatzes; das ist die erweiterte Fassung eines Vortrags, gehalten auf der Jahresversammlung der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung am 12.11.1982 – ein halbes Jahrhundert später! »Um die Spannung zu mildern und um Ferenczi aus seiner Isolierung herauszuholen, forderte Freud ihn im Mai 1932 auf, sich auf dem Kongreß in Wiesbaden zum Präsidenten der IPV wählen zu lassen (ebd.; gemeint ist Jones’ u.g. Biographie; d. Verf.). Zehn Tage vor dem Kongreß teilte Ferenczi mit, daß er das Angebot nicht annehmen könne, weil seine neuesten Ideen so sehr im Widerspruch zu den angenommenen Prinzipien der Psychoanalyse stünden, daß es ihm nicht mehr ehrenhaft erschiene, letztere in offizieller Position zu vertreten (ebd.). In dieser schwierigen Situation meldete er seinen Vortrag mit dem programmatischen Titel ›Die Leidenschaften der Erwachsenen und deren Einfluß auf Charakter und Sexualentwicklung des Kindes‹ an. Er bat Freud, ihn vorher zu lesen. Dieser schlug ihm nach der Lektüre vor, ein Jahr lang die Arbeit nicht zu publizieren und den Vortrag nicht zu halten, weil er befürchte, dies könne Ferenczis Ruf schaden. Ferenczi ließ sich nicht abhalten …« (S. 989)

Am 2. Oktober 1932 schreibt Freud anlässlich des Wiesbadener Vortrags einen Brief an Ferenczi, dem er seine Missbilligung deutlicher als je zuvor zum Ausdruck bringt. »Mit diesem Brief vom 2. Oktober 1932 endet die 26-jährige Freundschaft zwischen Freud und Ferenczi endgültig.« (Cremerius, 1983, S. 989) Ich zitiere aus dem Brief (nach Lütkehaus, 2006). »[…] Ich glaube nicht mehr, daß Sie sich berichtigen werden, wie ich mich ein Menschenalter vorher berichtigt habe. […] Seit drei Jahren haben Sie sich planmäßig von mir abgewendet, wahrscheinlich eine persönliche Feindseligkeit entwickelt, die weiter geht, als sie sich äußern konnte. Jeder von denen, die mir einmal nahestanden und dann abgefallen sind, konnte mir mehr Veranlassung zur Last legen als gerade Sie […]«.

Mit eben diesem Tag, dem 2.10.1932, enden die Einträge im »Tagebuch«. An diesem Tag – Ferenczi konnte Freuds Brief noch nicht gelesen haben – finden sich Einträge, die nicht als Antwort, wohl aber als Gegenwort zu lesen sind. Ich zitiere daraus die mir am wichtigsten erscheinenden Passagen: »In meinem Falle kam es zu einer Blutkrise im selben Moment, als ich einsah, daß ich auf die Protektion einer ›höheren Macht‹, nicht nur nicht rechnen kann, im Gegenteil, von dieser indifferenten Macht zertreten werde, sobald ich meinen eigenen Weg – und nicht seinen gehe… Und gleich wie ich mir nun neue rote Zellen bauen muß, so muß (wenn ich kann) ich mir eine neue Persönlichkeitsbasis schaffen, wenn ich die bisherige als falsch, unverlässlich, aufgeben muß? Habe ich hier die Wahl zwischen Sterben und ›mich neu einrichten‹, – und das im Alter von 59 Jahren? Andererseits: hat es einen Wert, immer nur das Leben (Willen) einer anderen Person zu leben, – ist solches Leben nicht schon beinahe Tod? Verliere ich zu viel, wenn ich dieses Leben verliere? Chi lo sa?« (S. 277-278)

Nur wenig mehr als ein halbes Jahr später, am 22.5.1933 stirbt Ferenczi an der »Blutkrise«, der Bicmerschen Anämie.

1957: Jones und Ferenczi
Jones hat sich in die Annalen der Psychoanalyse als deren bedeutendster Organisator eingeschrieben. Er hat nicht nur die meisten Jahre als IPV-Präsident vorzuweisen (s.o.), sondern war auch Gründungsmitglied der American Psychoanalytical Association (1911) und (nach seiner Rückkehr nach England) der British Psychoanalytic Society (1919). Auf seinen Anstoß wurde das (bis heute international bedeutendste psychoanalytische Publikationsorgan) »International Journal of Psychoanalysis« ins Leben gerufen, für dessen Herausgeberschaft er 1920–1939 verantwortlich zeichnete. In der Frühphase seiner zweiten IVP-Präsidentschaft (1932–1949) war er an den Verhandlungen mit dem Nazi-Regime beteiligt, die den verbliebenen nicht-jüdischen Analytikern um den Preis einer »judenfreien« deutschen Psychoanalyse weitere berufliche Tätigkeit im Rahmen des so genannten Göring-Instituts sichern sollten (vgl. die Ausführungen unter »Informationen – Geschichte« auf der Homepage der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft: http://www.dpg-psa.de/in_ge.php und unter »Über uns – Geschichte« auf der Homepage der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung: http://www.dpv-psa.de). 1938 half Jones zusammen mit Marie Bonaparte Freud nach der Annexion Österreichs 1938 bei dessen Emigration nach England – seither gilt er als »Retter Freuds« – und blieb mit ihm bis zu dessen Tod 1939 in engem Kontakt. In den Jahren 1953–1957 veröffentlichte er eine voluminöse, dreibändige Freud-Biographie – erstellt im Namen der Freud-Familie. Zu jener Zeit war er Ehrenpräsident der IPV (1949-1958) und (seit 1947) der einzige noch Lebende des »Geheimen Komitees«. Wer, wenn nicht er, konnte als »Hüter des Grals« gelten?

Man ahnt, welches Gewicht Jones’ Worte damals hatten. Und die Worte, mit denen Ferenczi zusammen mit Rank »exkommuniziert« wurden, sind ebenso klar wie hart: »Bei beiden entwickelten sich psychotische Erscheinungen, die sich unter anderem darin äußerten, daß sie sich von Freud und seinen Lehren abwandten.« (Jones, 1984, S. 62; englischsprachiges Original 1957) Da half es nicht, dass mehrer glaubhafte Zeugen – darunter sein wohl bekanntester Analysand und Schüler Michael Balint –, die mit Ferenczi bis in seine letzten Tage in persönlichem Kontakt standen, die Ferenczi pathologisierenden Behauptungen als falsch bezeichneten (Cremerius, 1983, S. 991). Im Winde verhallt war auch der zwei Jahre zuvor von Erich Fromm vorgebrachte Hinweis, wonach die »›offizielle‹ Erfindung« der Geisteskrankheit von Rank und Ferenczi dazu diene, die beiden einzigen produktiven und einfallsreichen Jünger aus der ursprünglichen Gruppe, die nach Adlers und Jungs Abfall geblieben waren, auszuschalten (Fromm, 1984, S. 116; englischsprachiges Original 1955). Posthum auszuschalten, muss man präzisieren; Ferenczi war schon 24 und Rank schon 20 Jahre tot. Nicht sie, ihre Gedanken wurden dem »exorzistischen Scheiterhaufen« übergeben, ihren Ideen galt die »Säuberung«; man kennt Dergleichen aus der Geschichte als Merkmale totalitärer Regimes.

Man kann Jones’ Verhalten im vorliegenden Falle unterschiedlich deuten; in der einschlägigen Literatur dominieren psycho-, gruppen- und »familien«-dynamische Erklärungsversuche, die darzustellen hier nicht der Platz ist. Angemerkt sein soll, dass Jones bei seinem Urteilsspruch aus zumindest zwei Gründen frei von Unrechtsbewusstsein gewesen sein dürfte. Zum einen wusste er: An der von Fromm genannten und in einem längeren Prozess stattfindenden »›offiziellen‹ Erfindung« der Geisteskrankheit war auch Freud selbst beteiligt, sowohl bei Rank (zusammenf. Heekerens & Ohling, 2005) als auch bei Ferenczi, dem er einen paranoiden Persönlichkeitsverfall zuschrieb (Gay, 2006, S. 658). Zum anderen gilt auch hier: Die Sieger schreiben die Geschichte. Jones gehörte zu den Siegern. Wohl schon vor dem Zweiten Weltkrieg, ganz sicher aber nach ihm. Die Welt, auch die für die Psychoanalyse als »Bewegung« relevante, hatte sich in dem halben Jahrhundert zwischen 1917 und 1957 gründlich verändert.

Ich nenne hier nur die wichtigsten Fakten. Mit Ende des ersten Weltkriegs war die Donaumonarchie zerbrochen, die wirtschaftlichen Folgen waren für (Rest-)Österreich und Ungarn noch schlimmer als für Deutschland, Wien und Budapest hatten ihren Glanz verloren – und ihr »Hinterland«, aus dem ihnen über Jahrhunderte »Humankapital« (hier ist das Wort wirklich angebracht) zugeflossen war, verloren; als für die Psychoanalyse bedeutendstes »Hinterland« ist Galizien (dazu unten mehr), die Heimat der Großeltern sowohl von Ferenczi wie von Freud zu nennen. Und: In Ungarn, Österreich und Deutschland werden nationalistische, (prä-)faschistische und anti-semitische Strömungen stärker. Als Reaktion auf die Kriegsverlustfolgen und Miklós Horthys Etablierung eines präfaschistischen Regimes ab 1920 meiden Ungarn oder verlassen es Richtung England oder USA – oft mit Zwischenstopp in Deutschland – (in der Regel jüdische oder jüdischstämmige) Frauen und Männer, die sich »im Westen« einen Namen in der und für die Psychoanalyse machen sollten: beispielsweise Franz Alexander (»Vater« der psychoanalytischen Psychosomatik und Mitbegründer der psychoanalytischen Kriminologie; gest. 1964 in Palm Springs), Therese Benedek (Studentin und wohl auch Analysandin von Ferenczi; gest. 1977 in Chicago), Melanie Klein (zur Bedeutung s.u.; Lehranalyse bei Ferenczi und Abraham; gest. 1960 in London), Margaret Mahler (Pionierarbeiten auf dem Gebiet der Säuglings- und Kleinkindforschung; gest. 1958 in New York), René Spitz (Pionierarbeiten auf dem Gebiet der Säuglings- und Kleinkindforschung; Ausbildung zum Psychoanalytiker bei Ferenczi; gest. 1974 in Denver)und Sándor Radó (ab 1925 einer der drei Chefredakteure der Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse; gest. 1972 in New York).

Es kennzeichnet die damalige Situation, dass Freud aus wirtschaftlichen Gründen gezwungen war, sich vornehmlich zahlungskräftigen US-Amerikanern und Briten anzudienen. In der Zwischenkriegszeit werden noch vor Hitlers »Machtergreifung« England und die USA (vorerst die Ostküste und Chicago) als neuer Wirkungs- und Lebensort attraktiv. Klein ging 1926 auf Einladung von Jones nach London, wo sie für immer blieb. Sie trug mit ihren Schriften zur Ausbildung der Objektbeziehungstheorie bei und gilt neben Anna Freud als Begründerin der Kinderanalyse. Der Streit zwischen beiden Frauen, der die britische Psychoanalyse in den 1940ern und 1950ern bis zum Zerreißen belastete, wäre einmal dahingehend zu prüfen, ob er nicht ein nachgetragener »Stellvertreterkrieg« zwischen Ferenzci und Freud war.

Die USA waren attraktiv nicht nur für Rank (1935; vgl. Heekerens & Ohling, 2005; Ohling & Heekerens, 2004), sondern – man denke an die Weltwirtschaftskrise 1929–1933 – auch für Alexander, der 1930 nach Chicago ging, um ein psychoanalytisches Ausbildungsinstitut nach dem Berliner Vorbild aufzubauen, und an Radó, Sachs und Karen Horney (sie hat über ihre Analysanden und Schüler Abraham Maslow und Fritz Perls die humanistische Bewegung mit auf den Weg gebracht), die sich 1931 aufmachten, das Berliner Ausbildungsmodell (es war grundlegend und wegweisend) in die USA zu exportieren (http://dgpt.de/fileadmin/download/Geschichte_der_DGPT/1918_-_1932.pdf). Nach der Machtübertragung auf Hitler verließen, wenn sie es denn schafften und nicht in die Krankheit, den Selbstmord oder die Todesmaschinerie getrieben wurden, zunehmend mehr jüdische und oppositionelle Psychoanalytiker Deutschland hauptsächlich mit dem Endziel USA oder England: Fromm etwa (1934, New York) oder Perls (1934, Südafrika), Theodor Reik (1933, Niederlande; 1939, USA), Reich (1933, Dänemark; 1934, Norwegen; 1939, USA) und Balint (1939, England). Der Rest überdämmerte im Göring-Institut die Götterdämmerung.

Nach dem Zweiten Weltkrieg waren Deutschland und Österreich wirtschaftlich ruiniert, mehr oder minder zerstört, in größerem oder kleinerem Maße geächtet und Frontstaaten gegenüber dem sowjetischen Imperium. Die Psychoanalyse in Deutschland wie in Österreich war nur noch in personalen Restbeständen vorhanden, die Überlebenden des Naziterrors kamen selten zurück und über den Dagebliebenen lag der Grauschleier des Göring-Instituts, das einen Wiener Ableger hatte. Nach Errichten des Eisernen Vorhangs lag Wien in einem fernen östlichen Winkel des Free Europe und (West-)Berlin war eine vom Westen alimentierte, in ihrer Existenz bedrohte, von ihrer anderen Stadthälfte (bald durch eine Mauer) getrennte Insel im sowjetischen Machtbereich. Die Psychoanalyse hatte das Nazi-Regime überstanden, weil sie sich über den Kanal und den Atlantik hatte retten können, der Ton wurde jetzt in London und New York angegeben. Zu den negativen Folgen der »Amerikanisierung« der Psychoanalyse (vgl. etwa Handlbauer, 2001; Müller, 2000) zählen: Sie wird (gesellschafts-) politisch konservativ, nur Ärzte können sie ausüben und sie wird reduziert auf ihren kurativen Aspekt (Heilbehandlung).

Aus gegebenem Anlass ein Exkurs: Galizien und die Geburt der Psychotherapie
Wer in den Tagen, da diese Rezension geschrieben und veröffentlicht wurde (Februar/März 2014), die Medienberichte über die Geschehnisse in der Ukraine mit einiger Aufmerksamkeit verfolgt hat, dem dürfte aufgefallen sein, dass immer wieder eine westukrainische Stadt ihrer Worte und Taten wegen als im besonderen Maße »prowestlich« oder »Europa-orientiert« beschrieben wird: Lviv (Lemberg). Lemberg (Lviv) ist das historische Zentrum eines Gebietes, das heute zum kleineren Teil zu Polen und zum größeren zur Ukraine gehört, bei der Ersten Teilung Polens (1792) zu Österreich gekommen war und damals die Bezeichnung »Galizien« erhalten hatte (Weiteres im gelungen Wikipedia-Artikel http://de.wikipedia.org/wiki/Galizien). Als eigenständiges staatliches Gebilde (österreichisches Kronland mit wachsender Autonomie) bestand es bis 1918 (Ende der k.u.k Monarchie).

Galizien war ein Land mit vielen Ethnien, Sprachen und Kulturen. Im vorliegenden Zusammenhang interessieren uns nur die Juden, die hier ab Beginn des »Ostfeldzugs« 1941 systematisch umgebracht wurden. Die galizischen Juden gehörten zum osteuropäischen ashkenasischen Judentum mit einer eigenen Sprache, dem Jiddischen, und einer großen Tradition des Gelehrtentums. Die »assimilierten« oder »assimilierungswilligen« Juden sprachen (neben dem Jiddischen oder auch dieses ablehnend) eine der kulturell angestrebten »Hochsprachen« (deutsch oder polnisch) und gegebenenfalls, (eine) andere(n) Verkehrssprachen des Raums (etwa ukrainisch) oder die Sprache der religiösen Schriften (Hebräisch). Die Juden Galiziens waren für Wien, Budapest und später auch die USA ein reiches Reservoir an großen Geistern; von Galizien in verheißungsvolle Länder (manche auch ins verheißene Land) aufgebrochen waren sie selbst, ihre Eltern oder Großeltern.

Nehmen wir zu einer Illustration Freud selbst. Geboren wurde er 1856 in Freiberg in Ostmähren (heute tschechisch Příbor); das liegt näher an Auschwitz (Oświęcim, Polen) als an Brünn (Brno, Tschechien), dem historischen Zentrum Mährens. Weiter war sein Vater auf dem Weg nach Wien nicht gekommen; geboren war der 1815 im heute zur Ukraine gehörenden Teil Galiziens. Aus dessen heute zu Polen gehörendem Teil stammt der Vater von Ferenczi, Baruch Fränkel, der es auf dem Weg nach Budapest nur bis Mischkolz (Miskolc) im Nordosten Ungarn, nahe den heutigen Grenzen zur Slowakei und der Ukraine gebracht hatte, wo er seinen Namen sechs Jahre nach Geburt des Sohnes zu Bernát Ferenczi magyarisieren ließ. Selbst in Galizien geboren ist eine ganze Reihe von Persönlichkeiten, die für die Entwicklung der Psychotherapie eine Rolle gespielt haben. Ich nenne hier nur die vier – nach meiner Beurteilung – bedeutendsten.

Die Abraham A. Brill Library der New York Psychoanalytic Society & Institute ist die wohl größte Bibliothek der Welt für psychodynamisches Schrifttum. Sie trägt den Namen eines der frühesten und aktivsten Exponenten der Psychoanalyse in den USA. Geboren wurde er 1874 im heute zu Polen gehörenden Teil Galiziens, von wo er – darin einer unter vielen – als Jugendlicher alleine und ohne Vermögen in die USA emigriert war. Als zweiter zu nennen ist Wilhelm Reich, geboren 1897 in Dobzau (Dobrjanytschi; heute Ukraine), der in Wien mit Freuds expliziter Billigung als Psychoanalytiker praktizierte, 1920 ausnahmsweise noch als Student in die IPV aufgenommen und aus dieser 1934 ausgeschlossen. Er ist einer der Begründer der Körperpsychotherapie. Seine Schriften, allen voran »Die Massenpsychologie des Faschismus« und »Charakteranalyse« (beide 1933) waren zu meinen Studienzeiten Pflichtlektüre der »nonkonformistischen Avantgarde«; der Hauptfeind war natürlich der Faschismus, aber auch die Orthodoxien sowohl des Marxismus (in Gestalt des Stalinismus) als auch der Psychoanalyse (nach Freudscher Interpretation) wurden ins Fadenkreuz der Kritik gerückt.

Als dritter zu nennen ist Manès Sperber, geboren 1905 im heute ukrainischen Sabolotiw (deutsch Zablotow). Nach dem Ersten Weltkrieg begegnete er in Wien Adler, dessen Schüler und Mitarbeiter er wurde. Auf dessen Anregung zog er 1927 nach Berlin, wo er, bevor der Jude und Kommunist Berlin 1933 verlassen musste, für die Berliner Gesellschaft für Individualpsychologie Vorträge und Ausbildungslehrgänge hielt, seine psychologische Expertise aber auch für die Berliner Zentrale für Wohlfahrtspflege und in der Ausbildung von Sozialpädagoginnen und Fürsorgern (Sozialarbeitern) einbrachte. Sein zentrales Anliegen war, das Psychische und das Soziale, Verhalten und Verhältnisse gleichermaßen zu berücksichtigen. In seiner Romantrilogie »Wie eine Träne im Ozean« (entstanden 1949–1955), die stark autobiografische Züge trägt und in der Zeit zwischen 1931 und 1945 spielt, rechnet er mit dem (stalinistischen) Kommunismus, dem er sich lange verbunden fühlte, ab.

Als vierten und letzten nennen möchte ich Martin Buber, 1878 in Wien geboren, ab dem Alter von vier Jahren bis zum Abitur aber bei seinen Großeltern im Lemberg aufgewachsen. Kennzeichen seines philosophischen Denkens – sein Hauptwerk trägt den Titel »Ich und Du« – ist das Thema des Dialogs als anthropologisches Prinzip. Sein Dialog mit Rogers (neu transskripiert von Anderson & Cissna, 1997), der 1957 – also im Jahr, da Jones Ferenczi verdammte – gehört zu den großen Dokumenten der humanistisch-experienziellen Therapie. Rogers hat in seinen Schriften wiederholt Bezug genommen auf Bubers Dialogphilosophie und dessen »Heilung durch Begegnung« als den Kern seines therapeutischen Ansatzes bewertet.

Zur Entstehungsgeschichte des vorliegenden Buches
Nachdem man jetzt eine Impression davon hat, unter welchen Umständen und in Folge welcher Gedankenentwicklungen das »Tagebuch« entstanden ist, wer sein Autor ist und welches Schicksal ihm und seinen (in Schriften festgehaltenen) Gedanken die »offizielle« Psychoanalyse zu Lebzeiten und weit über seinen Tod hinaus hat angedeihen lassen, ist man vorbereitet für die Entstehungsgeschichte des vorliegenden Buches, was etwas Anderes ist als die Entstehungsgeschichte des »Tagebuchs«.

Balint erzählt uns in dem (1969) geschriebenen Vorwort die Geschichte des »Tagebuch«-Manuskripts, die hier kurz referiert sei. Er und Kolleginnen kamen nach Ferenczis Tod zu dem höchst verständlichen Schluss, die Veröffentlichung auf Zeiten zu verschieben, da es in der psychoanalytischen Gemeinschaft auf mehr Anerkennung stoßen könnte. Als er 1939 nach England emigriert, gibt ihm Ferenczis Frau Gizella die Tagebuchaufzeichnungen und Freuds Briefe an Ferenzci zur Aufbewahrung und Veröffentlichung zu günstiger Zeit mit. Im selben Jahr erklärte das Vereinigte Königreich dem Deutschen Reich den Krieg, Jones ist noch bis 1949 Präsident der IPV und auch danach noch der mächtigste Psychoanalytiker Großbritanniens. Er stirbt 1958, 1968 wird Balint zum Präsidenten der British Psychoanalytic Society, jetzt ist der richtige Moment. Daher der erste Satz seiner Einleitung: »Das Tagebuch, 1932 geschrieben, wird erst jetzt, im Jahre 1969, veröffentlicht.« (S. 32) Es wurde 1969 nicht veröffentlicht, Balint (gest. 1970) erlebte seine Veröffentlichung nicht mehr und er hätte sich nicht träumen lassen, dass das »Tagebuch« erst 15 Jahre nach seinem Tod veröffentlicht würde – in französischer Übersetzung als »Journal clinique« zudem! Das Zweite erklärt sich, wenn man etwas nachforscht (denn Dupont sagt dazu nichts): Dupont, geb. 1925 in Budapest, 1938 mit der Familie nach Frankreich emigriert, wurde dort Ärztin und Psychoanalytikerin. Ihr Vater hatte in Budapest Ferenczi verlegt und sie ist die Nichte von Alice Balint, der ersten Ehefrau Balints aus Budapester Zeiten. Wen wundert es da, denn so blieb alles auch fern der alten Heimat fest in »Budapester Hand«, dass sie auf Wunsch von Ferenczis Stieftöchtern, den leiblichen Töchter von Gizella die Rolle der Literaturagentin für alle Werke Ferenzcis von Balint – nach dessen Tod (Sabourin, S. 286, Anm. 2) – übernahm (Szekacs, 2013) Weshalb die Herausgabe sich von 1969 bis 1985 verzögerte, ist öffentlich zugänglichen Quellen nicht zu entnehmen und Dupont schweigt sich darüber aus. Man muss sich vergegenwärtigen: Da muss ein Verleger gefunden werden, der das unternehmerische Risiko eingeht, und da darf niemand, der Rechte an dem Buch hat, seine Zustimmung verweigern; schon eines der beiden kann dauern.

Die Geschichte ab 1985 ist leicht erzählt. 1988 brachte der Fischer-Verlag, in dem bereits ab 1952 Freuds Werke erschienen waren, das Dupontsche Herausgeberwerk auf Deutsch (und basierend auf dem deutschen »Urtext« des Tagebuchs) unter dem Titel »Ohne Sympathie keine Heilung. Das klinische Tagebuch von 1932« (Taschenbuch 1999) heraus; die 1989 in der »Psyche« erschienene Rezension von Cremerius (1989) ebnete dem »Tagebuch« den Weg auch zu Traditionalisten. Mit der Aufnahme in die Reihe Bibliothek der Psychoanalyse hat das »Tagebuch« seinen rechten Platz gefunden; dort steht es gut neben vielen anderen Klassikern – auch neben Ranks »Trauma«. Das »Urmanuskript« des »Tagebuchs« hat übrigens auch seinen rechten Platz gefunden: Es ist jetzt im Freud-Museum in London (Szekacs, 2013).

Aufbau
Den Hauptteil (242 Seiten) des Buches bilden die mit dem 7.1.1932 beginnenden und 2.10.1932 endenden Einträge in das »Tagebuchs«. Der editorischen Vorbemerkung (S. 38) zufolge, liegt der Satzvorlage ein maschinengeschriebens Manuskript zugrunde, das als Ferencis »Urtext« zu gelten hat, und stammen die Fußnoten von Dupont, von deren ursprünglichen Anmerkungen die ausgenommen sind, die – für hier und heute – als unnötig anzusehen sind. Voran gestellt sind nach dem Inhaltsverzeichnis das Vorwort von Dupont und die Einleitung von Balint. Was von der Einleitung interessiert, wurde oben bei der Entstehungsgeschichte schon genannt. Duponts Vorwort zerfällt in zwei Teile. In einem ersten skizziert sie, die damals als eine der wenigen Einblick hatte in den Ferenczi-Freud-Briefwechsel, unter Zuhilfenahme dieser Korrespondenz die Genese des Tagebuchs. In einem zweiten macht sie eine »Inhaltsangabe« des »Tagebuchs«; »Inhaltsangabe« ist bewusst in Anführungszeichen gesetzt, denn was der »wahre« Inhalt ist, dürfte von Leser zu Leser anders erscheinen.

Das Nachwort stammt von Pierre Sabourin, der sich bis heute aktiv für die Verbreitung von Ferenczis Gedanken einsetzt (s. http://pierresabourin.free.fr/Ferenczi.jpg). Im Nachgang zu Cremerius (1983) und dessen Liste der intellektuellen Erben Ferenczis erweiternd, stellt er die Nachwirkungen der Gedanken Ferenczis (bis 1984) dar (erweiternd Haynal, 2002: das »Disappearing and Reviving« von Ferenczi). Mit einer Danksagung von Dupont an alle, die ihr bei diesem Herausgeberwerk geholfen haben, schließt das Buch.

Inhalt
Jeder, der das »Tagebuch« mit Kenntnis und Interesse liest, dürfte mit (fast) jeder anderen Leserin mit derselben Kompetenz und Motivationslage in Streit darüber geraten, was denn nun im »Tagebuch« stehe. In vielerlei Hinsicht ist es ein projektiver Test; jede(r) wird finden, wonach ihr oder ihm gerade der Sinn ist. Angesichts dessen kann man potentiellen Leser(inne)n nur den Rat geben: Lassen Sie sich beim Lesen des »Tagebuchs« auf Ihre ganz eigene »Reise« ein. Wem dieser Vorschlag denn doch allzu »experienziell« erscheint, mag (vorerst) vorlieb nehmen mit einer gleichsam »offiziösen« Inhaltsangabe, der von Dupont aus ihrem Vorwort.

»Im Grunde aber dreht sich das Tagebuch hauptsächlich um drei große Themen, die Ferenczi von Anfang bis Ende immer wieder aufgreift:

1.) Ein theoretischer Punkt: das Trauma. Unter Berufung auf seine laufenden Analysen rechtfertigt er die Bedeutung, die er der Wirklichkeit des Traumas beimisst, und entwickelt eine Theorie des Traumas, seiner Auswirkungen und seiner Behandlung.

2.) Ein technischer Punkt (mit dem Problem des Traumas eng verbunden): die mutuelle Analyse. Es zeigt auf, wie der Gedanke entstanden ist, wie diese Analyse durchgeführt worden ist und welcher Kritik er sie schließlich unterziehen mußte.

3.) Ein persönlicher Punkt: Ferenczi übt die Kritik an dem analytischen Arrangement, wie Freud es etabliert hat, am Verhalten Freuds als Analytiker, und schließlich analysiert er seine eigene Beziehung zu Freud.« (S. 19)

Zu jedem der Punkte nur ein paar erläuternde Anmerkungen. Zum 3. Punkt. Im Jahre 2005 ist mit dem Band III/2 der letzte von sechs Bänden der Korrespondenz von Freud und Ferenczi erschienen; er umfasst die Jahre 1925–1933. Wer sich einen vertieften Einblick in das Verhältnis der beiden verschaffen will, sei auf diese Bände insgesamt und den letzten besonders hingewiesen. Zum 1. Punkt. Die letzten zwei Sätze der »Tagebuch«-Einträge vom 24.8.1932 lauten: »Wirklicher Coitus mit Kindern (Inzesthandlungen). Auswirkungen viel häufiger!« Wir Nachgeborenen mögen da nur den Kopf schütteln und uns fragen, wie es denn möglich war, dass man früher Inzest, Kindesmissbrauch und Pädokriminalität weniger wahrnahm sowie deren Folgen unterschätzte. Aber, so sei doch auch gefragt: Um wie viel weiter sind wir acht Jahrzehnte später denn wirklich?

Der 2. Punkt bedarf einer größeren Erläuterung, denn es handelt sich hier um eine doch recht komplexe und schwierige Thematik. In seinem Aufsatz »Ferenczis ›mutuelle Analyse‹ im Lichte der modernen Analyse« referiert Hans Thomä (2001) die Darstellung, die Balint, der als Vertrauter Ferenczis sicher der beste Zeuge ist, von der mutuellen Analyse gibt. »Als den Grundgedanken von Ferenczis technischen Variationen nannte Balint den folgenden: Der Analytiker erkenne, dass sein gewohntes Verhalten teilnehmender, aber passiver Objektivität von manchen Patienten als unerträgliche Versagung empfunden werde und dass es nichts nütze, wenn man diese Enttäuschung als Anzeichen der sich entwickelnden Übertragungsneurose behandle. Entschließe sich der Analytiker nun, über die traditionelle Passivität hinauszugehen und gewähre er mehr Befriedigung einiger regressiver Wünsche, entwickle sich ein circulus vitiosus. Freuds Warnungen und Ferenczis eigene Zweifel, ob durch extremes Gewähren frühe Traumatisierungen wieder gut zu machen seien, bestätigten sich.« (S. 264) Thomä (2001) macht aber auch klar, dass Ferenczi mit seiner Konzeption der »mutuellen Analyse« ein bedeutsamer Ideen-Geber war. Ich zitiere die Zusammenfassung (S. 263): »Ausgehend vom klinischen Tagebuch Ferenczis wird die mutuelle Analyse als tragischer Irrweg beschrieben, dem jedoch fruchtbare Ideen zugrunde lagen. Diese haben in der modernen Psychoanalyse, die von der Intersubjektivität des therapeutischen Geschehens ausgeht, Anerkennung gefunden. Die gegenwärtige Diskussion über die Teilhabe des Patienten an der Gegenübertragung greift Ideen von Ferenczi auf, ohne die Asymetrie der therapeutischen Beziehung zu nivellieren…«

Ferenczi und die Entstehung der humanistisch-experienziellen Therapie
Die letzten Sätze haben es schon anklingen lassen: In den letzten Jahren und Jahrzehnten hat sich in der deutschen und internationalen Psychoanalyse ein starker Wandel vollzogen: weg von einem methodischen und konzeptuellen Individualismus hin zu einem »Paradigma der Interaktion« (Buchholz, 2003, S. 87). Für den deutschen Sprachraum einen Meilenstein in dieser Entwicklung stellen die 1984 in zwei Bänden veröffentlichten Aufsätze, geschrieben aus der Erfahrung der psychoanalytischen Praxis, von Cremerius (1984a, 1984b) dar. Sie beruhen auf den Grundansichten Freuds und weisen auf wesentliche Impulse von Ferenczi und seinem Schüler Balint hin. Cremerius (1983) hat in seinem 1982 in Wiesbaden gehaltenen Vortrag zu Ferenczis Wiesbadener Vortrag von 1932 viel dazu beigetragen, das Tabu öffentlicher Rede über Ferenczi aufzuheben. Er hat in dem Zusammenhang darauf hingewiesen, wie viele Neuerer der Nachkriegs-Psychoanalyse sich Ferenczis bedient haben – oft ohne dies kenntlich zu machen. Freuds Nachruf auf Ferenczi, verfasst noch im Mai 1933 schließt mit dem Satz: »Es ist nicht glaublich, daß die Geschichte unserer Wissenschaft seiner vergessen wird.« Da hatte und hat er Recht.

Ferenczis Spuren – mit und ohne Kennzeichnung – sind auch in der erst nach dem Zweiten Weltkrieg in (volle) Erscheinung tretenden humanistisch-experienziellen Therapie zu sehen. Mit »humanistisch-experienziell« ist eine der vier Hauptströmungen oder grundlegenden Orientierungen gemeint, die manchmal auch als »Dritte Kraft« neben Psychodynamik und Behaviorismus (die Systemische Grundorientierung trat erst später auf den Plan), als »humanistisch« oder »experienziell« bezeichnet wird. Zu ihm gehören, um nur die wichtigsten und bekanntesten zu nennen, als unterscheidbare Ansätze die frühen des Psychodramas, der Gestalt- und der Personenzentrierten Therapie sowie daraus entstandene Neuentwicklungen wie Gendlins Experiencing-Ansatz oder Greenbergs Emotionsfokussierte Therapie. Die Entstehung der »Dritten Kraft« wird in der Literatur sowohl als Fortentwicklung des psychodynamischen Ansatzes als auch im Widerspruch zu diesem entstanden beschrieben (vgl. Johach, 2009). Beides ist richtig. Was in der Geschichtsschreibung zur Psychotherapie zumeist übersehen wird, zumindest aber zu kurz kommt, ist: diese »Fortentwicklung im Widerspruch« verdankt sich in hohem Maße Ferenczi (und Rank). Namentlich in ihren »Entwicklungszielen der Psychoanalyse« von 1923 (erschienen)/1924 (angegebenes Erscheinungsjahr) haben wir einen wichtigen Grundpfeiler der »Dritten Kraft« zu sehen.

Wie und in welchem Maße Ferenczi und Rank im Einzelnen zur Entstehung der humanistisch-experienziellen Therapie beitrugen, muss im Einzelnen noch geklärt werden; man hat sich dabei vor Augen zu halten, dass in der Regel beide (mit)zudenken sind, wenn nur der eine von ihnen als »Beeinflusser« genannt wird. Der Einfluss, den Rank (1935–1939 in New York ansässig) auf Rogers (damals in der Nähe New Yorks berufstätig) ausgeübt hat, ist sehr gut dokumentiert (vgl. Heekerens & Ohling, 2005), für die Wirkung Ranks auf die sich ab 1946 in New York entwickelnde Gestalttherapie gibt es belastbare Indizien (vgl. Heekerens & Ohling, 2005; s. ferner http://www.gestalttherapie-lexikon.de/rank_otto.htm). Rogers zentrale Konzepte lassen sich, wie das nicht zuletzt im Buber-Rogers-(Streit-)Gespräch (s.o.) sichtbar geworden ist, mit zwei Slogans kennzeichnen: »Therapie als Dialog« und »Heilung als Begegnung«. Wessen therapeutischer Ansatz in der Zeit vor dem Rogers könnte so charakterisiert werden, wenn nicht der von Ferenczi (und Rank)?

In der Praxis der Gestalttherapie finden sich Rollenspielelemente, die dem Psychodrama, die als eigenständiger Therapieansatz auftreten kann, entlehnt sind. Deren Begründer, Jakob Moreno, hatte 1936 eine kleine psychiatrische Klinik in Beacon, etwas nördlich von New York übernommen, wo er seinen therapeutischen Ansatz des Psychodramas (Psychotherapie mittels Stegreifspiels) zur Reife weiterentwickelte. Es ist bekannt, dass Rank und er sich in New York trafen; ob und wie er von Rankschem Denken beeinflusst ist, gälte es zu klären. Wie viel er Ferenczi verdankt, hat Cremerius (1983) vor über drei Jahrzehnten angedeutet mit der kurzen Bemerkung, Moreno habe aus der »erstmals von Ferenczi in der Analyse eines Erwachsenen angewandte ›Spiel-Analyse‹ … die Technik des Psychodramas« entwickelt (S. 1005). Moreno, das sei angemerkt, gehört zu jenen, für die Ferenczi »zum Steinbruch geworden (ist), aus dem sie das Material für ihre ›Neubauten‹ geholt haben, oft ohne den Fundort anzugeben« (Cremerius, 1983, S. 1006). Keine Schwierigkeit, Ferenczi zu seinen Vordenkern zu rechnen hat die Integrative Therapie Hilarion Petzolds (Schuch, o.J.); dort machte ich (als Ausbildungskandidat) meine leibhaftigen Erfahrungen mit dem, was seit Ferenczi (und Rank) »aktive Technik« genannt wird und Freud zur Charakterisierung von Ferenczis Haltung gegenüber seinen Patienten »Mutterzärtlichkeit« genannt hat.

Um keine falschen Vorstellungen entstehen zu lassen: Ferenczi hat keine »Blaupausen« für die nach seinem Tod entstehende humanistisch-experienzielle Therapie geliefert, er hat dafür aber (mit und neben Rank) Denkanstöße gegeben; und diesen Denkanstößen gab er im Laufe seines Entwicklungsprozesses als eigenständig denkender und handelnder Psychotherapeut Kraft und Prägnanz. »Ferenczi hatte an sein Denken offenbar nicht den Anspruch von Geschlossenheit und Einheitlichkeit. Um es mit modernen Begriffen zu bezeichnen: Ferenczi bevorzugte offenbar konnektierendes, mehrperspektivisches Denken. Ihn schien es nicht sonderlich zu stören, dass z.B. triebtheoretische und erlebnistheoretische Perspektiven, die wissenschaftstheoretisch nicht ohne weiteres kompatibel sind, scheinbar gut verträglich nebeneinander stehen. In Ferenczis Spätwerk ist insbesondere unter Einbeziehung seines klinischen Tagebuches von 1932 zwischen beiden Perspektiven eine eindeutige Verschiebung bzw. Umgewichtung seiner psychologischen Vorstellungen zugunsten erlebnistheoretischer Positionen festzustellen.« (Schuch, o.J., S. 4)

»Heilung als Begegnung«
Seit Ferenczi (und Rank) steht die Frage, welche Bedeutung die therapeutische Beziehung – im Unterschied zu einzelnen »Techniken« – für den Erfolg der Therapie habe, (verstärkt) im Zentrum der Aufmerksamkeit. Über diese Frage gab es im Zusammenhang der Frage, welche Therapieansätze denn die wirksamsten seien, in den letzten Jahren und Jahrzehnten eine Kontroverse, die – grob gesagt – zwischen der (Kognitiven) Verhaltenstherapie auf der einen Seite und der psychodynamischen sowie der humanistisch-experienziellen auf der anderen ausgetragen wurde. Die beiden Seiten kamen überein, die Frage empirisch zu klären. Die American Psychological Association (APA) bildete die Task Force on Evidence-Based Therapy Relationships (Leitung: John C. Norcross), in der sich Psychotherapieforscher aus den APA-Sektionen »Klinische Psychologie« (von der behavioralen Richtung dominiert) und »Psychotherapie« (dort sammelt sich das nicht-behaviorale Lager) zusammenfanden.

Im Januar 2011 veröffentlichte diese Taskforce ihre Ergebnisse (http://www.div12.org/task-force-evidence-based-therapy-relationships), von denen die ersten zwei hier referiert seien:

„The therapy relationship makes substantial and consistent contributions to psychotherapy outcome independent of the specific type of treatment.

The therapy relationship accounts for why clients improve (or fail to improve) at least as much as the particular treatment method.”

Die neuzeitliche Psychotherapieforschung hat damit die hohe Bedeutung, die der therapeutischen Beziehung für den Behandlungserfolg zukommt, klargestellt.

»Ohne Sympathie keine Heilung«
Sabourin lässt sein Nachwort enden mit zwei Sätzen aus dem Tagebucheintrag vom 13.8.1932: »Ohne Sympathie keine Heilung. (Höchstens Einsichten in die Genese des Leidens)« (Tagebuchfassung, S. 265). »Ohne Sympathie keine Heilung« – das kann und muss man in einen weiteren Kontext als einen bloß »klinischen« stellen. Der »Parzival« des Wolfram von Eschenbach, ist das frühste Beispiel (deutscher Sprache) eines Entwicklungsromans. Zur menschlichen Entwicklung gehört, dass man im Stadium der »Unreife« Dinge tut, die die Umwelt und man selbst im Nachhinein »Fehler« nennt. Der von Parzival begangene Fehler, der in der Literaturwissenschaft als sein größter oder doch einer seiner größten angesehen wird, ist das »Frageversäumnis«: Parzival erkundigt sich bei seinem (ersten) Besuch auf der Gralsburg (V. Buch) nicht nach den schrecklichen Leiden von Anfortas, was diesen, der auf den Tod als Erlöser nicht hoffen darf, ein Ende bereitet hätte. Ohne (bekundete!) Sympathie keine Heilung.

Die Frage, weshalb Parzival schwieg, wo Fragen angezeigt gewesen wäre, hat schon Wolfram, der hier überlieferten Stoff bearbeitet, bewegt. Diese Wolframsche Interpretation wiederum ist Gegenstand eines großen literaturwissenschaftlichen – meist kontrovers geführten – Diskurses. Ich greife eine »sozialisationstheoretische« Erklärung (Kordt, 1997) auf und führe diese fort. Parzival, der vaterlos und in ländlicher Idylle von einer überprotektiven Mutter behütet ohne männliche Identifikationsfiguren aufwuchs, findet in Gurnemanz, einen Mann, der »für die gesellschaftliche Norm« (Blank, 1995, S. 119) steht und ihm »an Vaters Statt« (Kittler, 2013, S. 9) die ritterlichen Tugenden erklärt, ihm also beibringt, was zum professionelles Verhalten eines Ritters gehört. Dazu ist Gurnemanz bestens geeignet, er ist ein ausgezeichneter Lehrmeister, ein houbetman der wâren zuht. Im Zusammenhang der Lehre zur Gesprächsführung erfährt Parzival u. a., er solle nicht viel fragen (irn sult niht vil gevrâgen). Auf diese Lehre bezieht sich der Held angesichts der vielen und heftigen Vorwürfe gegen sein Verhaltens auf der Gralsburg, indem er zur Erklärung und Rechtfertigung anführt, er habe doch nur die Lehre befolgt (ich solte vil gevrâgen niht).

Ja, Parzival hat sich auf der Gralsburg lege artis verhalten, er hat nach dem Lehrbuch gehandelt. Und eben damit das Falsche getan, weil er so keine Sympathie, kein syn-pathein, kein mitfühlendes Verstehen gezeigt, in keinen wirklichen Kontakt mit dem Anderen getreten ist. Das ist sein Fehler, das ist das Zeichen seine Unreife. Und was wäre Reife? Ich gebe noch einmal Cremerius (1983, S. 1010) das Wort: »Müßte ich ein Motto für Ferenczis Leben und Denken finden, so müßte es aus den gefährlichen und gefährdeten Bereichen des abenteuerlichen, des verwegenen Herzens kommen. Ich fand es bei einem mittelalterlichen Alchimisten: ›Rumpite libros, ne corda vestra rumpantur‹ (Zerreißt eure Bücher, damit nicht eure Herzen zerrissen werden).«

Fazit
Psychoanalytikerinnen muss man das vorliegende Buch nicht empfehlen; sie dürften von Ferenzi in ihrer Ausbildung erfahren und bei Interesse das »Tagebuch« auch gelesen haben. Ich möchte anlässlich der Neuedition meine Kauf- und Leseempfehlungen an die Kolleginnen und Kollegen richten, die sich in der humanistisch-experienziellen Tradition der Psychotherapie sehen. Unwichtig dabei ist, ob Psychotherapie ihre alleinige Arbeitsweise ist oder sie diese mit anderen Arbeitsweisen etwa aus der Sozialen Arbeit kombinieren. Und ohne Belang ist, ob sich jemand nach den Gesetzen seines Landes »Psychotherapeut« nennen darf und seiner beruflichen Identität nach nennen will, oder aber, was auch immer die Gründe sein mögen, sein Tun »Psychosoziale Beratung«, »Soziale Therapie« oder wie auch immer nennt. Sie alle können dieses Buch mit Gewinn lesen. In Bibliotheken hochschulischer Ausbildungsstätten in Klinischer Psychologie oder Klinischer Sozialarbeit sollte es nicht fehlen.

Ergänzende Literaturnachweise

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Sandor Ferenczis Wiesbadener Vortrag von 1932. Psyche, 37, 988-1015.
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Cremerius, J. (1984b). Vom Handwerk des Psychoanalytikers: DasWerkzeug der psychoanalytischen Technik Bd. 2. Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann Holzboog.
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Rezensent
Prof. Dr. Dr. Hans-Peter Heekerens
Hochschullehrer für Sozialarbeit/Sozialpädagogik und Pädagogik an der Hochschule München

Zitiervorschlag
Hans-Peter Heekerens. Rezension vom 20.03.2014 zu: Sándor Ferenczi: Das klinische Tagebuch. Psychosozial-Verlag (Gießen) 2013. 298 Seiten. ISBN 978-3-8379-2310-0. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, http://www.socialnet.de/rezensionen/16363.php, Datum des Zugriffs 09.04.2014.

www.socialnet.de

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