Rezension zu Wendepunkte (PDF-E-Book)
Analytische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie 159, 3/2013
Rezension von Anna Gätjen-Rund
Bernd Nissen (Hrsg.): Wendepunkte
Erneut hat Bernd Nissen einen sowohl hinsichtlich der klinischen
wie auch der theoretischen Beiträge verdichteten Band mit
interessanten Autoren zusammengestellt. Wendepunkte werden von ihm
als Ergebnis von Transformationen beschrieben, die sowohl
Veränderungen als auch Neuordnungen im seelischen System umfassen,
als auch die Verarbeitung innerer und äußerer Eindrücke betreffen
können. Es geht ihm um die Frage, wie in pathologischen
Organisationen Transformationen zustande kommen und somit
Wendepunkte in einer Behandlung darstellen können.
Schon Freud warf diese Frage auf, und Bernd Nissen verfolgt sie im
Werk von Bion, wie kleinianische Autoren, bis hin zu Ferro, der
dieser Frage aus dem Blickwinkel der Feldtheorie nachgeht. Damit
wird auch deutlich, dass eine Sichtweise des analytischen Prozesses
vorherrscht, die als Koproduktion von Patient und Analytiker
verstanden wird. Nicht mehr und nicht weniger als diesen
unbewussten Kommunikationsprozess bei schweren pathologischen
Organisationen klinisch zu untersuchen und zu konzeptualisieren,
verschreiben sich die insgesamt 14 Beiträge. Jeder Beitrag für
sich ist hoch komplex und man wird lange in dem Buch lesen
können.
Das Buch ist in vier Teile gegliedert. In Teil 1 werden Wendepunkte
an drei Kinderbehandlungen illustriert. Im zweiten Teil werden
Wendepunkte anhand von Fallvignetten sowohl aus Kinderbehandlungen
als auch aus Erwachsenenbehandlungen dargestellt. In Teil 3 werden
Wendepunkte an ausführlichen Behandlungsverläufen erwachsener
Behandlungen erörtert. Im abschließenden Teil 4 werden Wendepunkte
aus rein theoretischer Perspektive beleuchtet.
Den Auftakt des Buches gestaltet Veronica Mächtlinger mit einer
Arbeit über Resillienz, die seinesgleichen sucht. Ihr Anliegen,
über die Bulldog-Bank-Kinder zu schreiben, erläutert sie mit
ihrer Frage, ob wir den Menschen, die trotz grausamer früher
Erfahrungen ein später befriedigendes Leben führen konnten, nicht
zu wenig gerecht werden, wenn wir uns nur auf die Verwundbarkeit
und zu wenig auf die Resillienz, die Widerstandsfähigkeit
konzentrieren. Mächtlinger spürt den Bedingungen nach, wie es
diesen sechs Kindern, die Theresienstadt ohne Eltern überlebten,
möglich war, später ein Leben in Beziehung und Glück zu leben.
Alle verloren ihre Mutter bei der Geburt oder in den ersten
Lebensmonaten und in der Beziehung zu ihren Betreuern erlebten sie
in nur sehr geringem Umfang eine Befriedigung ihrer
Grundbedürfnisse. Sie alle wurden im Alter zwischen sechs und
zwölf Monaten nach Theresienstadt geschickt. Anschließend wird der
Lebensweg dieser Kinder, deren »Heimat« die Gruppe wurde, die
später nach London zu Anna Freud kamen und adoptiert wurden,
beschrieben. Dieser klinisch-theoretische Beitrag ist auch eine
Erinnerung an die großartige Arbeit Anna Freuds.
Angelika Staehle gelingt es dann, aus einer packenden
Kinderbehandlung mit der 9-jährigen Mira, einem
entwicklungsgestörten Mädchen mit autistoiden Zügen, einen
Prozess vom Schatten- und Doppelgänger-Dasein zu einer
Psychisierung des Selbst zu beschreiben und anhand von Bildern zu
verdeutlichen. Maria Rhode untersucht in »Formen der Schwelle« zwei
ihr in der Behandlung von autistischen Kindern auffallende
Phänomene, nämlich die Beschäftigung mit geometrischen Formen
und die Pre-Okkupation mit Türen und Türgriffen. Sie vertritt die
These, dass beide miteinander in Beziehung stehen, da beide eine
Konstruktion eines emotionalen Raumes betreffen sowie die daraus
resultierende Fähigkeit, sich zum physikalischen Raum in Beziehung
zu setzen. Detaillierte Einsichten in die Behandlung der
4-jährigen Mary, wie dem 3-jährigen Sasha, verdeutlichen ihre
These in eindrücklicher Weise und zeigen, wie sich seelisches
Erleben innerhalb einer Behandlung erweitert und verändert. Im
zweiten Teil skizziert Joshua Durban in seinem Artikel
»Vergänglichkeit und die inneren Beziehungen zum Todesobjekt«
zunächst die Frage nach der Repräsentierbarkeit des Todes und den
damit zusammenhängenden kontroversen Diskussionen innerhalb der
psychoanalytischen Theorie. In seinen fesselnden Beschreibungen
klinischer Vignetten aus Kinder- und Jugendlichen-Behandlungen
illustriert er sein Konzept eines »Objekt Nicht Existenz«, welches
er Todesobjekt nennt, und zeigt seine klinische Umgangsweise damit
auf. Er erzählt von Yossi, der an einer lebensbedrohlichen
Bluterkrankung litt; Eran, ein zwölfjähriger Junge, der wegen
sozialer Isolation, Depressionen und Selbstmordabsichten zur
Analyse kam; Maya, ein siebenjähriges Mädchen, welches an
schwerem Autismus litt und abschließend die Träume der
15-jährigen Eva, die an schweren Depressionen litt und in der
Behandlung eine Anorexie entwickelte. Alle vier Vignetten sind
klinisch ausgesprochen lehrreich, und es dauert einen, dass er
diese spannenden Behandlungen nur so kurz darstellt.
Für alle klinisch interessierten Kinderanalytiker sind die bisher
genannten Beiträge sicher die ertragreichsten, was aber die
Neugier auf die weiteren spannenden Arbeiten nicht nehmen sollte.
Judith Mitrani, sicher vielen bekannt durch ihre
Autismus-Forschungen, stellt an verschiedenen kurzen Vignetten die
wichtigsten autistischen/autistoiden Merkmale zusammen, um dann
behandlungstechnische Modelle der Überwindung zu diskutieren.
Erika Krejci vermittelt in ihrem Aufsatz: »Zur Verleugnung von
Spaltungen in der Übertragung/Gegenübertragung und zur »geheimen
Verrücktheit« im analytischen Prozess« ihr Verständnis von
symptomarmen Patienten, die nach Freuds Unterscheidung vor allem an
Hemmungen verschiedener Ich-Funktionen leiden, nicht so sehr an
neurotischen Symptomen. Sie kommen wegen Gefühlen von Leere und
Entfremdung, Beziehungslosigkeit und Gefühlsarmut, vagen Ängsten,
innerer Unruhe, Anspannung oder Neigung zu Depressionen und
Stimmungsschwankungen, so die Autorin.
Im Beitrag von Norbert Matejek findet sich dann eine profunde
Bion-Kenntnis, die das Raster von Bion leicht verstehbar darstellt.
Mit seiner Arbeit mit Herrn A. illustriert er die Schwierigkeit mit
einem psychotischen Patienten, analytisch zu deuten, und sein
technischer Ratschlag ist eine sehr haltende, zurücknehmende, nach
innen gekehrte Deutungsfunktion, die über lange Zeit Nicht-Wissen
im Bionschen Sinne ertragen muss.
Johannes Picht beschließt dieses Kapitel mit der Darstellung eines
Patienten mit einem psychosomatischen Symptom: einem Tinnitus. Die
Entwicklung des Paienten, seine Transformationen psychischen
Geschehens sind beeindruckend, aber der Tinnitus bleibt. Dieser
wird von Picht als erste Transformation begriffen und in Bezug zu
einem Schrei gesetzt. Die Differenz zwischen Tinnitus und Schrei
setzt Picht zu dem von Heidegger entwickelten Begriffspaar
»reißende Zeit« und »aufgerissene Zeit« in Beziehung. Der Tinnitus
lässt die »reißende Zeit« stagnieren, entfaltet aber keinen
»Aufriss« der Zeit. So diskutiert er das Verhältnis von Zeit und
Transformation.
In dem sich nun anschließenden vierten Teil stehen wieder
ausführliche Behandlungsverläufe, nun aus
Erwachsenenbehandlungen, im Zentrum. In seiner unnachahmlichen
Weise, klinisches Material zu präsentieren und theoretisch
einzubinden, schildert Bernd Nissen aus einer Behandlung mit einem
hypochondrischen jungen Mann, dessen extremer Körpergeruch und
Toilettengänge vor der Stunde eine nicht leicht zu handhabende
Situation in der Analyse schafften. Ebenso erhellend sind die
theoretischen Ausführungen zu den Unterschieden zwischen
autistoiden Einkapselungen und traumatischem Erleben, wie seine
Einführung in ein theoretisches Modell zur Entstehung des
Psychischen und der Entfaltung des Seelischen, welches er vor allem
mit Bion skizziert.
Ich denke, die meisten werden das Buch nach den einzelnen Kapiteln
aus der Hand legen und den »verdichteten Stoff« etwas sacken
lassen. Ein erneutes Wiederaufnehmen wird aber mit einer Vertiefung
des bisherigen belohnt. Nach dem »kräftigen Stoff« von Bernd
Nissen beschreibt Gerhard Schneider die Transformationen einer
autistoiden Organisation und die entsprechenden Wendepunkte einer
langjährigen hochfrequenten analytisch fundierten Psychotherapie
mit einer Frau.
Mit »Ihr knackt mich nicht« gelingt es dann Jutta Gutwinski-Jeggle,
eine packende und anschauliche Fallgeschichte zu beschreiben. Nach
einer leichtfüßigen Veranschaulichung der wichtigsten
pathologischen Organisationen schildert sie ihre Arbeit mit einer
29-jährigen Frau. Sie nimmt die Leserin quasi mit ins
Behandlungszimmer und lässt sie an behandlungstechnischen Fragen
unmittelbar partizipieren. Die Not, in die die Analytikerin mit
dieser Patientin kommt, die an Anorexie erkrankt und
Deutungsoptionen kaum zugänglich war, ist spürbar. Beendet wird
dieser Teil von Herman Beland mit einer beeindruckenden klinischen
Studie unter Bezugnahme auf Theorien wie Bion, Rosenfeld, Meltzer,
Tustin, Rey und Steiner, womit er die theoretischen Vorlieben der
in diesem Band versammelten Autoren wiedergibt.
Am Ende stehen zwei theoretische Beiträge von Dorothee Stoupel und
Dietmut Niedecken, die die verdichteten Aufsätze auf eine andere
Weise nachklingen lassen und damit einen gelungenen und
erkenntnisreichen Abschluss darstellen.
Anna Gätjen-Rund, Berlin