Rezension zu Suizidalität (PDF-E-Book)
Journal für Psychoanalyse Ausgabe 54 2013: Mobilität – Identität – Kultur
Rezension von Dragica Stojkovic
Rezension: Benigna Gerisch – Suizidalität
Benigna Gerischs Buch »Suizidalität« erschien in der Reihe Analyse
der Psyche und Psychotherapie im Verlag Psychosozial und umfasst
140 Seiten. Es ist der sechste Band der Reihe, deren Ziel es ist,
populäre psychoanalytische Begriffe und Konzepte, die längst
über die Psychoanalyse hinaus wirksam geworden sind, von
Expertinnen und Experten in kompakter Form erläutern zu lassen.
Der gewählte Begriff wird in seiner historischen Entwicklung
skizziert und hinsichtlich Funktion und Nutzen in therapeutischen
Prozessen thematisiert.
Vorwort und Einführung
Die Verstehens- und Erklärungsmodelle von Suizid sind ebenso alt
wie das Phänomen selbst und Teil von Prozessen der »Politisierung,
Tabuisierung, Kriminalisierung, Pathologisierung und
Mythologisierung« (S. 9). Freuds Werk – spezifischer, die
Einführung des dynamischen Unbewussten – wird als Auslöser eines
Paradigmenwechsels eingeführt, der »eine zentrale Unterscheidung
von äußerem Anlass und unbewusster Konfliktdynamik« (S. 11) nach
sich zieht.
Die Einführung bietet einen recht knappen Überblick zu
epidemiologischen Daten sowie zur Entwicklung der Suizidologie.
Nach der Feststellung des Wechsels von religiös und philosophisch
motivierten Fragestellungen zugunsten des
medizinisch-psychosozialen Paradigmas, wird auf verschiedene
Forschungsstränge und Erklärungsmodelle der Suizidalität
eingegangen.
Zur (Weiter-)Entwicklung psychoanalytischer Konzeptionen der
Suizidalität
Auf einen Überblick zum »Symposium über Selbstmord« (1910), das
gemeinhin als die »erste psychoanalytische Fachdiskussion über den
Suizid« (S. 22) gilt, folgt eine ausgezeichnete Erläuterung von
Freuds und Abrahams Melancholiemodell der Suizidalität. Mit der
Darstellung der Todestriebtheorie von Freud und deren
Weiterentwicklung durch Menninger werden die Ausführungen zu
frühen psychoanalytischen Konzeptionen der Suizidalität
abgeschlossen.
Die Narzissmus- sowie die Objektbeziehungstheorie erscheinen in
einem neuen Kapitel als Weiterentwicklungen psychoanalytischer
Erklärungsmodelle der Suizidalität und werden nach ihrer
Zusammenfassung kritisch kommentiert und kontextualisiert.
Daraufhin wird Kinds objektbeziehungstheoretisches Modell der
Suizidalität vorgestellt, das postuliert, Suizidalität enthalte
eine regulierende und interaktionelle Funktion. Das Modell wird als
unabdingbare Bereicherung praktischer und theoretischer
Überlegungen zur Suizidalität bewertet. Bisher konkurrierende
Konzepte (Aggressionsumkehr vs. narzisstische Regressionsvorgänge)
können nun gemeinsam gedacht werden; zudem werden
Wandlungsprozesse des vielschichtigen Symptoms »Suizidalität« im
Laufe des Lebens und des psychoanalytischen Prozesses theoretisch
fassbar.
Der längste Teil der Darstellung psychoanalytischer Theorien der
Suizidalität gilt den gegenwärtigen Konzeptualisierungen, die den
triebtheoretischen Fokus »auf die Affekte und Emotionen sowie die
Bedeutung des Anderen einschließlich der intrapsychischen
Metamorphosen von Selbst- und Objektszenarien« hin erweitert haben
(S. 42). Suizidalität wird mit Aspekten von Beziehung, Trennung,
Getrenntheit und den darum kreisenden psychoanalytischen Konzepten
(z. B. Trauer, Melancholie, Strukturbildung, Mentalisierung und
insbesondere kleinianischen sowie postkleinianischen Konzepten) neu
verstanden.
Die Autorin vertritt die Meinung, dass darauf verzichtet werden
sollte, die Ernsthaftigkeit von Suizidalität anhand von Methoden,
Arrangement, Motiven u. ä. einschätzen zu wollen – es handle sich
um allzu unzuverlässige Prädiktoren, die zudem keine Aussagen
über das suizidale Erleben eines Patienten ermöglichen.
Am Ende der Kapitel zu psychoanalytischen Konzepten der
Suizidalität wird auf Pourshirazis Arbeit »Suizidalität und
Beziehung« eingegangen, die mit Bezug auf dialogphilosophische
Theorien (z. B. Buber und Lévinas) zu theoretischen und
technischen Aspekten der Psychotherapie mit suizidalen Menschen
beiträgt und eine sorgfältige Analyse von Suizidforentexten
vorlegt.
Schauplätze und Varianten des Suizidalen
Das Kapitel beginnt, indem es »die agierende, lärmende,
krisenhafte Suizidalität [...] von anderen Formen der verhüllten,
lautlosen, sprachlosen Suizidalität« unterscheidet und letztere im
Anschluss daran charakterisiert (S. 64). Unter Bezugnahme auf
Green, Bion, Fonagy u. a. wird die stumme Suizidalität als ein im
Konkretismus verhaftetes, Gedanken und Realität gleichsetzendes
Phänomen dargestellt, das in Form von Körpersprache
Unverstandenes, Unverdautes und Unbekanntes formuliert und im Falle
einer begonnen Psychotherapie auf die Hilfe eines »professionellen
Übersetzers«, eines Interpreten hofft (S. 67). Die herausragende
Bedeutung der Entwicklung und Zurverfügungstellung eines
tragfähigen Containments wird in diesem Zusammenhang betont:
»Spätestens hier zeigt sich die Begrenztheit der
handlungsorientierten Krisenintervention, die managend den
Handlungsdruck des Suizidalen abzufedern versucht und damit die
Chance vergibt, im verstehenden Prozess das zur Verfügung zu
stellen, woran es a priori gemangelt hat: ein tragfähiges
Containment« (S. 68).
Versuche, präverbal Suizidales der Kommunikation zugänglich zu
machen (z. B. durch Metaphern), werden dem Leser unter Einbezug von
Fallvignetten vermittelt. Zudem erhält er Einblick in die
polyphone Todesmetaphorik und die vielschichtigen
Todesfantasien.
Schliesslich wendet sich der Text dem Hauptschauplatz der
Suizidalität zu: dem Körper. Er wird als »Leibbühne
intrapsychischer Katastrophen« (S. 78) entworfen und hinsichtlich
der Aspekte Geschlecht/Gender, Identitätsbildung, projektive
Verwendung, Entwicklung von Aggression, Selbstoptimierung sowie
ästhetisierenden und destruktiven Praktiken thematisiert. Dabei
wird aufgezeigt, weshalb suizidale Menschen für gewisse
destruktive Formen moderner Phänomene besonders anfällig
sind.
Phasen, Komplikationen und Empfehlungen für Psychotherapien mit
suizidalen Patienten
Die Autorin stellt in den letzten Kapiteln prototypisch die
Behandlungsphasen einer psychodynamischen Psychotherapie vor, dies
auf der Basis des Konzepts des Therapiezentrums für
Suizidgefährdete (Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf), wo die
Therapien im Schnitt ein bis eineinhalb Jahre dauern und eine
Sitzung pro Woche umfassen. In Anlehnung an Argelander werden die
Aufgaben des Erstgesprächs aufgezeigt und für die therapeutische
Begegnung mit suizidalen Patienten spezifiziert. Nach geminderter
suizidaler Krise und geringerem Handlungsdruck wird während der
sogenannten Behandlungsphase der Fokus auf Selbstreflexion und
Anerkennung gelegt – dies in stetiger Arbeit in und an der
Übertragungs‐ und Gegenübertragungsbeziehung. Mögliche
Beziehungsmuster werden skizziert und kommentiert. Die
Abschlussphase steht im Zeichen einer sinnhaften
Kontextualisierung. Ihr kommt angesichts der Tatsache, dass
Trennungen ein sensibles Thema in der Biografie von den meisten
suizidalen Patienten sind, große Bedeutung zu. Nicht selten sind
Trennungen (z. B. durch den Urlaub des Therapeuten bedingt) bereits
im Laufe der Therapie belastend für den Patienten und können zu
erneuten krisenhaften Phasen führen. Deshalb sollten Trennungen
vom Therapeuten »im Reflex auf das faktische Therapieende«
fokussiert und möglichst schon im Vorfeld, beispielsweise in Form
von Urlaubsvertretungen, organisiert werden (S. 106). Endphasen
umfassen oft Prozesse des acting-in und acting-out, dabei gilt zu
beachten, »dass die Lockerung des Rahmens oder die manipulativ
erzwungene Rücknahme der Beendigung keineswegs eine
suizidprophylaktische Wirkung entfaltet, sondern kontraproduktiv
die Verfestigung einer sadomasochistischen Verclinchung sowie ein
suizidales Agieren induzieren kann« (S. 107).
»Behandlungsklippen« gibt es aber bereits vor dem Ende der
Therapie: Es gilt Gegenübertragungshass auszuhalten, sich zum
bösen Objekt transformieren lassen zu können und manipulativen
sowie sexualisierten Übertragungen unter Wahrung des
therapeutischen Settings standzuhalten. Die therapeutischen Hürden
und Prozesse werden mit Fallbeispielen verdeutlicht.
Psychische Veränderungen brauchen Zeit – auch und insbesondere bei
suizidalen Patientinnen und Patienten. Das Buch endet
dementsprechend mit einem Plädoyer für einen angemessenen
Zeitrahmen psychotherapeutischer Behandlungen, die nicht im Dienst
der gesellschaftlichen Abwehr des Themas Suizidalität stehen.
Fazit
Gerischs Buch ist in einem ästhetisch ansprechenden und im
Lesefluss angenehmen Schreibstil verfasst. Inhaltlich bietet der
Text nicht nur einen fundierten Überblick zum Thema Suizidalität,
sondern ermöglicht zugleich einen kommentierten Einblick in das
psychoanalytische Denken und Arbeiten über den spezifischen
Bereich der Suizidalität hinaus.
Kritisch sei angemerkt, dass verschiedene psychoanalytische
Begriffe oft dicht aufeinander erscheinen und durch geschickte
Gedankenzüge miteinander verwoben sind. Während dies für
Psychoanalyse-Laien oder Studierende schwer verständlich sein
könnte, hinterlässt es jene, denen die Begriffe gängig sind,
interessiert und auf theoretische Vertiefung hoffend, die im Rahmen
einer kompakt gehaltenen Publikationsreihe nicht geboten werden
kann.
Die Lektüre des Buches lohnt sich für alle, die mit suizidalen
Patientinnen und Patienten arbeiten, da psychoanalytischer
Theorienreichtum praxisbedacht vermittelt wird, ohne Tendenzen der
Trivialisierung zu erliegen. Der Text enthält viele Fallvignetten,
deren fundierte Kommentierungen Gerischs jahrelange theoretische
und praktische Erfahrung so enthalten, dass der Leser Aspekte davon
für die eigene Arbeit fruchtbar machen kann. Auch für jene, die
sich für Sprachkonzepte (z. B. Brücken zwischen Körper- und
verbaler Sprache) interessieren oder nach
Verknüpfungsmöglichkeiten verschiedener psychoanalytischer
Denkrichtungen suchen und es schätzen, schwierige Konzepte kompakt
und präzise vermittelt zu erhalten, ist es eine empfehlenswerte
Lektüre. Gerade für die Verknüpfung von sprachtheoretischen und
klinischen Überlegungen ist Gerisch – deren Versiertheit mit
literaturtheoretischen Konzepten deutlich erkennbar ist – eine
wertvolle Autorin.