Rezension zu Sigmund Freuds erstes Land (PDF-E-Book)
Schweizerische Ärztezeitung 10/2014
Rezension von Paul Hoff
Eine Analyse der Psychoanalyse
Die Schweizer Psychiatrie- und Psychotherapielandschaft ist oft zu
einem Schmelztiegel unterschiedlichster Strömungen geworden. Dies
ebnete den Weg nicht nur für Amalgamierungen, sondern auch für
scharfe Abgrenzungen und echte Neuentwicklungen. Etwas zürichlastig
sei hinzugefügt: Es macht viel Sinn, die Historie der
Psychiatriestadt Zürich kritisch aufzuarbeiten und mit der heutigen
Debatte zu verknüpfen. Erfreulicherweise geschieht dies in der
jüngeren Vergangenheit zunehmend und auf hohem Niveau.
Mit einem landes-, ja europaweiten Kontext beschäftigt sich das
vorliegende Buch. Schon die ersten Sätze der Einleitung sind
Programm: »Die moderne Psychotherapie beginnt mit Sigmund Freud.
Vor ihm hat niemand entdeckt, dass man das Leiden der psychisch
Kranken beeinflussen kann, indem man mit ihnen redet – oder
vielmehr, ihnen zuhört.« Sachlich trifft das zwar nicht zu, und es
ist ein wenig polemisch –, aber so schlimm ist das auch wieder
nicht. Schliesslich will der Autor sein Thema dezidiert aus
psychoanalytischer Perspektive bearbeiten. Zugleich aber – und hier
liegt ein Problem – bürdet er sich enorme Lasten auf: Er
durchpflügt eine mehr als 100-jährige Zeitspanne (!) und schreibt
dabei über den psychotherapeutischen Makrokosmos (Beispiel:
»Weltgeschichte in Zürich: Freud, Bleuler und Jung«, die
Überschrift von Kapitel 2), den Zürcher Mikrokosmos (Beispiel:
»Jungs Schüler trotzen dem Meister ein Institut ab«, die
Überschrift des Unterkapitels 5.3) sowie die spezifisch
schweizerische bzw. kantonalzürcherische Gesundheitspolitik
(Beispiel: »Der Preis des Siegeszuges. Der Staat greift ein oder:
Vom Ärztemonopol zum Psychologenmonopol«, die Überschrift des
Kapitels 6). So entsteht eine sehr interessante Mischung von
Themen, aber ebenso ein ausserordentlich hoher Anspruch, der auf
einen Streich wohl gar nicht eingelöst werden kann.
Eine prägnant Psychoanalysezentrierte »Vorgeschichte« (Kapitel 1)
beschreibt quasi den Weg zu Freud. Kapitel 2 und 3 sind der frühen
Zürcher Phase der Psychoanalyse gewidmet (Freud, Bleuler, Jung)
sowie der zunehmend »farbigen Psychoszene« einschliesslich der
Kontroversen zwischen Freud, Jung, Adler und anderen, der
Internationalisierung der Jung’schen Schule und der beginnenden
Spannungen zwischen psychoanalytischen und (existenz-)philosophisch
fundierten Ansätzen (Freud, Binswanger, Boss). Kapitel 4 bearbeitet
die Psychotherapie in der Zeit des Nationalsozialismus und kommt
ausführlich auf die Rolle C. G. Jungs zu sprechen. Nach einer
deutlichen Kritik an Jung wegen seiner Nachkriegsäusserungen zum
Faschismus (»Die deutsche Katastrophe und ihr grandioser Schweizer
Interpret«) erläutert der Autor in Kapitel 5 die
psychotherapeutischen Debatten der 50er und 60er Jahre mit dem
Erstarken der Daseinsanalyse und den »goldenen Jahren des
Psychoanalytischen Seminars Zürich«. Das 6. Kapitel schliesslich
widmet sich ganz der berufspolitischen Entwicklung bezüglich der
nichtärztlichen Psychotherapie in der Schweiz und endet mit einer
detaillierten Entstehungsgeschichte des auf den 1.4. 2013 in Kraft
getretenen Bundesgesetzes über die Psychologieberufe.
Einige dem Rezensenten aufgefallene Akzente seien näher
erläutert.
Eugen Bleuler
Bleulers Position zur Psychoanalyse wird ausführlich gewürdigt. Die
Nachkommen hatten dem Autor Einsicht in den Briefwechsel zwischen
Eugen Bleuler und Sigmund Freud gewährt [1]. So wird eindrucksvoll
die Ausnahmestellung Bleulers spürbar, war er doch der einzige
europäische Psychiater in exponierter akademischer Stellung, der
sich nicht nur intensiv mit der Psychoanalyse auseinandersetzte,
sondern ihre Methoden auch konsequent in die klinische Praxis einer
grossen psychiatrischen Institution, des Burghölzli,
einbrachte.
Demgegenüber kommt Bleulers Grundverständnis des Faches Psychiatrie
sowie seine Verankerung in der psychiatrischen Ideengeschichte des
19. Jahrhunderts kaum zur Sprache. Jedoch wäre eine solche
Betrachtung hier durchaus von Interesse, etwa weil Bleuler dem
(prä-psychoanalytischen) Begriff »Assoziation« bzw.
»Assoziationsstörung« eine zentrale Position zuweist.
Psychiatriekritischer Tenor
Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen (da der Rezensent
Psychiater ist): Psychiatriekritik war und ist nötig. Sie sollte
sich aber unkritischer Verkürzungen enthalten. Diesem Anspruch wird
der Text nicht immer gerecht.
Der psychiatrische Planer des Burghölzli, Wilhelm Griesinger
(1817–1868) sowie der erste Direktor, Bernhard von Gudden
(1824–1886), kommen besonders schlecht weg: Sie hätten sich für
»die Insassen primär als Forschungsobjekte« interessiert,
»insbesondere wenn sie tot waren und ihre Hirne endlich untersucht
werden konnten.« Im Übrigen seien beide heute »völlig vergessen«
(S. 22). Dass die hirnanatomische Forschung für diese Autoren
wichtig war, ist zutreffend. Hingegen haben sie sich beide sehr
wohl intensiv für praktisch-klinische Fragen eingesetzt, etwa – in
heutiger Terminologie – für die sozialpsychiatrische Versorgung der
Bevölkerung (Griesinger) sowie für die systematische Prävention von
Zwangsmassnahmen (von Gudden).
Die Elektrokrampftherapie (EKT), häufiges Pièce de résistance,
wenn es um Psychiatriekritik geht, wird als Ausdruck
therapeutischer Verzweiflung in Anbetracht der »Ohnmacht gegenüber
akuten Psychotikern« (S. 417) dargestellt. So etwa habe »der
Psychoanalytiker [Max; P.H.] Müller [...] zuerst den Insulinschock
und dann den Elektroschock populär« gemacht, »aber kaum einen
Beitrag zur Weiterentwicklung der Psychoanalyse geleistet« (S.
421). Die heute empirisch überzeugend belegte Wirksamkeit der EKT
bei bestimmten Indikationen bleibt unerwähnt.
Mit Blick auf psychiatrische Diagnosen ist pauschal von der
»Beliebigkeit der Etiketten« die Rede, die den Betroffenen – im
konkreten Fall dem Schriftsteller Friedrich Glauser (1896–1938) –
»aufgeklebt wurden« (S. 421). Bei aller Kritik, die man durchaus
auch als Psychiater an Diagnosen üben kann: Hier liegt eine arge
Verkürzung vor.
Dies gilt auch für das sehr aktuelle Thema Facharztweiterbildung:
»Wie bereits der FMH-Titel ›Spezialarzt für Psychiatrie und
Psychotherapie‹ verrät, ist die Psychotherapie im Gesamtpaket
sozusagen als Bonus inbegriffen.« (S. 555) Dabei fällt der
anspruchsvolle Gegenstandskatalog der ärztlichen
psychotherapeutischen Weiterbildung in der Schweiz unter den Tisch.
Wie eine Ironie des Schicksals mutet es an, dass genau diese
umfassende und sehr teure psychotherapeutische Weiterbildung manch
interessierte(n) Kollegen/-in davon abhält, sich für das Fach
Psychiatrie und Psychotherapie zu entscheiden.
Nachkriegsentwicklung bis heute
Die Entwicklung psychotherapeutischer Schulen spiegelte wie jeder
gesellschaftliche Bereich die extreme Zäsur durch den
Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg wider. Die nach dem
Krieg erstarkte »anthropologische Psychiatrie« betrachtete
psychische Erkrankungen nicht »nur« als biologische oder
individuell-psychologische Phänomene, sondern als untrennbar mit
der conditio humana verknüpfte Zustände.
Hier fokussiert der Autor stark auf den Einfluss Martin Heideggers,
dessen Seinsphilosophie durch die Arbeiten Medard Boss/' mit Fragen
der praktischen Psychotherapie in Berührung kam. Doch riskiert er
mit seiner berechtigten Heidegger-Kritik, das Kind mit dem Bade
auszuschütten und den Eindruck entstehen zu lassen,
(existenz-)philosophische Positionen seien hier grundsätzlich fehl
am Platze. Dass dem nicht so ist, zeigen so unterschiedliche
Ansätze wie die Logotherapie Viktor E. Frankls, die
Gesprächspsychotherapie Carl Rogers oder neuere
achtsamkeitsbasierte Psychotherapieverfahren.
Stil
Passagen mit detaillierten Beschreibungen kritischer Episoden der
Psychotherapiegeschichte, die eher trocken-wissenschaftlich wirken,
wechseln ab mit flüssig-erzählerischen Abschnitten, angereichert
mit einer ironisch-distanzierten Note. Auch schreckt der Autor
nicht vor flapsig-spöttischen, ja polemischen Tönen zurück.
Die Psychoanalyse ist in diesem Werk nicht nur Gegenstand, sondern
auch Akteur der Untersuchung: Der Autor widmet spezielle Abschnitte
(»Streiflichter«) der psychoanalytischen Interpretation zentraler
Episoden der Schweizer Psychiatrie- und Psychotherapiehistorie.
Eine solche Verschränkung von Inhalt und Methode ist freilich nicht
ohne Tücken, denn mitunter entsteht so ein recht eigenweltlicher
Duktus in der Argumentation – ein Phänomen übrigens, auf das der
Autor selbst an anderer Stelle kritisch hinweist, etwa mit Blick
auf Kontroversen zwischen Freud und Jung.
Synopsis
Der Autor des Buches, Psychologe und – heute in eigener Praxis
tätiger – Psychoanalytiker, beschäftigt sich seit langem mit
ideengeschichtlichen Aspekten im facettenreichen Grenzgebiet von
Psychiatrie, Psychologie, Philosophie und
Gesellschaftswissenschaften. 2008 legte er eine umfassende Studie
über Martin Heidegger vor [2].
Sein neues Werk ist ein sehr lesenswertes, informatives und
engagiertes Buch, das inhaltlich wie methodisch eine dezidiert
psychoanalytische Perspektive vorgibt. Es leuchtet manch
verschlungenen Pfad der Psychotherapiegeschichte aus, ja wird
mitunter zur eigentlichen Fundgrube. Das mehrheitlich
kritisch-reflektierte Psychoanalyseverständnis des Autors hält sich
fern von personenbezogener Hagiographie. Hingegen fallen einige
Kommentare zu psychiatrischen Sach- und Personalfragen unnötig
tendenziös aus. Stilistisch und inhaltlich ist der Text breit
orchestriert: Er beschreibt, deutet, fragt, polarisiert; hin und
wieder polemisiert er auch. Genau deswegen verdient das Buch viele
neugierig-kritische Leserinnen und Leser. Sie werden es wohl nicht
ohne Widerspruch, aber sicher mit Gewinn lesen.
Paul Hoff
Chefarzt, stv. Klinikdirektor Psychiatrische Universitätsklinik
Zürich, Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und
Psychosomatik
1) Eine sorgfältig kommentierte Edition des Briefwechsels zwischen
Bleuler und Freud ist kürzlich erschienen: Schröter M (Hrsg.).
Sigmund Freud – Eugen Bleuler.
«Ich bin zuversichtlich, wir erobern bald die Psychia- trie.»
Briefwechsel 1904–1937. Basel: Schwabe; 2012.
2) Fischer AM. Martin Heidegger – Der gottlose Priester.
Psychogramm eines Denkers. Zürich: rüffer & rub; 2008.
www.saez.ch