Rezension zu Jenseits von Sprache und Denken
Psychoanalyse & Körper Nr. 24 13. Jg. (2014) Heft I
Rezension von Bernd Kuck
Geißler, P. & Sassenfeld, A. (2013) (Hg.): Jenseits von Sprache und
Denken. Implizite Dimensionen im psychotherapeutischen
Geschehen
Dass es jenseits des explizit sprachlich Zugänglichen noch mehr
gibt, als sich so manch einer träumen lässt, ist inzwischen auch
bei einigen Psychoanalytikern angekommen. Dabei findet sich in den
Träumen just einiges aus dieser vorsprachlichen Zeit in bildlicher
oder atmosphärischer Ausprägung, womit sich die Psychoanalyse
ausdrücklich seit ihrer »Geburtsstunde« befasst hat, sich jedoch
immer im sprachlichen Raum bewegte und damit die vorsprachliche
Zeit weitestgehend unberücksichtigt ließ. Maria Steiner Fahrni
(Schicksalsanalyse nach Szondi, u.a. Weiterbildung in
Körperpsychotherapie nach Downing und in Psychoanalyse am
Züricher Seminar) sucht hier die Wegweiser aufzuspüren, die uns
zum impliziten Beziehungswissen leiten können. Der Körper
allerdings teilt vieles mit, was sich handelnd äußert, eben weil
es aufseiten des Patienten keine Worte dafür gibt. Seit eine
Patientin Balints von der Couch aufstand und einen exzellenten
Purzelbaum auf dem Teppich schlug, ist auch dies gestattet, soweit
es sich spontan inszeniert. Die Gestaltung aktiver Handlungsdialoge
oder szenischer Inszenierungen überschreiten aber die »analytische
Demarkationslinie«. Dieser Widerspruch scheint implizit zu sein.
»Wenn wir uns gestatten, mit unseren Patienten bewusst und
intendiert zu sprechen und auf diese Weise die Interaktion über
das Medium des Sprechens aktiv mitgestalten, warum sollte dann die
Vorstellung, das bewusste und intendierte Handeln auf andere Formen
der Interaktion auszudehnen [sprechen ist auch Handeln, BK], so
abwegig sein?« (S. 10). Im vorliegenden Text versuchen die Autoren
verschiedener psychotherapeutischer Basisausbildung, sich dem
Impliziten zu nähern. Der Analytiker Michael Buchholz befasst sich
mit der Entwicklung des impliziten Wissens beim Therapeuten. In
seinem Einstieg sucht er Sprache gegen Körper aufzuwiegen. Und
fragt, bezugnehmend auf Schiller, wonach der Geist des Einen dem
Anderen nicht erscheinen kann, die Trennung der Individuen nur
durch die liebende Verbindung der Körper – zumindest momenthaft –
aufgehoben werden kann, ob dies »ein möglicher Grund« sei, »warum
so manche Psychotherapeuten den Worten wenig trauen und sich lieber
dem Körper zuwenden« (S. 27). Vielleicht geht es gar nicht um
entweder – oder. Nur braucht es eben die Sprachmächtigkeit der
DichterInnen, um Nichtsprachliches zwischen den Zeilen des
geschriebenen Wortes spürbar zu machen. Allein wie viele Menschen
können mit Dichtung nichts anfangen? Und wie viele Interpretationen
gibt es zu nur einem Gedicht? Den Hexenwahn als abschreckendes
Beispiel für die Suche nach der Wahrheit des Körpers, gegen die
Lüge der Sprache, zu wählen, ist schon stark. Immerhin müsse man
dies »Gegeneinander« heute nicht mehr teilen. Das Argument, dass es
in der Literatur wenig wirkliche Transskripte von Therapiesitzungen
gibt, es sich um selektive Protokolle von »Abend-Erinnerungen«
handelt, eignet sich natürlich nicht, »um eine Vernachlässigung des
in einer therapeutischen Sitzung Gesprochenen zu begründen« (S.
29). Aber auch die subtile Argumentation unter Zuhilfenahme von
Schiller, den Therapeuten das Wort, den Körper den Liebenden zu
lassen, ist nicht wirklich ein Gegenargument. »Die
Wiedervereinigung findet im Medium des Symbolischen statt« (ebd.)
womit er die Sprache meint. Das gilt auch für körpertherapeutische
Interventionen, die symbolischen Charakter haben und nicht der
Bedürfnisbefriedigung dienen, sondern den Ausdruck des Körpers zur
Mitteilung nutzen, für die der Patient eben keine Worte hat.
André Sassenfeld durchkämmt die inzwischen sehr umfänglich
gewordene unterschiedliche Bedeutung des Begriffes. Diese Vielfalt
führt u.a. dazu, dass nicht immer klar ist, wie ein Theoretiker
diesen Begriff in seinem Zusammenhang verwendet. Beim Erfinder des
Begriffes, Michael Polanyi geht es interessanterweise weniger um
Wissen, als um Können (»tacit knowing«, S. 58). Ja er postuliert
sogar, dass theoretisches Wissen praktisches Können kaum einholen
kann. Sassenfeld unternimmt die verdienstvolle Aufgabe,
»Definitionen und Charakterisierungen des Begriffes des Impliziten
in der Gedächtnisforschung, in den Neurowissenschaften, in der
Bindungstheorie, in der Säuglingsforschung und schließlich in der
Psychoanalyse und der gegenwärtigen Psychotherapie zu untersuchen«
(S. 117).
Es gibt Hinweise darauf, dass implizites Lernen in einer hohen
Plastizität lebendiger Systeme gründet. Psychotherapeutische
Veränderungen gründen auf Veränderungen in zwei Feldern, dem
bewussten, deklarativen und auf dem der prozeduralen, impliziten
Beziehung. Sassenfeld kommt zu der Feststellung, dass es
theoretische Ansätze gibt, die vertreten, Implizites sei explizit
reflektierbar, indes andere von der Unmöglichkeit des Unterfanges
überzeugt sind. Vermittelnd schlägt Grossmann vor, den Begriff der
»affektiven Kommunikation« einzuführen (S. 122), was der
Komplexität des therapeutischen Feldes sicher angemessen ist,
Implizitem wie Explizitem die ihnen gebührende Beachtung zu
schenken.
Jörg Clauer nähert sich dem Thema von der Bioenergetik kommend
an. Resonanz als mitschwingende körperliche Präsenz in der
zwischenmenschlichen und damit auch der therapeutischen Beziehung
ist ihm ein zentrales Phänomen, das nur unzureichend mit
Verinnerlichung und Repräsentanz erfasst werden kann. Das
Beziehungsangebot ist immer auch ein körperliches, neben dem
mentalen, vor allem aber ein subjektives, »das von der
wechselseitigen Passung beider ebenso abhängt wie von der
Resonanzfähigkeit des Therapeuten in dieser spezifischen
Beziehungskonstellation. Aus körpertherapeutischer Sicht geht es
weniger um verbalisierte Deutungen als um eine erlebbare
abgestimmte Beziehungsantwort im Begegnungsmoment. Die verbale
Antwort und gegebenenfalls Deutung gehört als ein möglicher
expliziter Bestandteil zu dieser Beziehungsantwort« (S. 141).
Clauer tritt denn auch dafür ein, eine Integration von
verbal-expliziter und körperlich-impliziter Kommunikation im
therapeutischen Prozess differenziert anzuwenden. Die
Resonanzdiagnostik, die er anwendet, indem er sich ohne Berührung
an alle vier Seiten des Probanden stellt und so versucht, in der
mitschwingenden Resonanz anhand von Körpersensationen, Bildern und
Gedanken das Gegenüber wahrzunehmen, ist sicherlich sehr speziell.
Gut möglich, dass wir Augen- und Kopfmenschen hier die Feinheit
der Sinne eben eingebüßt haben, anders als etwa blinde oder
indigene Menschen.
Thomas Stephenson (Individualpsychologe [»Adlerianer«] aus Wien)
reflektiert über das Sokratische Nichtwissen. Das hat schon wieder
Kränkungspotenzial, dass große Teile unseres »Wissens« als
verschwiegen (»tacit«) und verkörpert (»embodiment«) angesehen
werden müssen. Und die Alten wussten selbst dies. Der immer wieder
zitierte Sokrates zugeschriebene Ausspruch, »Ich weiß, dass ich
nichts weiß«, lässt uns in der Illusion der Wissenden. Stephenson
übersetzt anders und zugleich hält er so die Suchbewegung der
Psychoanalyse offen.
Sebastian Leikert (Psychoanalytiker mit besonderem Interesse für
das Ästhetische) fürchtet, dass bei der ganzen Debatte um das
Implizite Ödipus verloren gehen könnte, was er gleichsetzt mit
einer Verflachung, ja Verharmlosung menschlicher Abgründe. Das ist
mir am wenigsten nachvollziehbar. Immerhin ist der Ödipus ein
Mythos und Ausdruck der griechischen Lebensstimmung, seinem von den
Göttern bestimmen Schicksal nicht entkommen zu können. Das
würden wir heute doch anders sehen, ohne gleich wieder der Hybris
zu verfallen. Der Ödipuskomplex ist zumal bei Freud einer speziell
einseitigen Deutung unterzogen worden. Unberücksichtigt blieb
etwa, dass es die Eltern waren, die aus eigenen Ängsten den Sohn
dem Tod überantworteten, also letztlich die Eltern die Urheber des
Übels waren. Da würden wir doch heute eher die Perspektive der
transgenerationalen Weitergabe von Unbewusstem oder eben Implizitem
einnehmen. Den patriarchalen Gehalt der Freud’schen Deutung hat
Marianne Krüll expliziert und stattdessen den Rustumkomplex unter
Rückgriff auf einen orientalischen Mythos formuliert.
Peter Geißler (Psychoanalytiker mit bioenergetischen Wurzeln)
schließlich plädiert für eine langsame Therapie, was so gar nicht
in den Zeitgeist einer »Wirksamkeitsallmacht« (S. 260) passen will.
Anhand eines ganz und gar »unspektakulären Fall(es)« kann er
zeigen, wie sich gleichsam »unsichtbar« Veränderungsprozesse
vollzogen haben und so deutlich machen, das sich implizite
Wandlungsprozesse ereigneten.
Geißler spannt in seinen vorausgehenden Betrachtungen den Bogen
sehr weit, bezieht Evolutionsbiologie (schon der Einzeller »weiß«
wie er leben kann) und Quantenphysik mit in die Überlegungen ein
und erweist sich, frei nach der Debatte in der Goethezeit, als
Evolutionist im Gegensatz zu den heute wieder aufkommenden
Vulkanisten. Nur geht Entwicklung vermutlich nicht eruptiv, und
wenn es doch so erscheint, dann gab es eine Vorbereitung von langer
Hand, vermutlich implizit geschehen und nicht explizit bemerkt. Die
Unterschiede sind nur graduell, nicht essenziell.
Sicherlich ist die differenzierte Begriffssprache ein Anthropinon
(Wesensmerkmal des Menschen) – beim Werkzeuggebrauch können wir
uns nicht mehr so sicher sein (S. 269). Denkfähigkeiten
entwickelten sich vermutlich eher aufgrund der Komplexität
sozialer Interaktion in größeren Gruppen. »Gedankenlesen« hat mehr
mit »Körperlesen« zu tun und ist damit wesentlich »embodied« (S.
272). Eine andere Hypothese (»Vocal-grooming«-Hypothese, S. 316)
besagt ebenfalls, dass Sprache sich bei den Hominiden mit der
Vergrößerung sozialer Gruppen entwickelt hat. Jedoch die Wertung,
beim Homo von »höher« entwickelt und »Spitze der Schöpfung« zu
sprechen, stellt wohl eine Überschätzung dar, zumal immer
deutlicher wird, wie dieses angeblich »höhere Wesen« in
evolutionsgeschichtlich kurzer Zeit an den Grundfesten des Lebens
aller Lebewesen rüttelt. Kein anderer Erdenbewohner hat so viel
Unheil und Zerstörung über den Globus gebracht, wie der Mensch.
Es steht sogar zu befürchten, dass »wir« trotz besseren Wissens
den Niedergang in Kauf nehmen, wie dies Barbara Tuchman (»Die
Torheit der Regierenden) schon für frühere Epochen nachgewiesen
hat; bald könnte es die Spezies Mensch sein. Der Neandertaler
starb jedenfalls nicht aus, weil er nicht sprechen konnte oder
nicht intelligent genug war (S. 321). Immerhin, wir können uns
sprachlich darüber austauschen, was doch die Hoffnung nährt,
einen Weg der friedlichen Koexistenz zu beschreiten; eine Garantie
ist die Sprache allerdings nicht. Zumal sich der Mensch hinter der
Sprache gerne verstecken mag, gleichwohl vieles in den
Zwischentönen wahrgenommen werden kann, der Mensch seine Neurose
aus allen Poren seiner Haut heraus schwitzt (frei nach Freud).
Adler hatte interessanterweise einen handlungsorientierteren Ansatz
(»schaut den Menschen auf die Hände, nicht aufs Maul«). Und jeder,
der Erfahrung mit körpertherapeutischen Zugängen hat, der weiß,
dass es hier schnell ans »Eingemachte« gehen kann.
Und möglicherweise haben die Analytiker Buchholz und Leikert keine
oder keine positiven körpertherapeutischen Erfahrungen, kennen
vielleicht nur die »Körpertherapiegeschädigten«, deren mühsam
zusammen gehaltene Struktur in weniger achtsamen Körpertherapien
vollends auseinanderbrach. Wer diese Menschen dann therapeutisch
aufzupäppeln suchte, eine Erfahrung, die auch der Rezensent
machte, der verhält sich den körpertherapeutischen Ansätzen
gegenüber reservierter. Nun, Erfahrungen kann man revidieren; die
Grundlage jeder Psychotherapie. Diese impliziten Menschen- und
Weltbilder erschweren möglicherweise den Austausch zwischen
analytischen Körperpsychotherapeuten und anderen Analytikern (S.
286).
Wenn implizites Beziehungswissen aus vorsprachlicher Zeit stammt –
und die Forschungen dazu machen diese Annahme mehr und mehr zur
Gewissheit –, dann ist es per definitionem dem sprachlichen
Ausdruck nicht leicht zugänglich. Und ist dann Denken an Sprache
gebunden? Vielleicht ist es ja so, dass Tiere mehr wissen als wir
denken und mehr denken als wir wissen (S. 292). Und ebenso in der
therapeutischen Kommunikation geht es weniger um sprachlichen
Ausdruck von Gedanken. In der Regel können wir unseren Patienten
sprachlich nichts vermitteln, ohne dass sie das Gemeinte auch
fühlen. Fühlen aber ist schon mentalisiertes Sagen über Spüren.
Spüren aber ist Körper! »Die menschliche Sprache ist mit ihren
6.000 Unterformen sicher ein unglaublich differenziertes
Verständigungsmittel, doch ihre anthropologische Überhöhung ist
in letzter Konsequenz ein Ausdruck unserer Eitelkeit« (S. 299).
Fraglich ist, ob es sich bei dem Impliziten überhaupt um ein
Wissen handelt. Eine saubere Begrifflichkeit würde hier helfen.
Dann wäre die Unterscheidung von implizit und explizit genauso
wenig künstlich, wie unbewusst und bewusst. Machen wir aber ernst
mit der Evolutionstheorie, dann hat der Mensch Wurzeln, die
mindestens bis zu den Reptilien reichen, weshalb man ja vom
Stammhirn als dem Reptiliengehirn spricht. Im Feinstofflichen
reichen sie vielleicht noch viel weiter. Es gibt Menschen, die im
Gegenüber wahrnehmen, was anderen verborgen bleibt. Wie viel
dichter ist ein Mitglied indigener Völker am tierischen Wahrnehmen
dran, sodass er noch in einem Auto fahrend, den Fahrer auffordern
kann, er solle langsam fahren, da hinter der nächsten Biegung
etwas im Weg steht. Dieses Etwas war ein Elch! (Für die Skeptiker
sei noch erwähnt, dass der Mann in dem Landstrich selber fremd
war, also die Wildwechsel nicht kannte, folglich auch nicht wissen
konnte, dass es sehr wahrscheinlich ist, dass an der Stelle schon
mal ein Elch auf der Straße steht.) Und wie scharf ist die Grenze
zwischen Materiellem und Immateriellem? Diese sich hier auftuende
Nähe zum Esoterischen bereitet aufgeklärten Menschen Probleme.
Geißler schaut aber nicht bei den Esoterikern vorbei, sondern bei
dem Quantenphysiker und Träger des alternativen Nobelpreises
Dürr. Da ist dann schon mal die Grenze zwischen Energie und
Materie fließend. Überhaupt versucht Geißler einen Brückenschlag
zwischen natur- und geisteswissenschaftlicher Weltsicht, die gerade
im Kontakt mit der Biologie und Quantenphysik gut gelingen kann (S.
258, 326). So wie Energie in Materie übergeht, so gibt es eine
ungebrochene Kontinuität, die alles Leben auf der Erde verbindet
(S. 305).
Es gibt auch keine Repräsentanzen im Gehirn, weder
»Objektrepräsentanzen« noch ist das Gedächtnis repräsentational
(S. 19) und folglich gibt es auch keinen »natürlichen Homunkulus«.
Das erinnert sehr an die Beiträge von Thomas Fuchs, der schlüssig
zeigen kann, dass unser Gehirn in der Auseinandersetzung mit einer
konkreten Umwelt sich entwickelt, neuronale Verbindungen bis in die
tiefsten Tiefen des Gesamtorganismus reichen, weshalb die schönen
bunten Flecken, wie sie Bild gebende Verfahren liefern, noch lange
nichts über das gewordene Personale aussagen. Mit solchen
Unschärfen müssen und sollten wir leben.
Buchholz versucht zu ergründen, wie sich implizites Wissen bei
Therapeuten entwickelt. Hier mag der Begriff noch am besten passen,
handelt es sich doch um ein quasi zeitweise bewusstes Wissen, dass
zum Teil aus Lehrbüchern, zum größeren Teil aus Erfahrung
(prozedurales Wissen oder Gedächtnis) und aus
Beziehungserfahrungen mit therapeutischen LehrerInnen stammt. Und
wie im hermeneutischen Zirkel wird dieses Wissen aus dem Expliziten
verbannt, gleichsam dem Unbewussten übergeben (das im Übrigen die
größere Kapazität in der Verarbeitung von Informationen hat), um
dann in der konkreten Interaktion mit einem Patienten plötzlich im
Einfall aus gleichschwebender Aufmerksamkeit wieder aufzutauchen –
situationsangemessen modifiziert. Und dennoch ist Psychotherapie
nur bedingt lehrbar, denn »das Beste, was du weißt darfst du den
Buben doch nicht sagen«. Goethe meinte vermutlich die den
Normalmenschen erschreckenden tiefen Einblicke in das Weltgeschehen
und die daraus resultierenden Ungewissheiten. Aber man könnte auch
»darfst« durch »kannst« ersetzen, eben weil sich die momentane
Erkenntnis des Einzelnen aus der Summe seiner impliziten und
expliziten Beziehungs- und Lernerfahrungen zusammensetzt, die wir
nur unzureichend verstehen und eben nicht bis ins Letzte aufklären
können. Wir nennen es dann Intuition oder schöpferische
Gestaltungskraft. Geißler greift hier auf die »polyadische Natur
des Menschen« zurück, die sich als »Ressourcenakquisestrategie«
evolutionär entwickelt hat. Die dyadische Bindung ist zwar
bedeutsam, aber nicht die einzige Quelle der Entfaltung des
Menschen. »Jedenfalls ist es aber so, dass das, was Kinder
herausfinden in diesen experimentellen Suchbewegungen, implizit
verarbeitet und repräsentiert wird« (S. 308). Gerade wegen dieses
polyadischen Aspektes erhält die Gruppentherapie quasi von
biologischer Seite einen Bedeutungszuwachs. Hier bieten sich
»Möglichkeiten des impliziten Lernens, wie sie in einer verbal
geführten Einzeltherapie kaum möglich sind« (S. 357).
Adler nannte diese Ergebnisse impliziten Lernens (wie wir heute
sagen würden) die schöpferische Kraft des Kindes und erklärte
damit die höchst individuellen Entwicklungen trotz scheinbar
annähernd gleicher Bedingungen. Einigen gelingt die sprachliche
Ausformulierung. So haben etwa die Mütter und Väter
therapeutischer Richtungen einen Teilaspekt des Lebensganzen in
Sprache gefasst, die Schüler und Schülerinnen die Erkenntnis zum
Dogma erhoben und so streiten sich die Schulen munter um die
Wahrheit. Befruchtend ist da der Blick über den Tellerrand, der
Fächer übergreifende Diskurs, der »vielleicht in neue Paradigmen
hineinführt« (S. 19). Dem fühlen sich die Autoren wohl
verpflichtet. Ihre Beiträge regen zum Denken unter ständig neuer
Perspektive an. Auch wenn der Begriff des Impliziten durchaus
unscharf ist (S. 57), einiges kommt explizit zur Sprache, regt
Implizites im Leser an, das er so noch nicht expliziert hatte. Was
für ein wunderbares Buch!
Bernd Kuck
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Rezension enth�lt.