Rezension zu Sullivan neu entdecken

Luzifer-Amor Nr.37 2006

Rezension von Thomas Müller

Das vorliegende Buch über einen der bedeutendsten US-amerikanischen Psychiater des 20. Jahrhunderts schließt eine seit langem bestehende Lücke. Es handelt sich um die deutsche Übersetzung eines im Jahre 2000 erschienenen italienischen Originals. Sich dem umfangreichen Werk eines Psychiaters zu nähern, dessen Konzepte psychiatrischer Therapie und Praxis mehr als diejenigen vieler anderer die Bezeichnung »interdisziplinär« verdienen, und es auf seine aktuelle Relevanz hin zu prüfen, bedeutet eine besondere Herausforderung. Der Autor berichtet vom Lohn dieser Mühen und läßt seine Leser in vier Kapiteln zur »Aktualität von Sullivans Werk« daran teilhaben. Wir finden hier u.a. einen historischen Abriß zur »Psychotherapie der Schizophrenie«, eine Darstellung von Sullivans vielfältigen sozialwissenschaftlichen Tätigkeiten während seiner Chicagoer Zeit, wie seinem Beitrag zum Konzept einer »präventiven Psychiatrie«. Sullivans technische Konzepte werden in bezug auf die Psychotherapie und Psychoanalyse der Gegenwart diskutiert, die Entwicklungslinien von seiner »interpersonalen Theorie« zu einer »interpersonalen Psychoanalyse« nachgezeichnet. Den Beziehungen zwischen Sullivans Werk und dem von S. A. Mitchell wird große Beachtung geschenkt.

Doch ist damit der zweite Teil des Buches zuerst umrissen. Nicht weniger gewichtig ist der erste, biographischhistorische Teil, dem ebenfalls vier Kapitel gewidmet sind. Daß Biographisches zu Sullivan, wie von Helen Perry, bereits vorliegt, mindert nicht die Relevanz von Concis Beitrag, dessen Perspektive sich von der anderer Biographen unterscheidet. Auch im ersten Teil kommen Leser, die an der Geschichte der Psychoanalyse interessiert sind, auf ihre Kosten. Die Frühgeschichte der Psychoanalyse in den USA und die Rolle einzelner Akteure werden dargestellt; man erfährt von der zentralen Position des Zürchers Adolph Meyer, auch von den Nachwirkungen der »fünf Vorlesungen« Freuds oder den Beiträgen der ersten Generation involvierter Nordamerikaner. Diesen beiden Kapiteln folgt eine Kurzbiographie Sullivans, die eine Beurteilung seines Werkes vor dem Hintergrund der »neofreudianischen Wende« vorbereitet, so daß auch historischen Laien die Verortung seiner Beiträge in der nordamerikanischen Geschichte der Psychiatrie und Psychotherapie ermöglicht wird.

Wer mehr darüber erfahren möchte, was »amerikanischer Pragmatismus« in der Psychiatrie bedeutet und weshalb man in den USA trotzdem unzufrieden sein kann mit psychiatrischen Manualen wie dem DSM, oder darüber, ob bereits die frühe nordamerikanische Psychoanalyse »deformiert« oder »emanzipiert« war, sollte zu diesem Band greifen. Ebenso aufschlußreich ist er für alle, die an »interpersonaler Theorie der Psychiatrie« interessiert oder mit der Therapie der Schizophrenie selbst befaßt sind, die sich über die Gruppenbildung der Neo-Freudianer informieren oder die verstehen möchten, warum deutsche Psychiater kurz nach dem Zweiten Weltkrieg zu Ausbildungszwecken schon allein wegen der Sullivan-Schule an die Ostküste der USA reisten. Interdisziplinarität kann mehr sein als ein akademisches Lippenbekenntnis. Und im Blick auf den psychoanalytischen Transferkontext USA ergeben sich plötzlich sogar Antworten auf Fragen des alten Europa wie diejenige, ob man in Wien oder Berlin »orthodoxer« war. Ein ungemein frischer Stil, der durch das ganze Buch hindurch erhalten bleibt, macht die Lektüre zu einem Vergnügen – und zu einem unbeschwerteren offenbar, als Sullivan im Original zu lesen.

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