Rezension zu Wege und Umwege zum Beruf des Psychotherapeuten (PDF-E-Book)
ÖAGG FEEDBACK, Zeitschrift für Gruppentherapie und Beratung, 1&2/2014
Rezension von Anita Dietrich-Neunkirchner
Wege und Umwege zum Beruf des Psychotherapeuten
M. Koenen und R. Martin präsentieren in ihrem Buch die
beeindruckenden Ergebnisse ihrer gemeinsamen Dissertationsschrift,
einer empirischen Studie, die im Rahmen der Initiative Developing
Psychoanalytic Practice and Training (DPPT) und der International
Psychoanalytical Association (IPA) durchgeführt worden ist und
sich dem Berufsfindungsprozess von PsychotherapeutInnen in
Deutschland widmet. Das Forschungsinteresse der beiden Autoren, die
selbst als psychologische Psychotherapeuten und Psychoanalytiker
ausgebildet sind, bestand darin, den seit Längerem zu
beobachtenden Rückgang an AusbildungskandidatInnen an den
psychoanalytischen Instituten in Deutschland zu ergründen. Dieser
Trend, der nicht nur Deutschland, sondern insgesamt Europa und
Nordamerika erreicht und besorgniserregende Ausmaße angenommen hat,
zeigt sich darin, dass sich die Zahl des psychoanalytischen
Nachwuchses in den letzten 20 Jahren um ca. drei Viertel reduziert
hat.
Koenen und Martin geben zu Beginn des Buches einen Einblick in den
Status quo der psychotherapeutischen Ausbildung. Ausgehend von
Zahlen und Fakten zur gegenwärtigen Ausbildungssituation, zur
rechtlichen Situation in Deutschland und zu den komplexen
Organisationsstrukturen der Institute wird zur Diskussion gestellt,
ob die Psychoanalyse, bei der es um ein tiefgreifendes Verständnis
innerseelischer und kultureller Prozesse und um nachhaltige
Veränderungen geht, noch zeitgemäß ist. Das Forschungsprojekt
beansprucht gesellschaftliche Entwicklungen und Zeitgeistfaktoren
in den Blick zu nehmen, um die Motive von potentiellen
BewerberInnen für eine psychotherapeutische Ausbildung ergründen
zu können. Verhaltenstherapeutische und psychoanalytische Ansätze
werden dabei gegenübergestellt. Die Studie unterteilt sich in drei
Teilbereiche. In Substudy I und Substudy II wurden mittels
halbstandardisierter Fragebögen quantitative Daten erhoben. Der
dritte Teil der Studie umfasst ausführliche qualitative Interviews
mit 47 der Psychoanalyse und 11 der Verhaltenstherapie
nahestehenden Personen.
In Substudy I wurden 679 Studierende der Medizin, Psychologie und
Pädagogik zu ihrer persönlichen Wahrnehmung der kassenärztlich
anerkannten Verfahren befragt, um ein hier vorhandenes Interesse an
psychotherapeutischer Aus- und Weiterbildung zu erforschen.
Verhaltenstherapeutische Ansätze werden von den Studierenden »eher
für wissenschaftlich belegt, besser mit den PatientInnen umsetzbar
und eher mit der Karriere vereinbar« (S. 67) eingeschätzt. Die
Mehrheit der Befragten bevorzugt eine verhaltenstherapeutische
Ausbildung, wobei jedoch eingeräumt wird, »dass die Psychoanalyse
in den universitären Lehrveranstaltungen ›totgeschwiegen‹ oder
verzerrt dargestellt wird« (S. 69). Jene Studierenden, die sich
für eine tiefenpsychologische Ausbildung interessieren, begründen
dies mit konkreten persönlichen Erfahrungen.
In Substudy II wurden 343 ärztliche und psychologische
KandidatInnen über ihren Zugangsweg und über die Zufriedenheit
mit ihrer Ausbildung befragt. Drei Viertel der Befragten befanden
sich in einer psychoanalytisch/tiefenpsychologischen Ausbildung,
ein Viertel in der verhaltenstherapeutischen Methode. Die
Ergebnisse von Substudy II bestätigen im Wesentlichen den bereits
in Substudy I vorhandenen Trend der Entscheidungsfindung zu einer
krankenkassenärztlich zugelassenen psychotherapeutischen Methode.
Für die Wahl der Verhaltenstherapie sprechen vorwiegend
pragmatische Gründe, wie z.B. Dauer und Kosten der Ausbildung,
Karrieremöglichkeit, Akzeptanz im Gesundheitswesen und die Nähe
der akademischen Psychologie zum verhaltenstherapeutischen Ansatz.
Psychoanalyse wird dann gewählt, wenn eine eigene bzw. von
nahestehenden Personen berichtete therapeutische Erfahrung als
Informationsquelle über das Verfahren zur Verfügung steht. Die
Stichproben wiesen Gemeinsamkeiten in Bezug auf die
Geschlechterverteilung auf, 75% der Teilnehmenden – ungeachtet der
Ausbildungsentscheidung – waren weiblich. Signifikant
unterschiedlich ist jedoch das Durchschnittsalter der
KandidatInnen. An der Psychoanalyse interessierte Personen sind mit
einem Mittelwert von 41 Jahren um rund 10 Jahre älter und zumeist
auch schon berufserfahrener als ihre KollegInnen in
verhaltenstherapeutischer Ausbildung. Insgesamt mit der gewählten
Ausbildung fühlen sich die Psychoanalyse-KandidatInnen am
zufriedensten. Wie zu erwarten, wird der besonders fundierte
Selbsterfahrungsanteil, der die persönliche Weiterentwicklung
forciert, die intellektuelle Herausforderung und die Möglichkeit,
tiefe Einblicken in menschliche Schicksale zu erlangen, an der
Ausbildung geschätzt. KandidatInnen der Verhaltenstherapie
besetzen ihre Ausbildung weit weniger libidinös, so plant bereits
ein Viertel der Befragten in eine weitere Ausbildung nach Abschluss
ihrer aktuellen eintreten zu wollen.
Der dritte Teil der Studie widmet sich dem Identitätsgefühl
angehender oder bereits tätiger PsychotherapeutInnen. Anhand 10
exemplarisch ausgewählter Narrative wird es den LeserInnen
ermöglicht, an den verschlungenen Wegen zur Berufswahl der
KandidatInnen teilzuhaben. Dieses Kapitel zeichnet meines Erachtens
in lebendiger Form das Ringen um die jeweilige psychotherapeutische
Identität nach, die letztlich jeweils einzigartige
Entwicklungsprozesse offenbart. Dennoch gelingt es den Autoren,
fünf prototypische Kristallisationsprozesse – die den Weg zur
Verhaltenstherapie bzw. zur Psychoanalyse begleiten – aus den 58
qualitativen Interviews zu extrahieren. Diese entscheidenden
Wendepunkte werden erstmals in der Adoleszenzkrise verortet, werden
nach einer gewissen Latenzzeit von an Psychotherapie zugewandten
Objekten wieder aktiviert, um nach einer längeren Umkreisung des
Berufswunsches in eine Ausbildung zu münden. Psychoanalyseaffine
Personen berichten auch von eigenen Krisenerfahrungen, die den
Ausbildungswunsch bestärkt haben.
Obwohl die Beantwortung der Frage, warum in Deutschland der
verhaltenstherapeutische Ansatz im Vergleich zum psychoanalytischen
Ansatz mehr Zulauf genießt, nicht eindeutig geklärt werden kann,
eröffnet die groß angelegte Studie von Koenen und Martin einige
Denkansätze zur Verbesserung der psychoanalytischen
Ausbildungssituation. Wesentlich erscheint, dass sich mehr
PsychoanalytikerInnen im universitären und im öffentlichen
Kontext zu Zeitgeistthemen äußern sollten. Dies würde es dem
Nachwuchs erlauben, mit klinischen und sozialkritischen Aspekten
der Psychoanalyse verstärkt in Berührung zu kommen. Dabei könnte
die ursprünglich vorhandene Begeisterung von StudienanfängerInnen
für die Wissenschaft des Unbewussten nachhaltig gefördert werden.
Erschwerend steht dem entgegen, dass beinahe alle klinischen
universitären Lehrstühle in Deutschland mit
VerhaltenstherapeutInnen nachbesetzt worden sind. Dadurch leidet
der wissenschaftlich-psychoanalytische Diskurs, der persönliche
Kontakt zu AnalytikerInnen wird für die Studierenden erschwert.
Einem weiteren Zeitgeistphänomen, nämlich die Psychotherapie als
akademische Direktausbildung zu forcieren, werden Zukunftschancen
eingeräumt – ein Modell, das in Berlin (International
Psychoanalytic University) oder in Wien (Sigmund Freud
Privatuniversität) bereits verwirklicht worden ist. Die Stärke
der Verhaltenstherapie wird darin gesehen, als (klinisches) Gerüst
zu fungieren, worin immer wieder neue Konzepte integriert werden
können. Im Gegensatz dazu wird der Psychoanalyse vorgeworfen, zu
sehr um die eigene psychoanalytische Identität besorgt zu sein und
sich zu wenig in die direkte Auseinandersetzung mit
berufspolitischen Gegnern hinein zu wagen.
Die Publikation »Wege und Umwege zum Beruf des Psychotherapeuten«
eröffnet den LeserInnen einen differenzierten Blick auf die
deutsche Ausbildungssituation, die sich allerdings von der
österreichischen sehr unterscheidet und wenn, dann nur sehr
eingeschränkt, auf diese übertragbar ist. Besonders lesenswert
erscheint mir für alle an psychotherapiewissenschaftlicher
Forschung Interessierte das ausführlich und fundiert dargestellte
Studiendesign samt der methodologischen Begründung.
Anita Dietrich-Neunkirchner